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Euer Traum war meine Hölle - Als Kind misshandelt und missbraucht in einer Sekte

Natacha Tormey

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783838758633 , 285 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

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1. Kapitel


Stern und Mondschein


Es war jener Jahrhundertsommer des Jahres 1976 mit der größten Hitzewelle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Europa. Der Kalte Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der kommunistischen Welt befand sich auf dem Höhepunkt. Das daraus resultierende Wettrüsten beherrschte die Nachrichten, und die allgegenwärtige Drohung eines Atomkrieges hielt sogar uns Kinder nachts wach. Im Radio liefen die Bohemian Rhapsody der Gruppe Queen, Abbas Dancing Queen und A Kind of Hush von den Carpenters. Die wahnsinnig populären Beatles wurden in Indien mit Turban auf dem Kopf fotografiert, und die in den späten 1960ern aufgekommene Gegenkultur der Hippies verlor gegenüber Disko und Glamrock allmählich an Boden. Allerdings nicht ehe die Hippie-Ideale weltweit noch Hunderttausende Jugendlicher aufwühlten, die sich verzweifelt danach sehnten, die Fesseln ihrer Nachkriegs-Elterngeneration abzuschütteln.

Vor diesem Hintergrund lebte in der schönen Künstlerstadt Paris ein gut aussehender Zwanzigjähriger namens Marcel gemeinsam mit mehreren anderen jungen Hippies in einem Haus. Die Hausgenossen waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus sämtlichen Teilen der Welt und von unterschiedlichster Herkunft. Gemeinsam war ihnen der Hass aufs Althergebrachte, der Wunsch, sich nicht für seinen Lebensunterhalt abrackern zu müssen sowie der inbrünstige Glaube an Jesus. Sie verbrachten ihre Tage in einem euphorischen Nebel aus Gitarrengeschrammel, Tamburingeschüttel, dem Singen von Folksongs oder indem sie die Pariser Straßen abklapperten, um andere für ihren Glauben zu gewinnen.

An jenem Nachmittag war Marcel die Seine entlanggeschlendert und hatte versucht, radikale christliche Pamphlete loszuschlagen, die die vorübereilenden Passanten vor dem Ende der Welt warnten. Der Antichrist – glaubte Marcel – war überall und aufs Emsigste damit beschäftigt, den Niedergang einer Menschheit zu planen, die zu verblendet war, dies zu erkennen. Marcels Warnungen waren daher aufrichtig und leidenschaftlich, doch für die schwitzenden, genervten Pendler in ihren Anzügen, denen es wichtiger war, nach einem langen Bürotag die nächste Metro zu erwischen, war er nur ein Spinner.

Am Ende des Tages hatte er bloß eine Handvoll seiner Pamphlete an den Mann gebracht und nur wenige Francs eingenommen. Und lediglich zehn Prozent davon durfte er behalten, um sich etwas zu essen zu kaufen, der Rest seiner Einnahmen ging an seinen Aufseher – eine Art Manager. Verzagt blickte er auf die Münzen in seiner Hand und gelangte zum Schluss, dass er, obwohl er sehr durstig war, nicht einmal genug besaß, um sich ein kaltes Getränk zu kaufen. Hol dir den Sieg, Marcel, hol dir den Sieg, feuerte er sich mit der üblichen Floskel, die die Kinder Gottes zur Motivation nutzen, selbst an, ehe er den nächsten Boulevard ansteuerte.

Als die Stoßzeit vorbei war und die Straßen sich leerten, sah er keinen Sinn mehr darin, länger zu bleiben, und machte sich in der Hoffnung, endlich ausruhen zu dürfen, auf den Heimweg. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Der Aufseher erwartete ihn bereits in der Diele. Ohne eine Miene zu verziehen, reichte der Mann Marcel ein schickes Hemd und eine Hose und befahl ihm, sein T-Shirt und seine rote Samtschlaghose abzulegen. Verdutzt tat Marcel, was man ihm sagte. Als Nächstes beorderte ihn der Aufseher in ein Nebenzimmer und befahl ihm, einen Bericht über all seine Erlebnisse des vergangenen Tages zu verfassen und auch alle bösen oder unreinen Gedanken niederzuschreiben, die im dabei durch den Kopf gegangen waren.

Zwei Stunden später hockte Marcel noch immer in diesem Zimmer und fragte sich, was das Ganze sollte. Er traute sich aber nicht, den Raum ohne Erlaubnis zu verlassen. Allmählich wurde er nervös.

Schließlich kehrte der Aufseher zurück. Mit steinerner Miene führte er Marcel in den großen Salon, wo all seine Hausgenossen in einem Kreis dastanden. Als sie ihn sahen, begannen sie zu jubeln und zu klatschen. Marcel fühlte sich zwar ungeheuer erleichtert – offenbar hatte er nichts Schlimmes zu befürchten –, doch was eigentlich los war, wusste er immer noch nicht.

Da trat eine bildschöne Frau mit strahlenden grünen Augen und in einem langem Baumwollkleid hinter den Hausbewohnern hervor. Ein Kranz aus Gänseblümchen saß auf ihrem Haar, das wie ein goldener Wasserfall bis zu ihrer Taille hinabfiel. Der Aufseher verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, klopfte Marcel auf den Rücken und verkündete das Programm des bevorstehenden Abends.

Marcel war mein Vater, Geneviève, die Frau mit den strahlend grünen Augen meine Mutter – und dieser Abend sollte ihre Hochzeit sein.

So begann – ohne jede Vorwarnung – ihr Leben zu zweit.

