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Tore, Tote, Tivoli - Kriminalroman

Kurt Lehmkuhl

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2014

ISBN 9783734992407 , 284 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

6,99 EUR


 

Zwillinge


Ich hatte gerade mit viel Mühe und dank der tatkräftigen Unterstützung meiner Zungenspitze die letzten Sätze einer Kurzgeschichte in meinen Computer hineingehackt, als das Telefon klingelte. Laut und störend, die geruhsame Stille, in der meine ausgeprägte Fantasie reifen konnte, unbarmherzig beendend. Ein kurzer Blick auf die Computeruhr zeigte mir, dass es gerade einmal 14 Uhr war, 14 Uhr an einem schönen, friedlichen Samstag Ende September.

›Lass’ es klingeln‹, sagte ich mir, ›es ist Wochenende. Du willst deine Ruhe haben, einmal ungestört sein, nicht von morgens bis abends dumm belabert werden von uneinsichtigen Mandanten und normalen Menschen.‹ Endlich wieder einmal nur für mich sein und für meine heile, von mir geschaffene Schreibwelt, die so ganz anders war als die Wirklichkeit, in der ich tagtäglich umherirrte. Eine Geschichte schreiben oder eine Glosse, vielleicht auch zwei oder drei, ganz wie es mir gefällt und wie es mich überkommt, und die Produkte der Hirnwindungen und des mir eigenen Vier-Finger-Suchsystems ausdrucken, anschließend in diverse Briefumschläge stecken und an verschiedene Adressaten schicken. Es gab erstaunlicherweise immer Abnehmer für meine Wortansammlungen, Zeitungen etwa oder Rundfunksender, die es dann sogar manchmal nicht vergaßen, mir anschließend auch noch ein bescheidenes bis beschämendes Honorar auf mein chronisch defizitäres Konto zu überweisen.

›Lass’ es doch klingeln, du Blödmann‹, schimpfte ich mit mir, als ich nach dem zehnten ungeduldigen Rufzeichen endlich, die Neugier nicht beherrschend, den Hörer abnahm. Hätte ich bloß auf mich gehört und die Finger vom Telefon gelassen. Mir wäre einiges erspart geblieben. Aber so nahm die merkwürdige Geschichte ihren Lauf.

»Grundler«, bellte ich mürrisch in das Mikrofon, in der Hoffnung, dadurch den Anrufer so zu verschrecken, dass er von sich aus das unerbetene Gespräch schon wieder beendete, bevor er es überhaupt begonnen hatte. Doch in diesem Falle war ich schief gewickelt.

Ein »Hallo, Tobias!« erhielt ich unbeeindruckt als fröhliche Antwort auf meine schroffe Eröffnung. »Bist du etwa wieder abgetaucht in deine Scheinwelt?« Mein Freund und Chef Doktor Dieter Schulz kannte mich lange und gut genug, um zu wissen, was mit mir momentan los war.

»Jetzt nicht mehr, Dieter«, brummte ich zwischen Erleichterung und Anspannung, »jetzt bin ich wach.« Ich klemmte mir den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter und begann, das papierene Chaos auf meinem Schreibtisch aufzuräumen, durchaus gespannt, was mein Freund von mir wollte. »Wer will sich denn heute wieder nicht scheiden lassen?«

Das war stets meine Standardfrage, wenn mich Dieter in meiner knapp bemessenen Freizeit störte. Denn meistens rief er nur dann unangemeldet und überraschend an, wenn es mal wieder ein Problem gab mit seinen Brötchengebern. Dieter Schulz war Rechtsanwalt. Einer von vielen in Aachen und doch nicht einer von vielen. Dieter Schulz war nicht nur Doktor jur., sondern auch Spezialist für Familienstreitigkeiten aller Art, vornehmlich für Scheidungsangelegenheiten und Erbschaftsauseinandersetzungen. Dieser Job brachte ihm viel ein, wie ich wusste, denn ich verschickte anschließend, nach getanem Juristenwerk, das meistens von der Öffentlichkeit unbeachtet und ohne großes prozessuales Gezerre seriös von ihm erfüllt wird, die Rechnungen an unsere Mandanten, denen fast nie daran gelegen war, dass ihre Probleme publik wurden. Der Rubel rollte bei Dieter, der längst nicht mehr auf jeden Pfennig schauen musste und es sich sogar leisten konnte, eine verkrachte Existenz wie meine Wenigkeit zu seinen Beschäftigten und zu seinem engsten Freundeskreis zu zählen.

»Kommst du mit zum Tivoli?« Dieter kam direkt zum Punkt. Er hatte es sich längst abgewöhnt, auf meine dämliche Frage überhaupt noch zu antworten.

Mir fiel fast vor Schreck der Telefonhörer aufs Parkett, beziehungsweise auf den Teppichboden meiner bescheidenen, angemieteten Behausung.

»Was ist?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Wohin willst du?« Dieter hatte mich völlig auf dem falschen Fuß erwischt.

»Kommst du mit auf den Tivoli?«, wiederholte mein Freund aufreizend geduldig, meine Begriffsstutzigkeit nicht weiter kommentierend.

»Was willst du denn da?«, entfuhr es mir beinahe schon entgeistert. Ich konnte es einfach nicht glauben. Das Ansinnen von Dieter war derart aus der Welt, dass ich es einfach nicht wahr haben konnte und wollte.

»Ich hab’ mal wieder Lust auf Alemannia«, antwortete er mir mit einem lustigen Reim auf meine Frage.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«, entgegnete ich ungläubig.

