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Everflame 1. Feuerprobe

Josephine Angelini

 

Verlag Dressler Verlag GmbH, 2014

ISBN 9783862720095 , 928 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1


Schon auf dem Weg zur Mädchentoilette raffte Lily Proctor ihre widerspenstigen Haare zusammen. Mit tränenverschleierten Augen steuerte sie eine der Toiletten an und übergab sich, bis ihr Magen leer war und sie am ganzen Körper zitterte.

Lily hatte schon den ganzen Tag schlimme Beschwerden gehabt, aber eher wäre sie nackt durch die Schule gerannt, als sich nach Hause schicken zu lassen. Tristan würde sie am Abend ganz bestimmt nicht zur Party mitnehmen, wenn er erfuhr, dass sie wieder einen ihrer Monster-Anfälle hatte, und Lily durfte diese Party auf keinen Fall verpassen. Nicht jetzt. Nicht, nachdem sich die Dinge zwischen ihnen beiden gerade erst auf so wundervolle Weise geändert hatten.

Tristan Corey war schon sein ganzes Leben lang Lilys bester Freund. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Zeltstädte aus der frisch gewaschenen Bettwäsche seiner Mutter und Raumstationen aus Sofakissen gebaut. Natürlich wusste Lily, dass die meisten Sandkastenfreundschaften irgendwann in die Brüche gingen. Manche Kids fanden heraus, wie man cool war, während andere die gesamte Highschoolzeit als triefnasige Freaks verbrachten. Aber eines musste man Tristan lassen, egal, wie beliebt er im Laufe der Jahre wurde oder wie sehr die anderen Lily wegen ihrer immer schlimmer werdenden Allergien und der peinlichen Gerüchte über ihre Mutter mieden: Er blieb ihrem Kleinfingerschwur treu, dass sie ein Leben lang beste Freunde sein würden. Er versuchte auch nie zu verbergen, wie nah sie sich standen, oder so zu tun, als wäre Lily ihm gleichgültig, nur weil die anderen Kids sie für seltsam hielten. Der einzige Grund, wieso er sie nie auf Partys mitnahm, war die Tatsache, dass dort viele rauchten, und damit wurde Lilys Lunge nicht fertig.

Zumindest sagte Tristan, dass es so wäre. Doch da Lily noch auf keiner dieser Partys gewesen war, konnte sie es nicht widerlegen. Allerdings hatte sie den leisen Verdacht, dass Tristan sie nicht mitnahm, weil er sich lieber mit irgendeinem Mädchen amüsieren wollte. Oder mit mehreren Mädchen.

In ihrer Abschlussklasse wussten alle, dass Tristan der heißeste Typ in Salem, Massachusetts, war. In seinem ersten Highschooljahr war er nach den Sommerferien dreißig Zentimeter größer aus dem Baseballcamp gekommen, und als er dann noch ein Date mit einer Schülerin der Abschlussklasse klargemacht hatte, wurde er endgültig zur Legende. Seitdem reichten ihn die Mädchen – und Frauen – von Salem herum wie ein Tablett in der Schulkantine. Lilys Pech war nur, dass sie schon in Tristan verliebt war, seit sie wusste, dass es einen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen gibt – und das war lange bevor er mit der Testosteronrakete Kurs auf die Männlichkeit nahm. Und sie hatte darunter schwer zu leiden.

Jahrelang hatte Lily so getan, als wäre es okay für sie, nur eine Art bester Kumpel für ihn zu sein. Sie hatten alltägliche Dinge zusammen gemacht – Fahrstunden nehmen, shoppen gehen, lernen –, bis dann unweigerlich irgendein Mädchen anrief und er verschwand. Lily hatte ihm nie gestanden, wie es sie jedes Mal fertigmachte, seine erwartungsvoll geröteten Wangen oder das gierige Funkeln in seinen blauen Augen zu sehen, wenn er sie zum Abschied kurz und beiläufig drückte und dann losdüste, um sich mit seiner neuesten Eroberung zu treffen. Tristan hatte sie nie auf diese Weise angesehen. Und während sie über der Toilette hing und würgte, musste Lily zugeben, dass sie gut verstehen konnte, wieso es so lange gedauert hatte, bis er sie endlich geküsst hatte.

Es war vollkommen unerwartet passiert. Sie hatten zusammen ferngesehen und Lily war auf seinem Bein eingeschlafen, wie schon tausendmal zuvor. Als sie die Augen wieder aufschlug, starrte er irgendwie verblüfft auf sie herab. Und dann küsste er sie.

Das war vor drei Tagen gewesen. Lily fing auch jetzt noch an zu zittern, wenn sie nur daran dachte. Einen Moment lang hatte sie geschlafen, und im nächsten Moment war Tristan über ihr – küsste sie, streichelte sie und schmiegte sich an sie. Dann hatte er sich plötzlich zurückgezogen und gesagt, dass es ihm leidtäte. Aber Lily tat es kein bisschen leid, und sie wollte auch nicht, dass er sich dafür schämte.

Sie hatten kein Wort darüber verloren, aber am nächsten Morgen hatte er in der Schule ihre Hand gehalten. Er hatte ihr vor dem Training sogar vor den Augen seiner Mannschaftskameraden ein Küsschen gegeben. Lily hatte noch nie einen festen Freund gehabt und keine Ahnung, wie so etwas ablief, aber sie war überzeugt, dass Tristan allen klarmachen würde, dass sie offiziell zusammen waren, wenn er sie heute Abend zu dieser Party mitnahm. Und deshalb war es Lily vollkommen egal, ob sie Galle spuckte. Sie würde auf diese Party gehen, auch wenn es sie umbrachte.

