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Die Tuchvilla - Roman

Anne Jacobs

 

Verlag Blanvalet, 2014

ISBN 9783641144562 , 704 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

1

N achdem sie das Jakobertor hinter sich gelassen hatte, waren ihre Schritte immer langsamer geworden. Eine andere Welt tat sich hier am östlichen Stadtrand auf. Nicht beschaulich und eng wie die Gässchen in der Unterstadt, sondern lärmend und gewaltsam. Wie mittelalterliche Festungen lagen die Fabrikanlagen in den Wiesen zwischen den Bachläufen, jede von einer Mauer umgeben, damit kein Unbefugter das Gelände betrat und kein Arbeiter der Aufsicht entging. Innerhalb dieser Festungen vibrierte und lärmte es ohne Pause, Schornsteine schickten schwarzen Rauch in den Himmel, in den Hallen ratterten die Maschinen Tag und Nacht. Marie wusste aus Erfahrung: Wer hier arbeitete, der wurde zu einem grauen Kieselstein. Taub vom Dröhnen der Maschinen, blind vom aufwirbelnden Staub, stumm von der Leere im Hirn.

Es ist deine letzte Chance!

Marie blieb stehen und blinzelte gegen die Sonne zu Melzers Tuchfabrik hinüber. Einige Fenster blitzten im Morgenlicht, als brenne dahinter ein Feuer, die Mauern waren jedoch grau, und in ihrem Schatten erschienen die Hallen fast schwarz. Die Villa auf der anderen Seite aber leuchtete in rotem Backstein, ein traumschönes Dornröschenschloss inmitten eines herbstbunten Parks.

Es ist deine letzte Chance! Warum hatte Fräulein Pappert das gestern Abend dreimal wiederholt? So, als bliebe für Marie nur Gefängnis oder Tod, falls sie auch jetzt wieder fortgeschickt würde? Sie fasste das schöne Gebäude genauer ins Auge, aber es verschwamm vor ihrem Blick, vermischte sich mit Wiesen und Bäumen des Parkgeländes. Kein Wunder, sie war noch schwach von dem Blutsturz vor drei Wochen, und dann hatte sie heute früh vor Aufregung kaum etwas gegessen.

Also gut, dachte sie. Es ist wenigstens ein hübsches Haus, und ich werde nicht nähen müssen, sondern andere Dinge tun. Und wenn sie mich hinüber in die Fabrik schicken, dann laufe ich einfach fort. Niemals wieder plage ich mich zwölf Stunden am Tag mit einer verölten schwarzen Nähmaschine herum, bei der ständig der Faden reißt.

Sie rückte das Bündel auf ihrer Schulter zurecht und ging langsam zum Eingang des Parkgeländes. Das altmodische Eisentor aus ineinander verschlungenen Blütenranken stand einladend offen. Der Fahrweg wand sich durch den Park und endete in einem gepflasterten Platz, in dessen Mitte sich eine kreisrunde Blumenrabatte befand. Niemand war zu sehen, aber aus der Nähe wirkte die Villa noch einschüchternder, besonders der Säulenvorbau, der sich über zwei Etagen erhob. Die Säulen stützten einen Balkon mit steinerner Einfassung – vermutlich hielt der Fabrikherr von hier oben am Silvesterabend eine Rede an seine Arbeiter. Die starrten ehrfürchtig zu ihm und seiner in Pelze gehüllten Gattin hinauf. Vielleicht bekamen sie ja Schnaps oder Freibier an den Feiertagen. Sekt ganz bestimmt nicht, den Champagner trank der Fabrikherr mit seiner Familie.

Ach, eigentlich wollte sie nicht hier arbeiten. Wenn sie hinauf in die davonziehenden Wolken schaute, schien es, als bewegte sich das hohe Backsteingebäude auf sie zu, um sie unter sich zu zermalmen. Aber es war ihre letzte Chance. Also hatte sie wohl keine Wahl. Marie musterte die Front der Villa. Rechts und links des Säulenvorbaus gab es je eine Pforte, das waren die Eingänge für die Angestellten und die Lieferanten.

Während sie noch überlegte, welche der beiden Türen sie ansteuern sollte, vernahm sie hinter sich das knatternde Geräusch eines Automobils. Eine dunkle Limousine tuckerte dicht an ihr vorüber. Als sie erschrocken zur Seite sprang, konnte sie das Gesicht des Chauffeurs erkennen. Er war noch jung und trug eine blaue Schirmmütze mit einer goldfarbigen Kokarde darauf.

Aha, dachte sie. Jetzt holt er den Fabrikherrn ab und fährt ihn in sein Büro. Dabei ist die Fabrik doch nur ein paar Schritte entfernt. Höchstens zehn Minuten zu laufen. Aber so ein reicher Herr geht nicht zu Fuß, da könnten ja seine teuren Schuhe und der gute Mantel dreckig werden.

Neugierig und ein wenig missgünstig starrte sie auf das Portal unter den Säulen, das sich jetzt öffnete. Ein Hausmädchen war zu sehen, in dunklem Kleid und heller Schürze, auf dem glatt zurückgekämmten Haar ein weißes Häubchen. Dann zwei Damen, in lange Mäntel mit weichen Pelzkrägen gehüllt, die eine in Dunkelrot, die andere in Hellgrün. Hüte wie Traumgebilde aus Blüten und Schleierstoff, beim Einsteigen in die Limousine sah man die zierlichen Stiefeletten aus braunem Leder. Ein Herr folgte den beiden Frauen – nein, das konnte nicht der Fabrikdirektor sein, dazu war er viel zu jung. Vielleicht war es der Ehemann einer der Damen? Oder der Sohn des Hauses? Er trug einen kurzen braunen Reisemantel und eine Tasche, die er mit leichtem Schwung auf das Dach des Wagens beförderte, bevor er im Wagen Platz nahm. Wie albern der Chauffeur herumhüpfte, die Wagentüren aufriss, den Damen die Hand bot, als könnten sie sich nicht ohne seine Hilfe auf den gepolsterten Sitzen niederlassen. Ja gewiss, diese Frauen waren aus Zuckerwerk gebacken. Ein Platzregen hätte sie aufgelöst und davonfließen lassen. Wie schade, dass es heute nicht regnete.