Doch Dieter meinte es tatsächlich ernst. »Wir waren noch nicht da in dieser Saison. Lass’ uns doch mal sehen, wie die jetzt spielen. Die sollen ganz gut sein. Viel besser als im vergangenen Jahr.«

»Wer behauptet das?«, fragte ich, irritiert über Dieters Anliegen. Es musste schon Jahre zurückliegen, dass wir uns die kickenden Kartoffelkäfer auf dem Acker in der Soers angesehen hatten.

»Niemand. Das steht doch in der AZ.«

Ach, so. Weil’s in der Aachener Zeitung stand, war es auch so. »Du glaubst wohl alles?«, hielt ich Dieter entgegen.

»Nein, aber ich vertraue dem Sachverstand objektiver Sportredakteure«, antwortete er trocken.

Da verkniff ich mir doch lieber jeden weiteren Kommentar. »Wer spielt denn überhaupt?«

»Die Alemannia natürlich!«

›Der Junge hat wirklich Humor‹, dachte ich mir. »Spielen die etwa gegen sich selbst oder was?«

»Gegen wen die spielen, das ist doch egal«, meinte Dieter. »Hauptsache, sie gewinnen.«

»Ich will aber, dass die schwarz-gelben Jungs gegen die Sportfreunde Siegen siegen«, forderte ich.

»Von mir aus, dann spielen die schwarz-gelben Jungs heute halt gegen Siegen«, stöhnte mein Chef theatralisch.

Mit dieser Ausgangssituation konnte ich mich einverstanden erklären, auch wenn ich Dieter nicht glaubte. Wir würden schon früh genug herausbekommen, welche bemitleidenswerte Elf heute auf dem Tivoli die Hucke voll bekommen würde.

»Aber du bezahlst!«, forderte ich von meinem Freund, und nachdem er sich auch mit dieser Forderung ohne Widerrede einverstanden erklärt hatte, willigte ich in unser Tivoli-Abenteuer ein, nicht ahnend, was da alles auf mich zukommen sollte.

Wir verabredeten uns für 15 Uhr vor dem Hauptgebäude der RWTH am Templergraben. Dort sollte mich Dieter aufgabeln. Im Gegensatz zu mir besaß mein Chef schließlich einen motorisierten Untersatz, einen ausgewachsenen und bezahlten Daimler, ich hingegen besaß lediglich am Templergraben immer noch die kleine Wohnung, für die jeden Monat eine fette Miete fällig wird. Da war es wohl das Geringste, dass Dieter mich von meinem kleinen Zuhause, das eher zu einem Studenten als zu mir passen würde, abholte und zur Krefelder Straße chauffierte.

Ich sprang noch kurz unter die Dusche und rasierte mich. »Eigentlich sind wir ja schön blöd«, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild. Da fahren doch tatsächlich zwei Männer Mitte 30 zu einem wahrscheinlich wenig attraktiven Fußballspiel auf den Tivoli, »einmal auf die Alemannia.« Als wenn wir nichts Besseres außerhalb unserer Arbeitszeit zu tun hatten. Schulz beispielsweise hätte sich um seine Frau und seinen Sohnemann kümmern können.

Und ich?

›Denk’ nicht drüber nach‹, antwortete mir das vom spärlichen Bartwuchs befreite Gesicht, das ich anblickte, aufmunternd. ›Lebe! Genieße! Mach’ das, woran du Spaß hast!‹

Eines muss ich Dieter lassen: Er ist ein pünktlicher Mensch. Auf die Minute genau hielt er vor dem Hauptgebäude der Technischen Hochschule und ließ mich in den Nobelschlitten einsteigen.

»Wo ist denn der schwarz-gelbe Schal? Wo ist deine Alemannia-Mütze?« Mit Dieters stinknormaler Freizeitkleidung konnte ich mich nicht einverstanden erklären. »Da spielst du vor mir den Aachener Oberfan und läufst dann ’rum wie Hein Ei«, frotzelte ich. Dieter hätte sich ja wenigstens eine Jeans und einen Pullover anziehen können. Aber, nein, mein Chef hatte wieder einen seiner so sorgfältig gebügelten, grauen Anzüge an. Freizeit und Dienst unterschieden sich bei ihm allenfalls dadurch, dass er als Privatmann auf die stets zur Kleidung farblich abgestimmte Krawatte verzichtete.

Insofern hatten wir wenigstens jetzt etwas gemeinsam. Ich trug nämlich nie eine Krawatte. Einen Anzug hatte ich wohl zum letzten Mal bei der Taufe von Dieters Nachwuchs angehabt.

Die Kleiderordnung führte im Büro immer wieder zum Streitgespräch, wenn ich, scheinbar imagezerstörend und mandantenschädigend, in Jeans und Sweatshirt durch die Gegend lief und manchmal noch meine über alles geliebte, abgewetzte Lederjacke trug. Nun sind allerdings die Wiederholungstäter bei uns in einer verschwindend kleinen Minderheit, und wer einmal in unseren Kanzleiräumen fest genagelt ist, der lässt sich auch nicht mehr durch mein saloppes Äußeres vertreiben.

Wenn uns alle Welt dennoch nur ›die Zwillinge‹ nannte, so musste diese Beurteilung mehr mit unserer Seelenverwandtschaft zusammenhängen als mit unserem Äußeren, wenngleich wir beide ziemlich groß, ziemlich blond und auch ziemlich blauäugig waren. Doch dann gab es noch einen gewaltigen Unterschied: Dieter war verheiratet mit Do, der besten Frau der Welt. Ich hingegen war Junggeselle, es gab keine zweite Do für mich. Oder doch?

»Was macht eigentlich dein Examen?«, fragte Dieter scheinheilig,...