Das Haus, in dem Marcel lebte, gehörte den Children of God, den Kindern Gottes, einer evangelikalen christlichen Sekte, die sich später The Familiy of Love und The Family nannte. Meine Mutter, die zur Zeit ihrer Heirat achtzehn Jahre alt war, gehörte erst seit wenigen Monaten zur Gruppe. Mein Vater hatte sich ihnen bereits drei Jahre zuvor als Siebzehnjähriger angeschlossen.

Gründer und Chef der Gruppe war David Berg, Sohn eines evangelikalen Predigers aus Kalifornien. Die Kinder Gottes bekannten sich zum Christentum, bedienten sich aber auch aufs Großzügigste beim Anti-Establishment-Hippie-Zeitgeist mit seiner freien Liebe, ostwestlicher Spiritualität und Philosophie. Derart verquaste Mixturen waren damals absolut »in« und Berg nicht der einzige berühmte Guru, der in diesen Jahren seinen großen Auftritt hatte. Berg war, wie es erfolgreiche Gurus immer sind, ein charismatischer und beeindruckender Redner mit der Fähigkeit, andere zu überzeugen. Doch er war auch ein Sexualstraftäter, der es mochte, wenn ihm seine Jünger Videos von ihren Orgien schickten. Jesus, predigte er, sei ein Mann gewesen, der Sex geliebt habe, weswegen man sich seiner sexuellen Neigungen nicht zu schämen brauche.

Überall in Amerika und Europa ließen sich Zehntausende junger Hippies wie meine Eltern von den Kindern Gottes anwerben, da sie sich einbildeten, die Sekte stehe für ein übergeordnetes Wohl – für Liebe, Freiheit, Frieden und den Wunsch, die Welt zu retten.

Zwar ahnten meine Eltern es damals noch nicht, doch ihr Hochzeitstag sollte lediglich eine Kostprobe dafür sein, wie die Sekte fortfahren sollte, jeden einzelnen Aspekt ihres künftigen Lebens zu bestimmen. Genauso wie auch jede Facette des meinen.

* * * * * *

Als Fünfzehnjähriger, also fünf Jahre zuvor, hatte mein Vater entsetzt beobachtet, wie Männer in weißen Kitteln auf sein Elternhaus im ländlichen Frankreich zuschritten. Sie trugen die weißen Pflegerkittel der örtlichen Heilanstalt. Sein älterer Bruder Frédérique vermutete ganz richtig, dass sie seinetwegen gekommen waren, und versuchte, zur Hintertür zu laufen, doch dies hatten die Männer vorausgesehen. Als seine Mutter einigen von ihnen die Vordertür öffnete, lauerten andere bereits mit schlagbereiten Fäusten und Zwangsjacke am Hinterausgang auf ihr Opfer.

Mein Vater hat Frédériques angstvolle Schreie, als sie seinen Bruder grob in den Krankentransporter stießen und die Tür hinter ihm verriegelten, niemals vergessen können. Ebenso wenig wie die Resignation im versteinerten Gesicht seiner Mutter. Ihren Mann – seinen Vater – einen Alkoholiker, der meist zu betrunken war, um zu arbeiten, hatte seine Frau häufig in die gleiche Anstalt einliefern lassen, in die nun auch Frédérique geschafft wurde.

Marcel hatte seine Mutter damals regelmäßig begleitet, wenn sie den Vater besucht hatte, der jedoch meist so stark unter Beruhigungsmitteln stand, dass er nur lallte, oder aber mit breiten Schnallengurten ans Bett gefesselt war. Der Vater weinte dann und flehte seine Frau an, ihn mit nach Hause zu nehmen, und versprach ihr, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Marcel hoffte jedes Mal, dass die Mutter den Vater mitnehmen würde, und fürchtete sich gleichzeitig allein bei dem Gedanken an das Leben mit dem alkoholisierten Vater vor dessen Gewalttätigkeit und Ausrastern. Ihren Mann dort zu lassen war für die Mutter wohl die einzige Möglichkeit, sich und ihre sieben Kinder vor Schlägen und Erniedrigungen zu schützen. Das Geld allerdings war so knapp, dass es nur selten reichte, alle Familienmitglieder satt zu bekommen. Zweimal wurden die Kinder für eine gewisse Zeit in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht. Die Leute, zu denen mein Vater kam, waren derbe Bauern, die ihn bis zur Erschöpfung schuften und fast verhungern ließen und ihn schlugen, wenn er sich beklagte.

Trotz seiner harten Erziehung entpuppte sich der junge Marcel als der Intellektuelle der Familie, war gut in der Schule, und alle erwarteten, dass er es als Erster in der Familie vielleicht auf eine Universität schaffen würde. Frédérique hatte in dem Jahr, bevor er von den Männern in weißen Kitteln fortgeschafft worden war, als Metzgerlehrling gearbeitet, wo er zwei Finger bei der Arbeit am Fleischwolf verlor. Nach dem Unfall war Frédérique auf eine lange Reise gegangen und durch Frankreich, Italien und die Schweiz getrampt. Zurück kam er mit wilden Geschichten über die Hippiekommunen, in denen er unterwegs übernachtet hatte. Er hatte einige Zeit bei den Hare-Krishna-Leuten und in einem Kinder-Gottes-Haus in der Schweiz verbracht. Zwar hatte ihm das Leben in einer Kommune auf Dauer nicht zugesagt, doch es mal ausprobiert zu haben, wollte er gewiss nicht missen. So manchen Abend unterhielt Frédérique seinen jüngeren Bruder mit seinen Abenteuern.

Der heranwachsende Marcel aber...