dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Todeszimmer - Thriller

Jeffery Deaver

 

Verlag Blanvalet, 2014

ISBN 9783641123581 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

2

»Ist er nun unterwegs oder nicht?«, fragte Lincoln Rhyme und versuchte gar nicht erst, seine Verärgerung zu verbergen.

»Er muss noch etwas im Krankenhaus erledigen«, ertönte Thoms Stimme aus dem Korridor oder der Küche oder von wo immer er stecken mochte. »Er verspätet sich. Er ruft an, sobald er es einrichten kann.«

»›Etwas‹. Konkreter geht’s wohl nicht. ›Etwas im Krankenhaus‹.«

»Das hat er wörtlich zu mir gesagt.«

»Er ist Arzt. Er sollte sich gefälligst präziser ausdrücken. Und er sollte pünktlich sein.«

»Er ist Arzt«, erwiderte Thom, »was bedeutet, dass er sich um Notfälle kümmern muss.«

»Aber er hat nicht von einem ›Notfall‹ gesprochen, sondern von ›etwas‹. Die Operation ist für den sechsundzwanzigsten Mai angesetzt. Ich will nicht, dass sie verschoben wird. Das alles dauert mir sowieso schon viel zu lange. Ich begreife nicht, wieso er es nicht früher einrichten konnte.«

Rhyme fuhr mit seinem roten Rollstuhl Modell Storm Arrow zu einem Computermonitor und hielt neben dem Rattansessel, auf dem Amelia Sachs in schwarzer Jeans und ärmellosem schwarzen Oberteil saß. Ein goldener Anhänger mit einem Diamanten und einer Perle hing an einer dünnen Kette um ihren Hals. Es war noch früh am Tag. Das Licht der Frühlingssonne fiel gleißend durch die Ostfenster herein und ließ verführerisch Amelias rotes Haar aufleuchten, das sie zu einem Knoten gebunden und sorgfältig festgesteckt hatte. Rhyme wandte sich wieder dem Bildschirm zu und überflog den Tatortbericht eines Mordfalls, bei dessen Aufklärung er dem NYPD in letzter Zeit behilflich gewesen war.

»Wir sind fast fertig«, stellte Sachs fest.

Sie saßen im einstigen Salon seines Stadthauses am Central Park West in Manhattan. Was in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vermutlich als stilles Gemach für Besucher und Bittsteller gedient hatte, fungierte heutzutage als ausgewachsenes Kriminallabor. Der Raum war voller Untersuchungsgeräte und Instrumente, Computer und Kabel, unzähliger Kabel, dank derer jede Fahrt von Rhymes Rollstuhl holprig verlief, wenngleich er das nur von den Schultern an aufwärts spüren konnte.

»Der Arzt verspätet sich«, sagte Rhyme leise zu Sachs, was überflüssig war, weil sie seinen Wortwechsel mit Thom aus drei Metern Entfernung mitgehört hatte. Doch Rhyme ärgerte sich immer noch und fühlte sich besser, wenn er etwas Dampf ablassen konnte. Er bewegte seine rechte Hand behutsam bis zum Touchpad vor und scrollte durch die letzten Absätze des Berichts. »Gut.«

»Soll ich die Datei abschicken?«

Er nickte, und sie drückte eine Taste. Die verschlüsselten fünfundsechzig Seiten jagten durch den Äther und nahmen ihren Weg zu der knapp zehn Kilometer entfernten Zentrale der NYPD-Spurensicherung in Queens, wo sie ein wesentlicher Bestandteil des Falls Das Volk gegen Williams sein würden.

»Erledigt.«

Erledigt … bis auf die Aussage während des Prozesses gegen den Drogenbaron, der Zwölf- und Dreizehnjährige auf die Straßen von East New York und Harlem geschickt hatte, damit sie dort für ihn mordeten. Es war Rhyme und Sachs gelungen, winzige Spurenpartikel und Sohlenabdrücke zu sichern und zu analysieren, die von den Schuhen eines der Jungen zum Boden eines Ladens in Manhattan führten, von da aus auf den Teppich einer Lexus-Limousine, weiter zu einem Restaurant in Brooklyn und schließlich zum Haus von Tye Williams höchstpersönlich.

Der Gangsterboss war bei der Ermordung des Zeugen nicht selbst zugegen gewesen, er hatte die Waffe nicht berührt, es gab keinen Tonbandbeweis dafür, dass er den Mord angeordnet hatte, und der junge Schütze war viel zu verängstigt, um gegen ihn auszusagen. Doch nichts davon stand einer Anklage im Wege; Rhyme und Sachs hatten eine Beweiskette geschmiedet, die sich vom Tatort direkt zu Williams’ Behausung erstreckte.

Er würde den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzen.

Sachs legte ihre Hand auf Rhymes linken Arm, der regungslos an der Lehne des Rollstuhls fixiert war. Die Sehnen, die unter ihrer blassen Haut hervortraten, verrieten ihm, dass sie fest zudrückte. Die hochgewachsene Frau stand auf und reckte sich. Sie hatten seit dem frühen Morgen an der Fertigstellung des Berichts gearbeitet. Sachs war um fünf Uhr aufgewacht, Rhyme ein wenig später.

Er bemerkte, dass sie zusammenzuckte, als sie zu dem Tisch ging, auf dem ihre Kaffeetasse stand. Die Arthritis in Hüfte und Knien machte ihr in letzter Zeit sehr zu schaffen. Rhymes Rückenmarksverletzung, der er seine Querschnittslähmung verdankte, galt gemeinhin als verheerend. Doch sie war für ihn nie mit irgendwelchen Schmerzen verbunden.