Als von ihrem veganen Mittagessen alles draußen war, taumelte Lily zu einem der Waschbecken, um sich den Mund auszuspülen.

Ein Blick in den Spiegel reichte, um sie aufstöhnen zu lassen. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte. Ihre alabasterweiße Haut war so stark gerötet, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Rote Streifen breiteten sich wie Peitschenstriemen über ihre knochigen Schlüsselbeine aus und ihre grünen Augen glänzten fiebrig. In Gedanken überflog sie alles, was sie an diesem Tag gegessen hatte, doch es gab nichts, das eine so heftige Reaktion erklären würde. Ihre Allergie musste durch etwas ausgelöst worden sein, das sie nicht sehen konnte, zum Beispiel die Chemikalien, mit denen die Schule gereinigt wurde, aber auch das war nur eine Vermutung.

Lily drehte ihre schweißfeuchten roten Locken zusammen und steckte den unordentlichen Dutt mit einem Bleistift am Hinterkopf fest. Sie streifte ihr »Rettet die Wale«-T-Shirt über den Kopf, beugte sich nur im BH über das Waschbecken und versuchte, den lauwarmen Wasserstrahl kühler zu bekommen, indem sie mit den Fingerspitzen auf den Wasserhahn trommelte. Dann spritzte sie das Wasser, das immer noch nicht kühl genug war, auf den leuchtend roten Ausschlag, der sich wie eine heiße Flut über ihren hyperallergischen Körper ausbreitete.

Die Schulglocke läutete zum Ende der Mittagspause, und Lily blieb keine andere Wahl, als in ihre Tasche mit den vielen Notfallmedikamenten zu greifen. Sie schob die schnell wirkenden Steroidtabletten und den Inhalator zur Seite und griff zielstrebig nach dem Epi-Pen. Sie nahm die grüne Kappe von der sterilen Plastikröhre und stach mit der Spitze durch die Jeans in ihren Oberschenkel. Es tat so weh, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste.

Eigentlich sollte sie den Epi-Pen nur in einer lebensbedrohlichen Situation benutzen, aber da sie nicht wusste, was diesen Anfall ausgelöst hatte, war Vorsicht wohl besser als Nachsicht. Als der Medikamentencocktail aus dem Epi-Pen ihr System überschwemmte, gingen die Symptome sofort zurück. Ihre Augen hörten auf zu tränen und sie konnte wieder klar sehen. Sie begann heftig zu zittern, als das Adrenalin aus dem Injektor zu wirken begann, und merkte erst da, dass ihr gesamter Oberkörper nass war. Mit zittrigen Händen tupfte sie das Gröbste mit ein paar Papiertüchern ab, und als sie ihr T-Shirt wieder anzog, läutete die Schulglocke den Beginn der nächsten Stunde ein.

Lily rannte aus dem Waschraum, die Treppe hoch und hetzte dann durch den fast menschenleeren Flur zum Klassenzimmer von Mr Carnello, der gerade die Tür schließen wollte.

»Tut mir leid«, schnaufte sie und huschte an ihm vorbei.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Mr Carnello. Er warf einen Blick auf Lilys T-Shirt und schaute dann schnell wieder weg.

»Ja, klar. Ich hatte nur … so eine Sache«, murmelte sie und eilte auf ihren Platz.

Tristan, der am selben Labortisch saß, blickte auf, als sie kam, und runzelte die Stirn. Beim Hinsetzen bemerkte Lily, dass ein paar der anderen sie ganz komisch ansahen. Sie versuchte, ihnen freundlich zuzulächeln, aber jeder von ihnen wendete den Blick ab und konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Lily«, zischte Tristan.

»Was?«, zischte sie zurück.

»Wieso ist dein Busen nass?«

»Mein was?« Lily sah an sich herab und musste feststellen, dass ihr weißes T-Shirt durchsichtig geworden war, wo es mit dem nassen BH in Berührung gekommen war. Verlegen verschränkte sie hastig die Arme vor der Brust. In der Ecke konnte sie ein paar Jungs kichern hören und sah, wie Tristan herumfuhr und sie mit einem strafenden Blick zum Schweigen brachte.

»Brauchen Sie einen Moment, um sich zu sammeln, Miss Proctor?«, fragte Mr Carnello freundlich.

»Nein, danke. Alles in Ordnung«, antwortete Tristan für Lily und zog sich den Pullover über den Kopf.

Dabei rutschte das T-Shirt hoch, das er darunter trug, und ein paar der Mädchen fingen angesichts der definierten Muskeln und der samtigen Haut sofort an, aufgeregt zu tuscheln. Doch Tristan half Lily in seinen Pulli, als würde er nichts davon merken, was er vermutlich auch nicht tat, denn er war längst daran gewöhnt, dass die meisten Mädchen schon ausflippten, wenn er nur an ihnen vorbeiging. Aber Lily hörte es, und dass sie diese Mädchen nicht auf der Stelle erwürgen durfte, ließ ihr Gesicht noch mehr glühen.

»Hast du Fieber?«, fragte er.

»Ich hab immer Fieber«, antwortete Lily mürrisch, was der Wahrheit entsprach, wie sie beide wussten.

Lilys Körpertemperatur war immer hoch – um die 39 Grad an normalen Tagen. An schlechten Tagen waren es bis zu 44 Grad. Die Ärzte hatten keine Ahnung, wie sie ihre schlimmeren Anfälle überlebte, aber andererseits hatten sie ohnehin wenig Ahnung von den Dingen, die mit Lily...