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Der Frisör

Christian Schünemann

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604054 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[5] 1

Ich sah es Beas Gesicht an. Der Anruf war so dringend, als ginge es um Leben und Tod. Ich hörte die Stimme aus dem Telefon, hoch und schrill. Bea hatte den Hörer am Ohr und den Finger im Kalender.

»Das sieht ganz schlecht aus. Das ist unmöglich.« Bea bedauerte. »Färben ginge, aber der Chef ist zu. Vielleicht könnte jemand anderes als Tomas schneiden?«

Bea warf mir einen kurzen Blick zu. Ich kenne das. Solche Telefonate gibt es im Salon täglich. Wer morgens in den Spiegel schaut und seine Haare nicht mehr sehen kann, will sofort, am besten eine Stunde später, einen Termin beim Frisör.

Bea wechselte den Hörer vom rechten zum linken Ohr, blätterte im Kalender eine Seite um und machte ein letztes Angebot: »Nächste Woche Mittwoch.« Sie atmete tief durch.

Ich massierte dem alten Hoffmann die Kopfhaut, während wir beide Bea zuhörten. Wir beobachteten sie im Spiegel. Hoffmanns Augen sind helle Pfützen hinter dicken Brillengläsern, blaß und ausdruckslos, wie in diesem Juli der milchigblaue Himmel über München. Seit Wochen machte die Hitze die Leute nervös und gereizt oder lethargisch und faul. Auch ich mußte mich zusammenreißen. Das Surren der Föne, der Geruch nach schwerem Parfüm, das ständige [6] Klingeln der Telefone ging mir an die Nerven. Heute weiß ich: Das Unheil lag in der Luft.

Bea hing noch immer am Telefon. Wenn sich jemand nicht abweisen läßt, bleiben wir höflich und zuvorkommend. Kunden werden nicht vergrault, auch wenn sie noch so penetrant sind. Ich konzentrierte mich auf Hoffmanns Schädel, eine bucklige Landschaft, auf der nur noch wenige Haare wurzeln. Sie zu schneiden ist eine Sache von Minuten. Hoffmann tat mir leid, er hatte vieles verloren in der letzten Zeit, nicht nur die Haare. Ich bearbeitete die Kopfhaut, als ließe sich der Haarwuchs wieder beleben. Hoffmann wußte es besser. Er ist Realist. Ehemaliger Konservenfabrikant mit einem Faible für Hausmannskost. Im Alter kamen ihm die Geschmacksnerven und die Frau abhanden. Er kocht jetzt selbst, salzt so kräftig, daß die Schilddrüse Probleme macht.

»Ich verstehe«, sagte Bea. Und: »Bitte warten Sie einen Moment.« Sie hielt mir den Hörer hin.

Die Stimme am Telefon war nun ganz nah und schmeichelnd. Es war die Stimme von Alexandra Kaspari, einer Frau, für die ich immer eine Ausnahme mache. Bei mir wird jeder bedient, aber nur ausgewählte Kunden von mir persönlich und die wenigsten nach Feierabend.

»Tommy, du mußt mich drannehmen, bitte!«

»Was, heute noch?«

»Ja, unbedingt. Ich sehe fürchterlich aus. Es ist ein Notfall.«

Ich nahm den Füller. Es sind immer Notfälle. »Achtzehn Uhr«, sagte ich und trug den Termin ein.

Zwei Stunden später kam sie. Zu früh. Die brünetten [7] Haare, sonst kräftig, waren Strippen ohne Spannung und Leben, wie tot. Alexandra und ich küßten uns, in die Luft, rechts und links. Ich roch ihren Duft nach Holz und Karamel. Ermattet sank sie auf das Sofa, stellte die Handtasche aus geprägtem Leder neben sich und strich über den Rock mit dem karierten Muster, den in diesem Sommer alle trugen. Der Rock war eng und endete über dem Knie. Alexandra kickte ihre Pumps weg und betrachtete irritiert ihre nackten Fersen und die zwei Blasen, groß und entzündet, wie nasse Augen.

