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Krähenmädchen - Psychothriller

Erik Axl Sund

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641141660 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Thorildsplan

Jeanette spürte, wie das Lenkrad nach rechts zog, und sie musste kräftig gegensteuern, um weiter geradeaus fahren zu können. Den letzten Kilometer legte sie mit Tempo sechzig zurück, und als sie an der U-Bahn-Station am Drottningholmsvägen einbog, ahnte sie, dass das fünfzehn Jahre alte Auto nun wohl endgültig den Geist aufgeben würde.

Sie stellte den Wagen ab und ging zu der Absperrung hinüber, wo sie Hurtig entdeckte: einen Kopf größer als alle anderen, skandinavisch blond, kräftig, aber nicht dick.

Nach fast vierjähriger Zusammenarbeit hatte Jeanette gelernt, seine Körpersprache zu deuten. Er sah beunruhigt aus, fast schon gequält. Doch als er sie sah, hellte sich seine Miene auf, er kam ihr entgegen und hielt das Absperrband hoch, damit sie darunter durchgehen konnte.

»Dein Auto hat es also noch geschafft, wie ich sehe.« Er grinste. »Ich verstehe nicht, wie du es immer noch mit dieser alten Schüssel aushältst.«

»Ich auch nicht. Verschaff mir eine Gehaltserhöhung, und ich kauf mir ein kleines Mercedes-Cabrio, in dem ich dann durch die Gegend kutschieren kann.«

Wenn Åke nur einen anständigen Job mit anständiger Bezahlung hätte, könnte sie sich auch ein anständiges Auto leisten, dachte sie, während sie Hurtig auf das abgesperrte Gelände folgte.

»Haben wir Reifenspuren?«, fragte sie eine der zwei Kriminaltechnikerinnen, die in der Hocke auf dem Kiesweg saßen.

»Ja, und zwar gleich mehrere verschiedene«, antwortete die eine und blickte auf. »Einige stammen vermutlich von den Reinigungsfahrzeugen, mit denen sie hier herumfahren, wenn sie die Papierkörbe leeren. Aber ein paar stammen auch von schmaleren Reifen.«

Mit ihrem Eintreffen am Tatort war Jeanette die ranghöchste Polizistin vor Ort und damit offiziell für die Untersuchung verantwortlich.

Am Abend würde sie ihrem Vorgesetzten, Polizeichef Dennis Billing, Bericht erstatten, und dieser wiederum würde Staatsanwalt von Kwist informieren. Gemeinsam würden die beiden Männer unabhängig von Jeanettes Meinung über das weitere Vorgehen entscheiden. So sah es die Hierarchie nun mal vor.

Jeanette wandte sich an Hurtig. »Okay, schieß los. Wer hat ihn gefunden?«

Hurtig zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht.«

»Wie – das wissen wir nicht?«

»Die Zentrale hat einen anonymen Anruf bekommen, vor …« – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – »vor knapp drei Stunden. Der Anrufer hat nur gesagt, dass hier am Eingang zur U-Bahn ein toter Junge liegt. Das war alles.«

»Aber das Gespräch wurde doch aufgezeichnet, oder?«

»Natürlich.«

»Und warum hat es so lange gedauert, bis wir benachrichtigt wurden?« Jeanette spürte erneut einen Anflug von Gereiztheit.

»In der Notrufzentrale dachten sie im ersten Moment, dass das Ganze ein Scherz wäre, weil der Anrufer betrunken klang. Er hatte eine undeutliche Aussprache, und … Wie haben sie es formuliert? Er klang nicht glaubwürdig.«

»Haben sie den Anruf zurückverfolgt?«

Hurtig verdrehte die Augen. »Eine nicht registrierte Prepaidkarte.«

»Scheiße.«

»Aber wir sollten bald Bescheid bekommen, von wo aus der Anruf kam.«

»Gut. Wenn wir zurück im Präsidium sind, hören wir uns die Aufnahme gleich an.«

Jeanette ging von einem Kollegen zum anderen, ließ sich über den Stand der Dinge informieren und darüber, ob jemand irgendetwas Interessantes gefunden hatte.

»Was ist mit Zeugen? Hat jemand was gehört oder gesehen?«

Sie sah sich auffordernd um, aber die rangniederen Polizisten schüttelten nur die Köpfe.

»Irgendjemand muss den Jungen doch hierhergefahren haben«, versuchte es Jeanette erneut. Sie wusste, dass ihre Arbeit wesentlich erschwert würde, wenn sie nicht in den nächsten Stunden zumindest ein paar Spuren fänden. »Mit einer Leiche nimmt man wohl kaum die U-Bahn. Ich will trotzdem Kopien von den Aufnahmen der Überwachungskameras.«

Hurtig stellte sich neben sie. »Ich hab schon jemanden damit beauftragt. Heute Abend sind die Aufnahmen da.«

»Gut. Da die Leiche wahrscheinlich mit einem Auto hierhertransportiert wurde, hätte ich gern eine Liste von allen, die in den letzten Tagen die Mautstellen passiert haben.«

»Selbstverständlich«, antwortete Hurtig, zückte sein Handy und trat ein Stückchen beiseite. »Ich sorge dafür, dass wir die so schnell wie möglich kriegen.«

»Sekunde, ich bin noch nicht fertig. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass der Körper getragen oder mit einem Lastenfahrrad oder so hierhertransportiert wurde. Frag mal bei der Hochschule nach, ob die dort Überwachungskameras haben.«

Hurtig nickte und stapfte davon.

