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Die Lügen des Locke Lamora - Band 1 - Roman

Scott Lynch

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641147105 , 848 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

Kapitel Eins


Das Don Salvara-Spiel


1


Locke Lamoras Faustregel lautete folgendermaßen – ein gelungener Schwindel erforderte drei Monate Planung, drei Wochen, um ihn einzustudieren, und zum Schluss drei Sekunden, in denen sich entschied, ob man das Vertrauen seines Opfers gewann oder für immer verspielt hatte. Bei seinem jüngsten Trick wollte er sich drei Sekunden lang erwürgen lassen.

Locke lag auf den Knien; Calo, der hinter ihm stand, hatte einen Hanfstrick dreimal um seinen Hals gewickelt. Das grobe Seil sah beeindruckend aus, und es würde auf Lockes Hals eine äußerst überzeugende rote Spur hinterlassen. Allerdings benutzte kein echter Meuchelmörder aus Camorr, der alt genug war, um allein laufen zu können, etwas anderes als Seide oder Draht für eine Schlinge (das beste Material, um die Luftröhre abzuschnüren), sinnierte Locke. Doch wenn Don Lorenzo Salvara imstande wäre, spontan und auf dreißig Schritt Entfernung eine vorgetäuschte Erdrosselung von einer richtigen Attacke zu unterscheiden, hätten sie den Mann, den sie auszurauben gedachten, völlig falsch eingeschätzt, und das ganze Unterfangen würde ohnehin abgeblasen.

»Kannst du ihn schon sehen? Oder Bugs Zeichen?«, zischte Locke kaum hörbar und gab dann ein paar wirkungsvolle gurgelnde Laute von sich.

»Kein Zeichen. Kein Don Salvara. Kannst du atmen?«

»Es ist alles in Butter«, wisperte Locke, »aber schüttel mich noch ein bisschen, richtig fest dieses Mal. So was zieht immer.«

Sie befanden sich in der Sackgasse neben dem alten Tempel der Glück verheißenden Wasser; man konnte hören, wie hinter der hohen Stuckmauer die Gebetswasserfälle des Tempels rauschten. Abermals krallte Locke die Finger in die harmlosen Windungen des Stricks, die sich um seinen Hals ringelten, und schielte flüchtig zu dem Pferd hin, das schwer bepackt mit diversen Handelsgütern in seiner Nähe stand und ihn anstarrte. Das arme Tier war Gebrochen; in den milchweißen, blicklosen Augen lag nicht der geringste Ausdruck, weder Neugier noch Furcht. Es hätte nicht einmal reagiert, wenn direkt vor seiner Nase tatsächlich ein Gewaltverbrechen stattgefunden hätte.

Kostbare Sekunden verstrichen; die hochstehende Sonne hatte die Wolken verdampft und brannte nun von einem blanken Himmel, und der Straßenschmutz klebte wie nasser Zement an Lockes Hosenbeinen. Unweit lag Jean Tannen ebenfalls im Dreck, derweil Galdo (im Wesentlichen) so tat, als träte er ihm die Rippen ein. Seit mindestens einer Minute traktierte er ihn munter mit den Füßen, während sein Zwillingsbruder gleichzeitig dabei war, Locke zu erwürgen.

Jeden Moment musste Don Salvara am Eingang der Gasse auftauchen und – hoffentlich – Locke und Jean zu Hilfe eilen und ihre Angreifer in die Flucht schlagen. Aber bei dem Tempo, das er anschlug, würden sie vorher vor Langeweile sterben.