»Wenn du mich fragst«, sagte Bea halblaut zu mir, »kommt auf die etwas zu. Sie versucht sich zu schützen, sie fürchtet sich vor etwas. Eine tiefe Verletzung wahrscheinlich.«

»Bea, nicht schon wieder!« Praktisch von allen Stammkunden speichert sie die Sternzeichen und Geburtsdaten im Kopf, jederzeit abrufbar für ihre gewagten Analysen. Sie ist meine Farbstylistin, trägt selbst in jeder Saison eine andere Haarfarbe, oft leuchtend roten Lippenstift und immer schwarze Klamotten.

»Als Zwillingsfrau wird Alexandra getrieben«, sagte Bea, »da kann sie machen, was sie will. So, wie der Mond jetzt steht, die Ärmste.«

Alexandra war weiß im Gesicht. Ich musterte sie. Weißblonde Haare zum weißen Gesicht mit dunklem Lippenstift. Das würde aus Alexandra einen Typ machen. Die Idee gefiel mir.

Zerstreut hörte Alexandra mir zu, nickte und blätterte in Michelle, einem Frauenmagazin. »Denen fällt auch nichts mehr ein«, murmelte sie zufrieden. Alexandra hat eine [8] beachtliche Karriere gemacht. Nach einem abgebrochenen Studium, dem Start als Praktikantin bei Vamp, leitete sie seit sechs Jahren dort das Ressort für Kosmetik und Schönheit, eine der wichtigsten Positionen in diesem Hochglanzmagazin. Monat für Monat sagte sie ihren Leserinnen, was dem Teint nützt und der Haut schadet, welche Mittel gegen Orangenhaut und Falten helfen, welche Tricks das Beste aus welchem Typ machen, und sei er noch so fade. Alexandra wußte immer genau, was sie wollte. Heute wollte sie aufgerichtet werden. Mir war nicht klar, warum. Ich fragte auch nicht. Ich wollte ihr nur den Gefallen tun.

»Möchtest du einen Kräutertee, Alexandra? Wir haben indischen.«

»Gern.«

Sie saß jetzt gewaschen und verstrubbelt vor dem Spiegel. Ich legte ihr das weiche Handtuch in den Nacken. Langsam kämmte ich durch das glatte, nasse Haar. In diesem Zustand ist die Kundin ein schutzloses Wesen, beinahe nackt. Es spielt keine Rolle, ob sie Schauspielerin ist oder Hausfrau, Firmenboss oder Angestellte. Ich gebe mit der Schere dem Kopf eine neue Form, dem Menschen ein neues Aussehen. Ich habe die Macht, ihn mehr zu verändern als irgend jemand sonst. Mein Handwerk, das weiß jeder, ist längst Kunst geworden. Alexandra schloß die Augen. Ihre Brüste unter dem Umhang hoben sich.

»Alles in Ordnung?« fragte ich und zog mit dem Kamm eine Linie in der Scheitelgegend, kämmte glatt herunter und prüfte im Spiegel. Mit einem leichten Druck der Finger auf die Schläfe bedeutete ich Alexandra, den Kopf etwas nach links zu drehen. Alles in Ordnung? Um die Quelle zum [9] Sprudeln zu bringen, reichen in der Regel drei Worte, und ich höre viele Geschichten, wie die von der Ehefrau, die seit fünf Jahren den Chef ihres Mannes mit der Peitsche verwöhnt und regelmäßig Gehaltserhöhungen herausschlägt, die sich ihr Mann nicht erklären kann. Ich sehe die Narben vom letzten Lifting meiner Lieblingskundin. Ich erfahre, bei wem der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Der Frisörsalon ist der Ort, an dem Menschen ihre Geheimnisse ausplaudern. Ob ich will oder nicht.

