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Der Bruder - Ein Fall für den Frisör

Christian Schünemann

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604030 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[5] 1

Eine Tanne wanderte durch die Hotelhalle. Sie spazierte am Gepäckwagen vorbei bis zur Säule, kippte, schwenkte einen Meter nach rechts, nach links und steckte fest, ein Schlagbaum zwischen Aufzug und Rezeption. Die Gäste mussten kopfschüttelnd Umwege machen, niemand, außer mir, hatte Zeit. Ich saß im Sessel und schaute auf die Uhr. Aljoscha wollte mich abholen. Ich rechnete: Daheim in München würde Kitty, meine Mitarbeiterin am Empfang, gleich den Salon aufschließen, die Kunden begrüßen, zu ihrem Platz führen, würde die netten mit Aufmerksamkeit verwöhnen, und die weniger netten? Die natürlich auch. Aber dass dort, in München, an diesem Morgen etwas anders war, dass ein Mann von draußen in den Salon spähte und Kitty beim Anblick des blassen Gesichts an der Scheibe erschrak, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich war frei und sorglos, mit Kräuterrührei und Krevetten im Bauch, und vor mir ein Tag, an dem alles möglich war. Ich war im Urlaub.

Eine Hotelangestellte lotste den Baum aus der Sackgasse und dirigierte ihn an seinen Platz. Die Tanne wurde aufgerichtet, stand gerade, die Zweige nach oben gestreckt, schmucklos und unbeholfen. Nur noch zwei Wochen bis zum ersten Advent. Zu Hause musste ich mich gleich nach meiner Rückkehr auch um die Weihnachtsdekoration kümmern. Vor den [6] Feiertagen ist im Salon immer der Teufel los. Manche Kunden, die auf Nummer sicher gehen, buchen den Dezembertermin schon im Spätsommer. Ich wollte nicht daran denken. Die Tannennadeln dufteten und weckten Appetit auf Anisplätzchen, Nusskipferl und Spitzbuben.

»Entschuldigung«, sagte eine Frau auf Russisch. »Sind Sie Vladimir Hausmann? Wir sind verabredet.«

»Nein«, antwortete ich mit meinem deutschen Akzent. Seit eineinhalb Jahren lerne ich Russisch, seit aus der Affäre mit Aljoscha eine Beziehung wurde, aber meine Fortschritte sind dürftig. Zwar kann ich das Alphabet in Druck- und Schreibschrift, aber bei der Aussprache mit all den Zischlauten hapert es noch. Ich sagte: »Ich heiße Tomas Prinz.«

Die Frau murmelte eine Entschuldigung. Mir gefiel ihre Kappe, gefärbter synthetischer Pelz, eine flauschige rosa Perücke, unter der kein einziges Haar hervorschaute. Ich wollte eine Unterhaltung probieren und fragte wie im Lehrbuch, Lektion eins: »Und wie heißen Sie?«

Sie schaute sich um. Hatte sie mich nicht verstanden? Ich muss auf die Betonungen achten, mahnt meine Lehrerin daheim in München.

Ich sah zu, wie das Rosakäppchen mit dem Portier diskutierte. Die Hotelangestellte zerrte mit zwei Männern in Overalls an den Kabeln einer Lichterkette, und mir gegenüber redete ein Mann in die Hand an seinem Ohr, die wohl ein Telefon barg. Seine Stimme klang melodisch wie auf meiner Sprachkassette, aber er verschluckte die Endungen, die ich in den Deklinationen mühsam auswendig lerne. Ich verstand kaum etwas. Eigenartig sah er aus. Das Haar ohne [7] Scheitel glatt in die Stirn gekämmt und über den Augenbrauen gerade abgeschnitten. Die Koteletten, die dem runden Gesicht Kontur geben könnten, endeten bereits über dem Ohrläppchen. Der Mann guckte zur Drehtür. Am Hinterkopf dasselbe: Alles auf einer Länge, der flache Schädel betont, statt mit einer Stufung das fehlende Volumen zu kompensieren. Der russische Haarschnitt ist eine Katastrophe. Bei uns treiben die Männer mit Wachs und Gel den größten Aufwand, rasieren und trimmen das Haar an allen Körperteilen, während man hier denkt, mit einem sauber ausrasierten Nacken sei es getan. Seit drei Tagen war ich nun schon bei Minusgraden in der russischen Hauptstadt unterwegs, schaute mir die Menschen an und achtete darauf, den Kreml mit seinen hohen roten Mauern als Orientierungspunkt nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Moskauerinnen auf der Twerskaja Straße sahen aus wie Models – aber was war mit den Männern los? War das die »neue Generation«, von der Aljoscha immer erzählte? Ich überlegte, wie es wäre, hier in Moskau eine Frisör-Filiale aufzumachen, mit meiner Philosophie vom perfekten Haarschnitt. Aber einen Laden mit russischem Personal ohne Disziplin? Eine Schnapsidee, würde Bea, meine Farbstylistin, sagen.

Endlich kam Aljoscha durch die Drehtür, mit einer viel zu dünnen Jacke bekleidet, die Hände tief in den Taschen, aus der das scheußliche rote Schlüsselband hing, das Werbegeschenk, das er bei seinem Münchenbesuch im vergangenen Sommer von der Kaufingerstraße mitgebracht hatte. Das Ersatzband mit den edel eingewebten Pferdeköpfen, das ich ihm gleich darauf von der Maximilianstraße mitgebracht hatte, war wohl perdu. Aber so richtig gefallen hatte ihm das [8] edle Luxusteil, glaube ich, nie. Während Aljoscha das Rosakäppchen begrüßte, steckte der Mann an der Säule sein Telefon weg und ging auf die beiden zu, mit Ziehharmonikafalten im Jackett und Knittern in den Kniekehlen, die Hochwasser machten. Aljoscha lächelte erleichtert, streckte ihm die Hand entgegen und verbeugte sich aus der Hüfte, als ob er auch Anzug und Krawatte trüge. Die Frau bot dem Russen ihre Hand zum Kuss, huldvoll, wie eine Fürstin am Zarenhof. War das ein zufälliges Treffen? Aljoscha winkte. Ich? Er winkte mich zu der Runde.