Jeanette seufzte und wandte sich an die Kriminaltechnikerin, die den Boden um das Gebüsch absuchte. »Irgendwas Auffälliges?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Es gibt natürlich Fußspuren, und wir sichern ein paar von den besten Abdrücken. Aber ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen.«

Langsam näherte sich Jeanette dem Busch, unter dem man die Leiche in einem schwarzen Müllsack gefunden hatte. Der Junge war nackt. Sein Körper war in gehockter Position mit um die Knie geschlungenen Armen erstarrt. Seine Hände waren mit silberfarbenem Klebeband gefesselt. Seine Gesichtshaut hatte eine gelbbraune Tönung und eine ledrige Struktur angenommen, die an Pergament erinnerte. Seine Hände hingegen waren fast schwarz.

»Irgendwelche Anzeichen von sexueller Gewalt?« Sie wandte sich an Ivo Andri?, der vor ihr in die Hocke gegangen war.

»Das kann ich noch nicht sagen. Aber es ist nicht auszuschließen. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber es wäre ungewöhnlich bei dieser Art von schweren Verletzungen, wenn es nicht auch zu sexueller Gewalt gekommen wäre.«

Jeanette nickte.

Die Polizei hatte versucht, den Tatort mit Gittern und Planen abzusperren, so gut es ging, doch das Gelände war hügelig, sodass man es von oben einsehen konnte, wenn man nur ein Stückchen weiterging. Mehrere Fotografen mit langen Teleobjektiven liefen außerhalb der Absperrung herum, und Jeanette hatte fast schon Mitleid mit ihnen. Sie lebten vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Polizeifunk, lauerten und warteten nur darauf, dass irgendetwas Spektakuläres passierte.

Journalisten sah sie jedoch nicht. Die Zeitungen konnten es sich wohl nicht mehr leisten, für derlei Vorkommnisse Leute abzustellen.

»Himmel, Andri?«, sagte einer der Polizisten und schüttelte den Kopf. »Wie ist denn so was möglich?«

Die Leiche war größtenteils mumifiziert, woraus Ivo Andri? den Schluss zog, dass sie lange an einem sehr trockenen Ort aufbewahrt worden sein musste und daher nicht im matschigen Stockholmer Winter im Freien gelegen haben konnte.

»Tja, Schwarz«, antwortete er und blickte auf. »Wir werden versuchen, genau das herauszufinden.«

»Verdammt, Mann, der Junge ist doch mumifiziert! Wie so’n Scheißpharao! So was passiert doch nicht während der Kaffeepause! Auf Discovery hab ich mal gesehen, wie sie diesen Kerl untersucht haben, der in den Alpen gefunden wurde, Ötzi oder wie immer der hieß.«

Ivo Andri? nickte zustimmend.

»Und den, den sie irgendwo im Süden im Sumpf gefunden haben.«

»Den Bockstensmann meinst du.« Allmählich ging ihm Schwarz’ Geschwätz auf die Nerven. »Aber jetzt musst du mich ein bisschen arbeiten lassen, sonst kommen wir hier nicht weiter«, sagte er, bereute es aber bereits im nächsten Moment, den Kollegen so abgefertigt zu haben.

»Könnte schwierig werden«, fuhr Schwarz fort. »Du weißt ja selbst, so eine Rabatte ist voll Hundescheiße und Müll. Und selbst wenn ein Teil der Abfälle vom Täter stammen sollte – woher sollen wir denn wissen, welche das sind? Genau wie bei den Fußabdrücken.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Er sah besorgt aus.

Ivo Andri? war hart im Nehmen und hatte schon viele schreckliche Dinge mit ansehen müssen, aber so etwas hatte er in seiner ganzen langen, wechselvollen Karriere noch nicht zu Gesicht bekommen.

An den Armen und am Rumpf hatte der Junge Hunderte von Malen, die sich härter anfühlten als das umliegende Gewebe, was bedeutete, dass er zu Lebzeiten unzählige Schläge abbekommen haben musste. Nach den Knöcheln zu urteilen hatte er allerdings nicht nur eingesteckt, sondern auch ganz beachtlich ausgeteilt.

So weit war alles klar.

Doch auf dem Rücken des Jungen befand sich überdies eine Menge tiefer Wunden, die aussahen, als stammten sie von einer Peitsche.

Ivo Andri? versuchte, sich vorzustellen, was hier geschehen war. Ein Junge kämpft um sein Leben, und als er nicht mehr kämpfen will, peitscht ihn jemand aus. Er wusste, dass in den Stadtvierteln mit einer hohen Einwandererdichte illegale Hundekämpfe veranstaltet wurden. Hierbei mochte es sich um etwas Vergleichbares gehandelt haben – mit dem entscheidenden Unterschied, dass dabei keine Hunde um ihr Leben kämpften, sondern kleine Jungs.

Zumindest einer von ihnen war ein kleiner Junge gewesen.

Darüber, wer sein Gegner gewesen sein mochte, ließ sich lediglich spekulieren.

Und dann die Tatsache, dass er nicht gestorben war, als er eigentlich längst hätte tot sein müssen. Die Obduktion würde hoffentlich weitere Aufschlüsse über Rückstände von Drogen oder chemischen...