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Mystik und Widerstand

Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky

 

Verlag Kreuz, 2014

ISBN 9783451800962 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

Einleitung von Fulbert Steffensky


Es fällt mir schwer, über Dorothee Sölle zu schreiben, über die Frau, mit der ich 34 Jahre verheiratet war. Ich meide Veranstaltungen, in denen ihrer gedacht wird. Ich versuche, das zentrale kirchliche Haus in Hamburg zu übersehen, das ihren Namen trägt. Ich erlebe sie in solchen Situationen als Beredete, nicht als Redende; als Symbol, nicht als ein Mensch aus Fleisch und Blut; eindeutiger gemacht, als sie je war. Sie ist ihrer Widersprüche entkleidet und verehrungswürdig geworden. Sie hat ihre Unvollkommenheit verloren und damit ihren rotzigen Charme. Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich freue mich darüber, wenn ihre Texte in Schulbüchern, Anthologien und Kalendern erscheinen. Ich freue mich, wenn eine Straße nach ihr benannt wird. Nur ich selbst gehe nicht gern durch diese Straße, weil die Frau, die ich geliebt und mit der ich gelebt habe, mir dort als Denkmal erscheint. Dazu ist sie mir noch zu wenig tot.

Warum aber schreibe ich die Einleitung zu diesem Buch? Einmal, weil der Verlag es gewünscht hat und ich dem Verlag viel zu dankbar bin, als dass ich diesen Wunsch abschlagen könnte. In der Hauptsache aber, weil ich nicht aufhören will, mit ihr zu reden und zu streiten. Toten gegenüber darf man nicht das letzte Wort behalten. Aber wenn ich sie nicht für tot erkläre, dann werde ich nicht aufhören, die Schönheit ihrer Sprache zu loben, sie auf ihre Widersprüche hinzuweisen, mein Unverständnis auszudrücken, mit ihr zu streiten und mich über unsere grundsätzliche Gemeinsamkeit zu freuen. Das mag etwas mystisch klingen, aber dies ist schließlich die Einleitung zu ihrem Mystikbuch. Nein, genau genommen ist es keine Einleitung in die Mystik. Es sind eher unsystematische Überlegungen anhand dieses Buches; Punkte, über die wir immer noch streiten; Punkte, über die wir schon lange einig sind.

Ich finde einen kleinen Text von Dorothee Sölle, den sie wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben hat, eine kurze Auslegung eines Verses aus dem Psalm 33: »Unser Herz freut sich des Herren und wir trauen auf seinen heiligen Namen.« Sie schreibt dazu, schon mit müder Hand:

»Die Freude an Gott ist vielleicht das Allerwichtigste, was die Psalmen uns lehren können. Das Buch der Psalmen ist ja das Liederbuch, das Gesangbuch des Alten Bundes. In ihm stehen verzweifelte Lieder, Klagerufe, Bittgesänge, aber eben auch und vielleicht an erster Stelle die Freude an Gott, an seiner Schöpfung, an Sonne, Mond und Sternen, die auf- und untergehen, an Wäldern und Feldern, an Narzissen und Tulipan. ›Oh, wie schön ist Deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet, wenn Dein Glanz herniederfällt und die Luft mit Schimmer malet‹ ist ein Lied, das wir früher oft gesungen haben. Es ist eine Art von Glück, diese Freude an– oder sollte man nicht besser sagen ›in‹? – Gott.

Die Psalmen sind in einer Elendswelt entstanden, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Abhängigkeit vom Wetter, vom fehlenden Wasser, von Krankheiten, von Schmerzen, Ängsten, Nöten, denen die Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Wieso spielt in dieser Welt der Ängste vor wilden Tieren und habgierigen Feinden, vor frühem Tod und sterbenden Kindern das Lob Gottes eine solche Rolle? Warum ›freut sich unser Herz‹ und woher kommt dieses merkwürdige Vertrauen, dass es auch morgen etwas zum Freuen gibt? In einer jüdischen Psalmenauslegung heißt es: Die Welt wird erst sichtbar, wo sie besungen wird. Und wir werden erst glücklich, wenn wir mitsingen.«

Diese Freude in Gott ist in dem kleinen letzten Text eher ein Jubelruf oder ein Gebet. In ihrem Mystikbuch ist sie distanzierter und reflektierter beschrieben:

»Der innerste Ort mystischer Gewissheit lässt sich mit dem alltäglichen Wort ›Freude‹ benennen, und ohne sie zu spüren, zu ahnen oder wenigstens zu vermissen, ist die Rede von der mystischen Nähe Gottes unmöglich … Die Freude, der Jubel, die Ekstase, die ohne Grund, Anlass oder Zweck die Seelen ›bewohnt‹, verändert sie in verschiedenen Dimensionen. Die Trennungen und Rollenvorschriften der Gesellschaft werden durcheinander gewirbelt, das Verhältnis zum Selbstausdruck des Körpers und zur Leiblichkeit intensiviert sich, und Freude ist die Grundlage, auf der Mystik und Ästhetik in ein Verhältnis treten; beide beziehen sich auf die Schönheit.« (S. 241)

Ich greife zunächst das Wort Schönheit auf. Ihr Durst nach Schönheit ist von ihrer frühen Jugend an ihr Durst nach Musik. In Tagebuchaufzeichnungen der Sechzehnjährigen heißt es:

