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Morden im hohen Norden - Krimis

Jürgen Alberts

 

Verlag Heyne, 2008

ISBN 9783894804084 , 303 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

Gabriel saß an seinem Mahagonischreibtisch. Seine Mutter hasste den Gedanken, dass das Holz einen Kratzer bekommen könnte. Gabriel war eher besorgt um das Mikroskop und den Computer. Außer ihm selbst hatte seit Jahren kein Junge dieses Zimmer betreten - nicht, seit sie begriffen hatten, dass er auf seinem Rechner weder Moorhühner schoss noch mit Lara Croft spielte.
Aus dem Wohnzimmer hörte er die Stimmen seines Vaters und des amerikanischen Geschäftspartners. Vor einer Stunde war Gabriel in Anzug und Krawatte zum Begrüßungskomitee gestoßen, um sein: 'Nice to meet you, Sir' aufzusagen. Und dann war es passiert, das Magische. Ganz beiläufig hatte der Businessman mit der Aura eines leutseligen Mr. President den Football hinter seinem Rücken hervorgeholt. Gabriels Mutter hatte mit gequälter Stimme 'oh' gesagt und hastig angefügt, das sei aber 'very friendly'.
Gabriel hatte nie zuvor einen Football in der Hand gehabt. Aber da er eine Schwäche für amerikanische Filme hatte, wusste er, worum es ging. Er liebte den Moment, wenn sich aus dem Knäuel kämpfender Spieler einer hochrappelte, sich freilief und mit dem Lederei im Arm dem Heldenruhm entgegensprintete.
Er drehte und wendete den Ball in den Händen. Dann legte er ihn so vorsichtig ins Regal, als wäre es eine Bombe.
Gabriel gewöhnte sich an, mit dem Ball unter dem Arm hinauszugehen - nicht vorn, sondern durch den Garten in den Wald.
Normalerweise ging Gabriel langsam, die Augen auf den Boden und die Gedanken auf ein Problem gerichtet. Jetzt lernte er, mit einem Arm etwas festzuklammern, mit dem anderen das Gleichgewicht zu halten und dabei Geschwindigkeit zu entwickeln, während er nicht den Boden, sondern imaginäre Gegner im Auge behielt. Seine schlimmsten Widersacher waren Baumwurzeln und Kaninchenlöcher. Er musste eine Art Radar in den Sohlen entwickeln.
Darüber hinaus unterschieden sich die folgenden Schultage nicht von früheren. Er wurde jeden Morgen in den Rücken gestoßen, stolperte in die Klasse und wich Volker aus, der ihm ein Bein stellte. Wenn Gabriel seinen Tisch vor dem Lehrerpult erreicht hatte, stapelte er seine Hausaufgabenhefte am Rand, damit jeder sich zum Abschreiben daran bedienen konnte. Das Arrangement hatte den Nachteil, dass seine Hefte zerfleddert aussahen. Der Vorteil lag darin, mittags nicht mit blutender Nase nach Hause zu kommen.
Erst zwei Wochen später geschah etwas Ungewöhnliches: Volker wollte sich Gabriel aus Rache für eine spöttische Bemerkung auf dem Weg zum Bus packen - und griff daneben. Normalerweise pflegte Gabriel sich zitternd an die nächste Wand zu drücken. Diesmal rannte er dem besten Sportler der Schule mit der Tasche im Arm davon.
Das Problem war somit auf den nächsten Morgen verschoben und Zuspätkommen die einzige Möglichkeit, Volker auszuweichen. Gabriel schaffte es, den Bus zu verpassen, genoss einen friedlichen Spaziergang und erreichte die Schule eine halbe Stunde nach Beginn des Deutschunterrichts. Er klopfte kurz an und trat ein. 'Entschuldigen Sie bitte, Herr
Herschenbroich', murmelte er, als er sich hastig auf seinen Platz setzte. 'Mir war heute Morgen nicht gut.'

Der Lehrer war nach dem Pausengong knapp zur Tür hinaus, als Volker zum Angriff überging. Gabriel hatte gerade das Lehrbuch einpacken wollen. Aus einem Reflex heraus schleuderte er es Volker mit Wucht entgegen.
Es entwickelte eine andere Flugbahn als der Football, aber Volker blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er presste die Hände an die Brust und schnappte mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Luft.
Gabriel hob das Buch auf, packte es in seine Tasche, holte seine Pausenlektüre heraus und ging nach draußen. Aber er konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren.
Er hatte genug amerikanische Filme gesehen, um die festgeschriebenen Rollen zu kennen: die Sportskanone und der mit der Brille. Entweder waren sie beide gute Kerle, dann wurden sie Freunde. Oder der Sportler war ein böser Kerl, dann würde er sich fortan damit beschäftigen, dem mit der Brille zu schaden. Und dabei irgendwann einen Reinfall erleben.
Oder der mit der Brille war der Böse. Dann wäre dies der Auftakt zu einer Horrorshow.
In dieser Nacht schlief er schlecht.

Der Deutschlehrer legte den Stapel Hausaufgaben auf das Pult und lächelte in die Runde. 'Meine Herrschaften, ich habe zu meiner Freude festgestellt, dass diese Klasse Teamwork-begabt ist, was sich unschwer daran erkennen lässt, dass ihr alle dasselbe schreibt. Und damit ich mir anschauen kann, wie eure Hausaufgaben-AG arbeitet, wird sie ab morgen hier in der Schule stattfinden, und zwar jeweils von vierzehn bis fünfzehn Uhr dreißig. An jedem Tag, an dem Deutschunterricht stattfindet.'
Er hob die Hand wie ein Priester, um dem Zorn des jungen Volkes Einhalt zu gebieten. 'Diese Maßnahme ist mit dem Schulleiter abgesprochen und gilt für eine Woche.'
Nachsitzen mit Schülern, die auf eine Gelegenheit warteten, ihre Wut an ihm auszulassen, und das zu einer Tageszeit, zu der sich sonst kein Mensch auf dem Gelände befand? Gabriel war nicht lebensmüde. Während die anderen nach dem Pausenzeichen aus dem Klassenraum stürzten, wühlte er umständlich in seiner Tasche. Der Lehrer wischte die Tafel und packte seine Sachen. Als sie allein waren, stand Gabriel auf. 'Herr Herschenbroich? Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich an den zusätzlichen Unterrichtsstunden nicht teilnehme. Eine Entschuldigung von meinen Eltern reiche ich nach.'
Er wandte sich ab und war schon fast an der Tür, als Herschenbroich ihn zurückrief. 'Gabriel, das kann aber so nicht weitergehen. Und wenn ich deine Entschuldigung durchgehen lasse, kommen die anderen auch nicht. Ich brauche deine Hilfe.'
'Und wo waren Sie', fragte Gabriel, 'wenn ich Hilfe gebraucht habe? Ich musste lernen, mir selbst zu helfen. Ich schlage Ihnen vor, das Gleiche zu tun.'

Filmreife Szene, dachte Gabriel, als er hinausging. Zu gut, um neu zu sein. Wahrscheinlich hab ich das schon mal irgendwo gesehen.
Er hüpfte die Treppe hinunter und kämpfte sich durch das Pausengewimmel zur Turnhalle. Dann wurde ihm klar, dass die so genannte Hausaufgaben-AG vor der Halle nicht nur auf den Beginn der Sportstunde, sondern auch auf ihn wartete.
'Petzer', spuckte der Erstbeste, an dem er vorbeiging, ihm ins Gesicht.
'Petzer', sagte auch Volker, und zwar so düster und so bitter, als sei eine Welt für ihn eingestürzt.