»Oh ihr Götter«, flüsterte Calo und brachte seinen Mund dicht an Lockes Ohr heran, als fauche er ihm einen Befehl zu. »Wo zum Henker bleibt dieser verfluchte Salvara? Und wo steckt Bug? Wir können diese Schau nicht den ganzen Tag lang abziehen; ab und an kommen nämlich auch andere Leute hier vorbei!«

»Drück mir weiter die Kehle zu«, krächzte Locke. »Denk einfach an die zwanzigtausend Kronen und würge mich. Ich kann den ganzen Tag lang die Luft anhalten, wenn es sein muss.«

2


Alles war hervorragend gelaufen, als sie an diesem Morgen den Trick vorbereiteten, und das trotz der nervösen Gereiztheit eines jungen Diebes, der zum ersten Mal bei einem großen Coup mitmachen durfte.

»Natürlich weiß ich, wo ich mich aufhalten muss, wenn der verdammte Tanz losgeht«, quengelte Bug. »Ich habe mehr Zeit auf diesem scheiß Tempeldach verbracht als im Bauch meiner Mutter!«

Jean Tannen tunkte seine rechte Hand in das warme Wasser des Kanals, während er den säuerlichen Sumpfapfel mampfte, den er in der Linken hielt. Das vordere Dollbord des Plattbodenboots eignete sich hervorragend dazu, um sich im frühen Morgenlicht, das rötlich schimmerte wie verwässerter Wein, zu entspannen. Der Platz reichte bequem, um Jean mit seinen über hundert Kilogramm Körpergewicht aufzunehmen – lässig ausgestreckt lag er da mit seiner dicken Wampe, den wulstigen Armen und den O-Beinen. Außer ihm befand sich nur noch eine weitere Person in dem Kahn (und leistete die gesamte Arbeit); es war Bug, ein schlaksiger, zwölfjähriger Junge mit einem strubbeligen Haarschopf, der eine lange Stange, einen Staken, im Heck umklammerte.

»Deine Mutter war verständlicherweise in Eile, dich loszuwerden, Bug.« Jeans Stimme hatte einen sanften, gleichmäßigen Klang, der ganz und gar nicht zu seinem Äußeren passte; er sprach wie ein Musiklehrer oder ein Kopist von Schriftrollen. »Wir sind es nicht. Also erfreue mich noch einmal mit dem Beweis, dass du unser Spiel auch wirklich verstanden hast.«

»Verdammt noch mal!«, schäumte Bug und steuerte den Kahn gegen die schwache Strömung des seewärts fließenden Kanals. »Du und Locke und Calo und Galdo seid unten in der Gasse zwischen den Glück verheißenden Wassern und den Gärten des Nara-Tempels, stimmt’s? Ich hocke auf dem Dach des gegenüberliegenden Tempels.«

»Weiter«, forderte Jean ihn mit vollem Mund auf. »Wo steckt Don Salvara?«

Lastkähne, schwer beladen mit jeder nur erdenklichen Fracht, von Bierfässern bis zu brüllenden Kühen, glitten auf dem lehmfarbenen Wasser des Kanals an ihnen vorbei. Bug stakte sie nordwärts auf dem für den Handel wichtigsten Wasserweg Camorrs, der Via Camorrazza, hin zum Schwimmenden Markt, und rings um sie her erwachte die Stadt aus ihrer Schlaftrunkenheit.

Die windschiefen Mietskasernen aus grauem, vom Wasser glitschigen Stein spien ihre Bewohner hinaus in den Sonnenschein und die sommerliche Wärme. Man schrieb den Monat Parthis, und das bedeutete, dass das nächtens ausgeschwitzte Kondenswasser, welches bereits in dichten Nebelschwaden aus den erhitzten Mauern entwich, bedauerlicherweise bis zum frühen Nachmittag unter den weißglühenden Strahlen der Sonne verdampft sein würde.