»Alles in Ordnung?« fragte ich noch einmal. Für eine Sekunde trafen sich unsere Augen im Spiegel. Alexandra lächelte.

Ich könnte ihr ovales Gesicht stärker betonen. Die dunklen Augen wirken dann größer und verleihen Alexandra vielleicht etwas Tiefgründigeres, Geheimnisvolleres.

»Ich habe einen neuen Typen«, sagte sie.

Ich kämmte.

»Der ist eigentlich gar nicht mein Fall. Zuviel Testosteron, viel zu egozentrischer Charme. Du kennst das ja.«

Mit dem Aufbau der Stützhaare gebe ich der Frisur mehr Stand, mit der Stufung baut sich das Gewicht der Haare nach unten hin ab.

»Der hat schon ewig gebaggert, ich kann dir sagen. Und vor ein paar Wochen« – Alexandra zuckte die Achseln – »habe ich einfach nachgegeben. Vielleicht war’s ein Fehler. Aber im Moment ist es ganz okay.«

Ich kämmte vom Scheitel, faßte eine Strähne zwischen Zeige- und Mittelfinger, klemmte den Kamm mit dem Daumen fest und begann zu schneiden, erst mal locker durchstufen.

[10] »Weißt du«, fuhr Alexandra fort, »wir laufen uns eher selten über den Weg. Aber wenn, macht es irrsinnig Spaß, vor den anderen so zu tun, als sei er nur ein Kollege, dadurch herrscht eine ungeheure Spannung, weißt du, ich bin dann erotisch wie aufgeladen.«

Ich ging jetzt direkt in die Haare hinein, wobei ich immer auf der hinteren Partie aufbaute.

»Er ist zum Glück verheiratet, dadurch entsteht keine Verpflichtung. Der hat, glaube ich, zwei Kinder. Da darf kein Mensch etwas merken, auch in der Redaktion nicht.«

»Um Gottes willen, bloß nicht«, sagte ich.

»Nein, um Gottes willen«, wiederholte sie. »Dann wäre der Teufel los. Aber das wäre ja nicht das erste Mal. Erinnerst du dich?«

Alexandra schwieg, als erinnere sie sich an die vielen zerbrochenen Beziehungen, bei denen der Teufel los gewesen war. Ich achtete darauf, die Spitzen auf verschiedene Längen zu zerschneiden, der Fall ist dann schöner.

»Allerdings habe ich das Gefühl, Eva belauert mich.«

Eva Schwarz ist die Chefredakteurin, zwei Jahre jünger als Alexandra und sehr ehrgeizig. Natürlich lauerte sie. Sie lauern alle. Und sie sind alle meine Kundinnen. Alexandra wußte das.

»Hat sie dir gegenüber mal irgendeine Andeutung gemacht?« Alexandra beugte sich vor und griff nach dem Glas Tee. Beim Trinken forderten ihre Augen eine Antwort.

»Alexandra…«, sagte ich.

»Schon gut, schon gut. War nur so ein Gedanke, ist mir auch scheißegal, Tommy.«

Sie sagte, wie die meisten Medienleute, ›Tommy‹ zu mir. [11] Auf dem silbernen Schild neben dem Eingang steht ›Tomas Prinz‹, Freunde nennen mich ›Tom‹. Alexandra stellte laut das Glas zurück.

»Und Kai?« fragte ich, um das Thema zu wechseln. Kai ist Alexandras Sohn und sechzehn. Alexandra hatte Soziologie studiert, als sie mit Kai schwanger wurde, und davon geträumt, Gutes zu tun, einen Menschen zu lieben, ein Kind großzuziehen. Der Traum erwies sich als Alptraum. Alexandra sprach schon lange davon, sich endlich scheiden zu lassen. Ich kannte verschiedene Episoden aus ihrem Leben.

»Kai? Der weiß nix davon.«

»Ich meinte – wie geht’s Kai?«...