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Land der Lupinen - Roman

Paullina Simons

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641141554 , 1088 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2


COCONUT GROVE, 1947


Das Verschwinden

 

Miami im Januar. Am tropischen Meer gelegen. Die Lufttemperatur lag bei 27 Grad, das Wasser war 24 Grad warm. »Besser«, sagte Alexander lächelnd, »viel besser. Hier können wir bleiben.«

Miami Beach und South Beach, die sich entlang der sanften blaugrünen Wellen des Atlantiks und der Biscayne Bay erstreckten, waren etwas zu verrucht für ein Paar mit einem kleinen Jungen: die extravaganten Spielcasinos, die angemalten, aufgetakelten Huren auf der Straße, und am Strand die dunklen, ventilatorgekühlten Art-déco-Hotels aus den Dreißigern, die aussahen, als beherbergten sie Männer mit tödlichen Geheimnissen. Vielleicht waren solche Hotels genau das Richtige für sie, doch das konnte Tatiana Alexander nicht sagen. Sie benutzte Anthonys moralische Unversehrtheit als Vorwand, den Ort zu verlassen. Von South Beach fuhren sie neunzehn Kilometer südlich nach Coconut Grove, wo es ruhiger und angenehmer war. Bevor es touristisch erschlossen wurde, war Cocoanut Grove, wie es bis 1896 hieß, nur eine kleine Stadt an der Biscayne Bay mit achtundzwanzig hübschen, eleganten Gebäuden, zwei großen, florierenden Geschäften und einem Luxushotel. Das war damals. Inzwischen verhielt es sich mit dem Wohlstand wie mit dem Sonnenschein – er war beträchtlich und beständig. Unter den fächerförmigen Palmen reihten sich Parks, Strände, Jachthäfen, Restaurants und Geschäfte, deren Silhouetten sich gegen das Meer abzeichneten.

Tatiana und Alexander stiegen in einem Motel im Landesinnern ab. Doch jeden Tag trieb es sie zur Bucht. Tatiana machte sich Sorgen, dass ihnen das Geld durch die Finger rann. Sie schlug vor, das Wohnmobil zu verkaufen. »Wir können sowieso nicht darin bleiben. Du musst dich waschen.«

»Ich wasche mich im Meer.«

»Aber ich muss irgendwo für dich kochen.«

»Wir gehen essen.«

»Dann werden wir bald ohne Geld dastehen.«

»Ich besorge mir Arbeit.«

Sie räusperte sich. »Wir brauchen ein bisschen Privatsphäre.«

»Ah, jetzt verstehen wir uns. Trotzdem, vergiss es. Ich werde den Nomad nicht verkaufen.«

Sie schlenderten die Bayshore Avenue entlang, vorbei an den ankernden Booten.

»Wir werden ein Hausboot mieten«, sagte Alexander.

»Ein was?«

»Ein Boot, das gleichzeitig ein Haus ist.«

»Du willst, dass wir auf einem Boot leben?«, fragte Tatiana langsam.

Alexander rief seinen Sohn. »Anthony, wie fändest du es, auf einem Boot zu wohnen?«

Das Kind hüpfte auf und ab.

»Anthony«, ergriff seine Mutter das Wort, »wie fändest du es, in einer einsamen verschneiten Berghütte in Nordkanada zu leben?«

Anthony hüpfte auf und ab.

»Siehst du, Alexander? Du solltest wirklich nicht sämtliche Lebensentscheidungen davon abhängig machen, was einem kleinen Jungen gefällt.«

Alexander hob Anthony auf den Arm. »Kumpel«, sagte er, »ein Haus, das wie ein Boot vertäut ist und auf den Wellen schaukelt, sich aber nie vom Pier wegbewegt und direkt auf dem Meer schwimmt, klingt das nicht toll?«

Anthony schlang die Arme um den Hals seines Vaters. »Ich habe doch schon ja gesagt, Dad. Was willst du denn noch?«

Für dreißig Dollar die Woche – dieselbe Summe, die sie Mrs Brewster nicht zahlen wollten – mieteten sie ein komplett möbliertes Hausboot an der Fair Isle Street, die zwischen dem Memorial Park und der Baustelle für das Mercy Hospital aufs Meer hinausragte. Das Hausboot hatte eine bescheidene Küche mit kleinem Herd, ein Wohnzimmer, ein Bad mit Toilette – und zwei Schlafzimmer.

Anthony weigerte sich natürlich, genau wie bei Nellie, allein zu schlafen. Aber diesmal gab Tatiana nicht nach. Sie blieb eine Stunde bei ihrem Sohn, legte sich zu ihm ins Bett, bis er eingeschlafen war, und ging dann in ihr eigenes Zimmer.

Als Tatiana ihr Seidennachthemd auszog und sich splitternackt vor Alexander auf das Doppelbett legte, empfand sie sich als eine andere Frau, die einen anderen Mann liebte. Das Schlafzimmer war dunkel wie sonst, doch er war nackt, trug diesmal weder ein Unterhemd noch ein T-Shirt. So lag er unmittelbar auf ihr und flüsterte sogar Worte, die sie sehr lange nicht gehört hatte. Auch ging er es langsamer an, was er sehr lange nicht getan hatte. Und sie belohnte ihn dafür mit einem atemlosen Orgasmus. Schüchtern bat sie nach mehr. Alexander tat ihr den Gefallen, aber auf eine Weise, die zu viel für sie war. Er drückte ihre Beine hoch und bewegte sich so intensiv, dass leise Schreie des Schmerzes und der Lust ihre Kehle erfüllten. Einen kurzen Moment öffnete er sogar die Augen und beobachtete ihren Mund, der für ihn stöhnte: Oh, mein Gott, Shura. Sie bemerkte seinen forschenden Blick. Er flüsterte: Das gefällt dir, nicht wahr? Er küsste sie, aber Tatiana ließ ihn los und fing an zu weinen. Mit einem Seufzer schloss Alexander die Augen, dann war es vorbei.