Als die Herrschaften im Wagen verstaut waren, fuhr der Chauffeur mit ihnen um die Blumenrabatte, in der rote Astern, rosafarbige Dahlien und lila Heidekraut blühten. Nach diesem gemächlichen Wendemanöver knatterte das Gefährt wieder in Richtung Tor. Es fuhr so dicht an Marie vorüber, dass das vorstehende Trittbrett ihren im Wind flatternden Rock berührte. Graue Männeraugen streiften Marie mit unverhohlener Neugier. Der junge Herr hatte den Hut abgesetzt, das nachlässig geschnittene lockige Haar und der blonde Oberlippenbart gaben ihm das Aussehen eines unbesorgten Studenten. Er lächelte Marie zu, dann beugte er sich vor und sagte etwas zu der Dame in Rot, worauf alle zu lachen begannen. Machten sie sich über das schlecht gekleidete Mädel mit dem Bündel über der Schulter lustig? Marie verspürte einen Schmerz in der Brust, sie musste wieder gegen den Impuls ankämpfen, auf der Stelle kehrtzumachen und zurück ins Waisenhaus zu laufen. Aber sie hatte keine Wahl.

Der Qualm, den das Automobil hinterließ, stank nach Benzin und heißem Gummi, sodass sie husten musste. Entschlossen ging sie um die Blumenrabatte herum zum linken Nebeneingang und betätigte den Türklopfer aus schwarzem Eisen. Es tat sich nichts – vermutlich waren alle an der Arbeit, es war schon gegen zehn. Als sie zweimal erfolglos geklopft hatte und schon entschlossen war, die Tür einfach aufzuklinken, hörte sie endlich Schritte.

»Jesses Maria – das ist die Neue. Warum macht ihr denn keiner auf? Traut sich nicht herein, das Mädel …«

Die Stimme war jung und hell. Marie erkannte das Hausmädchen wieder, das vorhin das Portal für die Damen geöffnet hatte. Sie war ein rosiges, blondes Wesen, kräftig und gesund, ein harmloses Lächeln lag auf ihrem breiten Gesicht. Vermutlich stammte sie aus einem der umliegenden Dörfer, ein Stadtkind war die auf keinen Fall.

»Komm herein. Brauchst dich nicht zu schämen. Bist die Marie, ja? Ich bin die Auguste. Zweites Stubenmädchen. Schon seit einem guten Jahr.«

Darauf schien sie mächtig stolz zu sein. Was für ein Haus! Sie beschäftigten zwei Stubenmädchen! Da, wo Marie vorher angestellt gewesen war, hatte sie alle Arbeit, auch das Kochen und Waschen, allein machen müssen.

»Grüß Gott Auguste. Dankschön für dein Willkommen.«

Marie stieg die drei Stufen hinunter in den engen Flur. Wie seltsam. Die rote Backsteinvilla hatte zahllose hohe und niedrige Fenster, hier im Gesindetrakt aber war es so finster, dass man kaum wusste, wohin man die Füße setzte. Aber das lag wohl daran, dass ihre Augen noch blind von der hellen Morgensonne waren.

»Hier ist die Küche. Die Köchin wird dir bestimmt einen Kaffee und eine Semmel geben. Schaust ja ganz verhungert aus …«

In der Tat. Gegen die dralle, vor Gesundheit strotzende Auguste musste sie, Marie, wie ein Gespenst erscheinen. Sie war immer dünn gewesen, aber nach der Krankheit waren auch ihre Wangen hohl geworden, und an den Schultern stachen die Knochen hervor. Dafür erschienen ihre Augen jetzt doppelt so groß wie vorher, und das dunkelbraune Haar war widerspenstig wie ein Besen. Das hatte zumindest Fräulein Pappert noch gestern Abend behauptet. Fräulein Pappert war die Leiterin des Waisenhauses der Sieben Märtyrerinnen, und sie sah aus, als habe sie jedes einzelne Martyrium selbst durchlebt. Geholfen hatte es nichts, die Pappert war boshaft wie eine Hexe und würde gewiss einst in der Hölle braten. Marie hasste sie abgrundtief.

Die Küche war ein Ort der Zuflucht. Warm, hell und voller köstlicher Düfte. Ein Raum, der von saftigem Schinken, frischem Brot und Kuchen erzählte, von köstlichen Pasteten, Hühnersüppchen und Rindsbouillon. Der nach Thymian, Rosmarin und Salbei duftete, nach Dill und Koriander, nach Nelkenblüten und Muskat. Marie stand bei der Tür und starrte auf den langen Tisch, an dem die Köchin allerlei Vorbereitungen betrieb. Erst jetzt spürte sie, wie kalt es draußen gewesen war, und sie begann zu zittern. Wie schön war die Aussicht, mit einer Tasse Milchkaffee neben dem Ofen zu sitzen, die Wärme zu spüren, den Geruch des Wohllebens einzuatmen und dabei in langsamen Schlucken den heißen Kaffee zu schlürfen.

Ein lauter Schrei ließ sie zusammenfahren. Ausgestoßen hatte ihn eine ältlich aussehende zierliche Frau, die soeben die Küche von der anderen Seite betrat und bei Maries Anblick erschrocken zurückprallte.

»Heilige Jungfrau!«, stöhnte sie und presste beide Hände auf die...