»Darf ich vorstellen?«, sagte Aljoscha. »Mein Freund Tomas Prinz, zu Besuch aus München. Tomas, das ist Katharina Nikolskaja. Und Vladimir Hausmann, ein Kunde von uns.«

»Freut mich«, sagte die Nikolskaja. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

Ich antwortete: »Ganz meinerseits«, sagte zu Hausmann: »Sehr angenehm!«, und schüttelte Hände. Das war also Aljoschas Chefin, die Frau, der eine der wichtigsten Galerien in Moskau gehörte. Aljoscha hatte schon als Student für sie gearbeitet. Und war das etwa der neue Sammler, von dem Aljoscha erzählt hatte, seine größte Sorge sei, dass er nicht wisse, wohin mit seinem Geld? »I like your hat«, sagte ich zu Katharina Nikolskaja.

Sie lächelte, schlug die dunkel schattierten Augenlider nieder, eine Sekunde zu lang, und sah an mir vorbei auf den Weihnachtsbaum. Das Anhängsel von Aljoscha interessierte sie nicht.

»Sei nicht so empfindlich«, sagte Aljoscha, als wir uns durch die Drehtür ins Freie schoben. »Es geht hier ums [9] Geschäft. Ich musste Katharina mit Hausmann bekannt machen, das war’s.« Er stellte mir den Pelzkragen auf. »Jetzt habe ich frei. Wir können heute tun, was wir wollen. Und ich weiß auch schon, was.«

Er hatte recht. Ich war hier nicht die Hauptperson, war auf Urlaub, neugierig auf Aljoschas Leben und die russische Seele, die vielleicht Abgründe hat, wie die der Raskolnikows und Karamasows in den dicken Dostojewskij-Wälzern auf meinem Nachttisch. Der Nieselregen ging in Schnee über, die Flocken schaukelten um uns herum und setzten sich über Umwege auf Aljoschas geknoteten Schal. Ich betrachtete zum hundertsten Mal die bunten Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale, das Prunkstück am Roten Platz. Ich hatte gelesen, dass Zar Iwan der Schreckliche den Baumeister dieser Kirche blenden ließ, damit er nie wieder etwas so Schönes erschaffen konnte. Ich finde die Kirche mit den bizarr geformten Dächern und den exzentrischen Farben eher schrill als schön und die russische Geschichte ziemlich brutal.

Aljoscha wartete geduldig. Ich fragte: »Womit verdient dein Russe eigentlich sein Geld?«

»Er handelt mit gefrorenem Fisch.«

»Und ist Kunstkenner?«

»Er legt sein Geld in Kunst an. In moderner Kunst. Das ist für einen russischen Sammler eher ungewöhnlich. Wer Bilder kauft, investiert meistens in die alten Meister, Goya zum Beispiel. Oder die klassische Moderne, Monet, Picasso, Chagall, Dalí. Sie kaufen, was sie kennen und schon einmal im Museum gesehen haben.«

»Aber so ein Dalí ist doch unbezahlbar!«

Aljoscha zuckte die Achseln. »Gegenwartskünstler haben [10] bei uns kaum Chancen, erst recht, wenn sie unbekannt sind. Das macht das Geschäft so schwer. Hausmann ist eine Ausnahme. Er will Maler, die erst im Kommen sind. Das ist schlau. Die Zukunft liegt in der modernen Kunst.«

»Klingt nach einem harten Business.«

»Es ist knallhart, Tomas.« Aljoscha grinste.

»Ist Hausmann etwa einer von diesen reichen Russen?«

»Reich ist er schon. Aber mit diesen schrillen Reichen will er nichts zu tun haben. Er will kultiviert sein. Ich glaube, deswegen versteckt er seine Freundin. Ich habe sie nur einmal gesehen, aber sie hat irgendwie von allem zu viel: zu viel Lidschatten, zu viel Gold, zu viel Pelz. Er zeigt sich nicht mit ihr, weil er sich vor uns mit ihr geniert.«

Wir schlenderten entlang der Moskwa, dem grauschwarzen Moskau-Fluss, durch einen kleinen Park. Unter den Bäumen schauten die kurzen Stoppeln der Grashalme durch eine schüttere weiße Decke. Der Wind arbeitete wie ein Straßenkehrer und fegte den Schnee vor unseren Füßen hin und her. Ein Besen, dachte ich, ein Schneebesen. Ich zog den Kragen enger und fragte: »Wo gehen wir eigentlich hin?«

»In die Tretjakow-Galerie.«

»Wir machen in Kunst?« Das war also die Überraschung.

An einem Denkmal, einer Büste, buchstabierte ich die geschwärzten kyrillischen Lettern im Sockel: Ilja Repin.

»Jetzt komm schon!«, rief Aljoscha.

Wir schlitterten über die Brücke, die im Bogen über die Moskwa führt, und hielten uns aneinander fest. Aljoschas Hände waren ganz rot, ich versuchte sie mit meinem Atem zu wärmen. Diese Gegend kannte ich nicht. Kleinere Straßen, kaum Verkehr, fast eine Münchner Dimension in [11] dieser Zehnmillionenstadt. Immer wieder vergleiche ich Aljoschas riesiges, anonymes Moskau mit meinem kleinen München, wo man sich kennt und...