»Ganz tief innen weiß ich, dass Musik und die Natur die Elemente meines Lebens sind. Musik muss man irgendwie im Blut haben und ganz fest wissen, wie unverlierbar dies für mich ist, wie sie einfach zu mir gehört. Töne, Töne, Töne … Ich kann mir nichts Schöneres denken als Musiklehrerin zu werden und jungen Menschen diese Welt zu erschließen … Ich höre die Johannespassion. Ich möchte so gerne singen, immerzu. Eigentlich können nur junge Menschen singen. Man darf nicht über den Liedern stehen. Man muss sie leben. Alle Traurigkeit und alles Jubeln muss echt sein in dem Augenblick, da mein Mund sie singt … Ich möchte Märchen schreiben und singen, nichts als singen.«

Es gibt kaum eine Seite ihrer Tagebücher, auf der nicht ein Konzertbesuch oder ein Singen mit den Freundinnen verzeichnet ist. Bis in die letzten Wochen ihres Lebens hat sie im Chor ihrer Kirchengemeinde gesungen und zuhause Klavier gespielt. Sie konnte es am Ende nicht mehr sehr gut. Aber ihre mangelnde Fähigkeit hat ihr die Lust am Spielen nicht verdorben. Sie war eben eine Dilettantin, eine große Liebhaberin. Die Freude an Musik, an Gedichten, an der Natur und an Freundschaften ist sicher nicht die Freude »in Gott«, wie sie es in ihrem letzten Text nennt. Aber es ist ein Propädeutikum jener anderen großen Freude. Sie lernte früh – wenn man so will – Grundeigenschaften der Mystik, nämlich das Staunen, das Loben und das Danken. In ihrem letzten Vortrag am Vorabend ihres Todes sprach sie über die Mystik und begann mit dem Staunen:

»Ich denke, dass jede Entdeckung der Welt uns in einen Jubel stürzt, ein radikales Staunen, das die Schleier der Trivialität zerreißt. Nichts ist selbstverständlich und am allerwenigsten die Schönheit. Es gibt keinen mystischen Weg, der zur Einigung führen kann, wenn nicht dieses Staunen da ist. Staunen heißt, wie Gott nach dem sechsten Tag die Welt wahrnehmen: ›Und siehe, es war alles sehr gut!‹ Das ist ein Anfang. Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern … Staunen oder Verwunderung ist eine Art, Gott zu loben – übrigens auch dann, wenn sein Name nicht genannt wird.«

In ihrem Buch »Gegenwind« (Hamburg 1995, S. 286) schreibt sie:

»Ich finde, man muss Gott loben, um das so fromm zu sagen. Ohne zu loben, atmen wir nicht wirklich. Und zu nennen, was gut ist und befreiend, ist der einzige Weg, die Erfahrung der Befreiung zu verteilen.«

Ihre Fähigkeit zu staunen, ihre Lust an der Schönheit der Musik, der Natur und Literatur verdankt sie auch ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft. Als sie mir einmal die Stellen über die Musik aus ihrem Tagebuch vorlas, habe ich geantwortet: »Während du die Passionen hörtest und Klavier spieltest, musste ich Ziegen hüten und Kartoffeln hacken.« Caroline Sölle, Ärztin aus Bolivien und Dorothees Tochter, schrieb: »Die Armen werden selig gesprochen, weil sie so bitter unselig sind. Armut macht unglaublich hässlich, äußerlich und innerlich. Wenn ich meine Sprechstunde halte, bin ich immer wieder erstaunt über die Hässlichkeit der Armut. Die Armen sehen den Müll nicht, in dem sie leben, sie sehen darin nur, ob man da noch etwas finden könnte zum Essen oder zum Wiederverkaufen. Sie sehen die Schönheit der Natur nicht, sondern denken beim Sonnenuntergang nur daran, ob sie genug Decken zum Zudecken in der Nacht haben. Sie lieben einander herzlich wenig, der Enkel schlägt die Großmutter, die ihm nicht genug Geld für Drogen gibt, nachdem der Vater sich zu Tode gesoffen hat und die Mutter die Familie verließ. Die Frau, die ihre sechs Kinder und ihren rheumatisch verkrüppelten Mann als Wäscherin durchbringt, die zu acht in einem winzigen Zimmerchen hausen, aus dem die Vermieterin sie wieder hinauswirft, diese Frau hat kein Lächeln übrig.« Die Schönheit der Welt wahrnehmen zu können oder sie zu übersehen, ist nicht unabhängig vom ökonomischen Schicksal der Menschen. Dorothee ist trotz des Krieges in einer behüteten Welt aufgewachsen. Sie hatte die Möglichkeit zu lesen, zu wandern und Musik zu hören. Sie hatte Zeit für die Schönheit und Zeit, sich selber wahrzunehmen. Sie lebte nicht wie die meisten Menschen in einer Welt ständiger Nötigungen; in einer Welt der Armut, in der Menschen keine Zeit für zwecklose Schönheiten haben; in einer Welt »sunder warumbe«, das Wort von Meister Eckhart, das sie oft zitierte. Die Fähigkeit zu loben und zu danken hängt auch davon ab, ob einem die Welt, in der man lebt, etwas zu loben und zu danken gibt. Die Fähigkeit zu glauben setzt voraus, dass das Leben sich als glaubwürdig erweist. In einem Gedicht aus Cuba heißen zwei Zeilen: »Gestillt werden kann der Hunger nach Brot, grenzenlos ist der Hunger nach Schönheit.« Leider kann die Armut auch den Hunger nach Schönheit aus den Herzen der Menschen reißen.

Ich interessiere mich in dieser Einleitung vor allem für das, was man bei Dorothee Sölle nicht vermutet und was mir selbst vielleicht wenig geläufig ist. Dazu gehört, wie sie es oft geradezu naiv nennt, die Freude an Gott und die Liebe zu Gott....