Wer auch immer wir sein mögen, unsere Körper lassen uns früher oder später im Stich, dachte er. Auch den derzeit noch Gesunden und im Großen und Ganzen Zufriedenen drohten dunkle Wolken am Horizont. Sie taten ihm leid, all die Sportler, die Schönen und die Jungen, die dem Niedergang bereits jetzt furchtsam entgegenblickten.

Paradoxerweise galt für Lincoln Rhyme das genaue Gegenteil. Sein Zustand hatte sich vom neunten Kreis des Leidens merklich verbessert, vor allem infolge neuer Operationsmethoden und Rhymes kompromissloser Haltung hinsichtlich eines rigiden Trainingsprogramms und riskanter experimenteller Verfahren.

Was ihn wieder verärgert daran denken ließ, dass der Arzt zu spät zu dem heutigen Begutachtungstermin kam, der für den bevorstehenden Eingriff unerlässlich war.

Die zweistimmige Türglocke ertönte.

»Ich gehe schon«, rief Thom.

Das Haus war selbstverständlich behindertengerecht umgebaut, und Rhyme hätte einen Computer nutzen können, um einen Blick auf den Klingelnden zu werfen, mit ihm zu sprechen und ihn hereinzulassen. Er mochte allerdings keine unangemeldeten Aufwartungen und neigte dazu, die Leute – bisweilen schroff – wieder wegzuschicken, sofern Thom ihm nicht eiligst zuvorkam.

»Wer ist das? Sieh zuerst nach.«

Es konnte nicht Doktor Barrington sein, denn der wollte ja anrufen, sobald er das »Etwas« erledigt hatte, das ihn aufhielt. Rhyme war nicht in der Stimmung für andere Besucher.

Doch ob sein Betreuer nun zunächst nachsah oder nicht, schien keine Rolle zu spielen. Lon Sellitto betrat den Salon.

»Linc, du bist zu Hause?«

Was schwerlich überraschend war.

Der massige Detective steuerte geradewegs ein Tablett mit Kaffee und Gebäck an.

»Soll ich frischen aufsetzen?«, fragte Thom. Der schlanke Betreuer trug ein gestärktes weißes Hemd, eine geblümte blaue Krawatte und eine dunkle Stoffhose. Dazu heute außerdem Manschettenknöpfe aus Ebenholz oder Onyx.

»Nein, vielen Dank, Thom. Hallo, Amelia.«

»Hallo, Lon. Wie geht es Rachel?«

»Gut. Sie hat mit Pilates angefangen. Was für ein ulkiges Wort. Das sind irgendwelche Turnübungen.« Sellitto trug einen für ihn typischen zerknitterten braunen Anzug und ein ebenso charakteristisch faltiges taubenblaues Hemd. Seine gestreifte karmesinrote Krawatte war allerdings so glatt wie frisch gebügelt. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Es musste sich um ein Geschenk aus jüngster Zeit handeln, folgerte Rhyme. Von seiner Freundin Rachel? Es war Mai, also kam als Anlass kein Feiertag in Betracht. Vielleicht war es ja ein Geburtstagsgeschenk. Rhyme wusste nicht, wann Sellitto Geburtstag hatte – oder irgendjemand sonst, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Sellitto nippte an seinem Kaffee und nahm zwei kleine Bissen von einem Stück Blätterteiggebäck. Er war eigentlich immer auf Diät.

Rhyme und der Detective hatten vor Jahren als Partner zusammengearbeitet, und es war hauptsächlich Lon Sellitto gewesen, der Rhyme nach dem Unfall gedrängt hatte, sich eine Beschäftigung zu suchen. Zu diesem Zweck hatte er ihn weder verhätschelt noch beschwatzt, sondern ihn gezwungen, seinen Hintern hochzukriegen und wieder Verbrechen aufzuklären. (Genauer gesagt, auf seinem Hintern sitzen zu bleiben und die Arbeit fortzusetzen.) Doch ungeachtet ihrer gemeinsamen Vergangenheit, kam Sellitto nie ohne direkten Anlass vorbei. Der Detective First Grade gehörte zur Abteilung für Kapitalverbrechen im Big Building an der Police Plaza Nummer eins. Für gewöhnlich war er der leitende Ermittler in all jenen Fällen, zu denen Rhyme als Berater hinzugezogen wurde. Sein Besuch versprach also einen neuen Auftrag.

»Okay.« Rhyme musterte ihn prüfend. »Hast du mir was Hübsches mitgebracht, Lon? Ein faszinierendes Verbrechen? Eine echte Herausforderung

Sellitto trank einen Schluck und aß einen Bissen. »Ich weiß nur, dass die Chefetage mich angerufen hat und wissen wollte, ob du Zeit hast. Ich sagte, du schließt gerade den Fall Williams ab. Dann wurde ich angewiesen, so schnell wie möglich herzukommen und hier jemanden zu treffen. Die sind schon auf dem Weg.«

»›Jemanden‹? ›Die‹?«, fragte Rhyme spöttisch. »Das ist ungefähr so konkret wie das ›Etwas‹, das meinen Arzt aufhält. Scheint ansteckend zu sein. Wie die Grippe.«

»He, Linc, mehr weiß ich auch nicht.«

Rhyme warf Sachs einen gequälten Blick zu. »Mir fällt auf, dass niemand mich deswegen angerufen hat. Hast du etwas in dieser Angelegenheit gehört, Sachs?«

»Keinen Pieps.«

»Oh, das ist wegen einer anderen Sache«, sagte Sellitto.

»Welcher anderen Sache?«

»Was auch immer da vor sich geht, es ist geheim. Und das soll es auch bleiben.«

Immerhin ein erster Schritt in...