 

Alexander machte sich fertig für die Arbeitssuche, Tatiana wollte Wäsche waschen. Es gab nur keinen Waschsalon in der Nähe. »Vielleicht hätten wir das bei der Wohnungssuche beachten sollen.«

Er war gerade dabei, sein Geld und seine Zigaretten zusammenzupacken, als er innehielt und sie ansah. »Nur damit wir uns verstehen«, sagte er bestimmt, »ein Hausboot auf dem Atlantik, der Sonnenaufgang über dem Meer, wie du ihn heute Morgen gesehen hast, oder in der Nähe eines Waschsalons leben? Was ist dir lieber?«

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte sie und errötete angesichts seiner Rüge. »Aber ich kann deine Kleider nicht im Atlantik waschen, oder?«

»Warte, bis ich wieder da bin, dann entscheiden wir, was wir machen.«

Als er am späten Nachmittag zurückkam, sagte er: »Ich habe Arbeit gefunden – in Mels Jachthafen.«

Tatiana sah so niedergeschlagen aus, dass Alexander lachen musste. »Tania, Mels Jachthafen liegt gleich auf der anderen Seite des Memorial Park, zehn Minuten zu Fuß über die Hafenpromenade.«

»Hat Mel auch nur eine Hand wie Jimmy?«, fragte Anthony.

»Nein, Kumpel.«

»Riecht Mel nach Fisch wie Jimmy?«, fragte Tatiana.

»Nein. Mel vermietet Boote. Er sucht jemanden, der sie wartet und zweimal am Tag eine Tour nach Key Biscayne und South Miami Beach macht. Wir machen eine Tour, klappern die Sehenswürdigkeiten ab und kommen wieder zurück. Ich werde ein Motorboot fahren.«

»Aber Alexander«, sagte Tatiana, »hast du Mel gesagt, dass du das gar nicht kannst?«

»Natürlich nicht. Ich habe dir ja auch nicht gesagt, dass ich kein Wohnmobil fahren kann.«

Sie schüttelte den Kopf. Er war einfach anders als die anderen.

»Arbeitszeit ist von halb acht bis sechs«, sagte er. »Und er zahlt mir zwanzig Dollar. Pro Tag.«

»Zwanzig Dollar pro Tag!«, rief Tatiana. »Doppelt so viel wie auf Deer Isle und dabei wirst du nicht mal nach Fisch riechen. Wie kann er sich einen so hohen Lohn leisten?«

»Anscheinend unternehmen einsame reiche Frauen liebend gern Bootstouren zu entlegenen Stränden, während sie darauf warten, dass ihre Männer aus dem Krieg heimkehren.«

Tatiana wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sah.

Seine Arme umschlangen sie von hinten. »Und wenn ich besonders nett zu den Damen bin«, er schob den dicken Zopf beiseite, küsste ihren Nacken und drückte sein Becken an ihren Körper, »bekommt der Captain noch ein Trinkgeld.«

Tatiana wusste, dass er nur Spaß machen und sie zum Lachen bringen wollte, und obwohl ihr eine Träne über die Wange lief, tätschelte sie seine Hand und sagte: »Na ja, wenn du dich auf etwas verstehst, Alexander, dann darauf, wie man nett zu Damen ist.«

Morgens um sieben, als Alexander gerade zum Jachthafen aufbrechen wollte, sagte er zu Tatiana: »Komm doch um kurz vor zehn vorbei. Da machen wir die Morgentour.« Er hob Anthony hoch, der noch im Schlafanzug war. »Hey Kumpel, ich nehme dich mit aufs Boot. Du wirst mein Steuermann.«

Anthony strahlte. »Wirklich?« Dann sah er plötzlich betrübt aus. »Aber ich kann nicht mitkommen, Dad.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß doch gar nicht, wie man ein Boot steuert.«

»Das weiß ich auch nicht, also geht es uns gleich.«

»Soll ich auch mitkommen?«, fragte Tatiana.

»Nein. Du gehst die zwei Kilometer zum Laden, kaufst ein und machst die Wäsche. Oder du legst dich in die Sonne.« Er lächelte. »Mach, worauf du Lust hast. Aber komm ihn um halb eins abholen. Dann können wir zusammen Mittag essen, bevor ich um zwei wieder raus muss.«

Tatiana küsste ihn auf den Mund.

Er nahm Anthony mit. Was für ein Glück, was für eine Freude für das Kind. Tatiana erledigte die Wäsche, kaufte Lebensmittel, ein kubanisches Kochbuch, Sandwichfleisch und Kartoffelsalat und schob alles in einem neu erstandenen Holzwägelchen nach Hause. Sie öffnete alle Fenster, damit sie die Meeresluft riechen konnte, während sie das Mittagessen zubereitete. Das Poco Allegretto aus Brahms Dritter Symphonie kam im Radio, die Streichinstrumente erfüllten das ganze Boot. Tatiana liebte dieses Stück. Sie hatte es auch auf Deer Isle gehört.

Als sie fertig war, lief sie durch den Memorial Park, um ihren beiden Männern das Mittagessen zu bringen.

Anthony war offenbar ein Volltreffer auf dem Boot. »Er war so damit beschäftigt, neue Freundschaften zu schließen«, sagte Alexander, »dass er ganz vergessen hat, seinem Dad beim Steuern zu helfen. Und glaub mir, ich hätte seine Hilfe gebraucht. Na, macht nichts, Kumpel. Vielleicht morgen?«

»Kann ich denn morgen wieder...