»Gegen Mittag kommt er aus dem Tempel der Glück verheißenden Wasser, wie er es an jedem Tag der Buße zu tun pflegt. Er hat zwei Pferde bei sich und einen Begleiter – wenn wir Glück haben.«

»Ein merkwürdiges Ritual«, flocht Jean ein. »Warum unterwirft er sich diesem Zwang?«

»Er hat es seiner sterbenden Mutter versprochen.« Bug tauchte den Staken in den Kanal, stemmte sich mit aller Kraft dagegen und trieb sie ein weiteres Stück voran. »Nachdem sie den alten Don Salvara heiratete, übte sie weiterhin die Vadran-Religion aus. Deshalb bringt er einmal pro Woche eine Opfergabe in den Vadran-Tempel und geht dann so schnell wie möglich wieder nach Hause, damit niemand ihm zu viel Beachtung schenkt. Verdammt noch mal, Jean, ich kenne diesen ganzen Mist auswendig. Was mache ich überhaupt hier, wenn du so wenig Vertrauen zu mir hast? Und wieso muss ich ganz allein diesen blöden Pott den ganzen Weg bis zum Markt staken?«

»Ach, du kannst jederzeit mit Staken aufhören, sobald du mich bei einem Ringkampf über fünf Runden dreimal besiegt hast.« Jean grinste und bleckte sein lückenhaftes Gebiss, das von seiner regen Teilnahme an Prügeleien zeugte; sein Gesicht sah aus, als hätte es jemand auf einen Amboss gelegt und versucht, es in eine etwas gefälligere Form zu hämmern. »Außerdem bist du Lehrling eines stolzen Gewerbes, wirst von den besten und anspruchsvollsten Meistern dieses Metiers unterwiesen. Dass man dir die Drecksarbeit zuschustert, ist gut für deine moralische Erziehung.«

»Du hast mir keine scheiß moralische Erziehung geboten.«

»Recht hast du. Nun, das mag daran liegen, dass Locke und ich seit vielen Jahren auf eigene Faust arbeiten und unseresgleichen tunlichst aus dem Weg gegangen sind. Aber wenn du unbedingt wissen willst, warum wir den Plan immer und immer wieder durchkauen, dann lass dir gesagt sein, dass ein winzigkleiner Fehler genügt, und uns blüht ein Schicksal, gegen das der Tod noch harmlos erscheint.«

Jean deutete auf einen der städtischen Jauchewagen, der auf einem längs des Kanals verlaufenden Boulevard anhielt, um den mächtigen dunklen Schwall von in der Nacht angefallenen Fäkalien aufzunehmen, der sich aus dem oberen Fenster einer Bierschänke ergoss. Diese Wagen wurden von Kleinkriminellen bedient, deren Vergehen zu gering waren, um sie ständig im Palast der Toleranz einzukerkern; an ihre Karren gekettet und eingehüllt in angeblich ihrem Schutz dienende lange Lederponchos ließ man sie jeden Morgen nach draußen, damit sie ein bisschen die Sonne genießen konnten, wenn sie nicht gerade das mangelhafte Zielvermögen verfluchten, mit dem mehrere Tausend Camorri ihre Nachttöpfe leerten.

»Ich werde schon keinen Mist bauen, Jean.« Bug durchforstete seinen Geist wie jemand, der in einem leeren Geldbeutel kramt, auf der fieberhaften Suche nach ein paar guten Sätzen, die ihn ebenso ruhig und selbstsicher erscheinen lassen sollten, wie seiner Auffassung nach die älteren Gentlemen-Ganoven stets auftraten. Doch bei den meisten Zwölfjährigen ist das Mundwerk nun mal größer als der Verstand. »Ganz bestimmt nicht! Das verspreche ich dir!«

»Braver Junge«, lobte Jean. »Das freut mich zu hören. Und nun verrate mir, was genau du nicht zu verbocken gedenkst.«

Bug seufzte. »Ich gebe das Zeichen, wenn Salvara den Tempel der Glück verheißenden Wasser verlässt. Ich halte Ausschau nach Personen, die an der Gasse vorbeikommen könnten, vor allen Dingen achte ich auf die Stadtwache. Wenn jemand auftaucht, springe ich flugs vom Tempeldach herunter und schlage ihm mir nichts,...