dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Heimkehrer - Roman

Jan Guillou

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641124052 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

 

I – Saltsjöbaden

April 1918

Er sehnte sich nach Deutschland. Als sie in Bergen den Zug über die Hardangervidda bestiegen hatten, war er noch davon ausgegangen, die Heimreise nach Deutschland anzutreten. Stattdessen saß er nun auf einem Steg an einem Fjord, der ebenso weit von Bergen wie von Berlin entfernt war.

In Schweden hieß es im Übrigen nicht Fjord, sondern Fjärd. Schwedisch war eine lustige Sprache, leicht zu verstehen, aber schwer zu schreiben. Er war sich fast wie ein Erstklässler vorgekommen, der das Lesen erst noch lernen musste. Inzwischen hatte er die anderen fast eingeholt und würde im Herbst in der dritten Klasse anfangen, falls Deutschland nicht endlich siegte und die ganze Familie nach Hause zurückkehren konnte.

Wenn er mit seinen Klassenkameraden Schwedisch sprach, gab es immer ein paar Spielverderber, die behaupteten, er klänge eher norwegisch als schwedisch. Aber das spielte keine Rolle. Er hatte geschworen, nie mehr Nor­wegisch zu sprechen.

Über dem Fjord oder Fjärd stauten sich große, bau­schige Wolken, in denen sich die englischen Flieger gerne versteckten, wenn sie zu ihrem großen Entsetzen seinen roten Dreidecker Fokker Dr.I entdeckten. Sie lagen auf Kurs drei Uhr etwa zweihundert Meter unter ihm und hatten die Gefahr noch nicht erkannt. Es handelte sich um sechs in V-Formation fliegende Maschinen. Er zögerte keine Sekunde, rollte nach rechts ab, steuerte im Sturzflug den Anführer an, feuerte drei schnelle Salven mit seinem doppelten Maschinengewehr ab, richtete das Flugzeug auf, vollführte einen Looping nach links und steuerte den Feind von Neuem an. Dieser hatte inzwischen erkannt, wer ihn attackierte, geriet in Panik und nahm augenblicklich Kurs auf die hohen Quellwolken. Sie wussten sehr gut, dass sie gegen Manfred Freiherr von Richthofen keine Chance hatten. Es gelang diesem, noch einen weiteren Engländer abzuschießen, ehe die vier übrigen Flieger in den Wolken verschwanden.

Jetzt gab es nur eine Strategie, da sich die Engländer in den Wolken vermutlich trennen und in verschiedene Richtungen fliehen würden. Er zog seine Maschine steil an, um sich über den Wolken freie Sicht nach unten zu verschaffen. Er musste sich steil von oben fallen lassen, um während des Sturzflugs Tempo zu gewinnen, da ihre Sopwith Camels schneller waren als seine Fokker.

Diesen Preis zahlte er gerne für seine drei Tragflächen: Was er durch sie an Geschwindigkeit einbüßte, gewann er an überlegener Manövrierfähigkeit hinzu.

Er hatte Glück, wie es auch ein guter Torwart brauchte, als er plötzlich tief unter sich auf elf Uhr außer Schussweite zwei Sopwith Camels erblickte, die sich von ihm entfernten. Die Wolkenwand, in die sie verschwinden wollten, war recht dünn, sie würden bald in ein großes wolkenfreies Gebiet gelangen. Er vollführte eine Rolle und tauchte mit Vollgas durch die Wolken.

Seine Berechnungen stimmten punktgenau. Er holte die beiden feindlichen Maschinen in dem Augenblick ein, als sie den wolkenfreien Luftraum erreichten. Der Rest wäre eigentlich Routine gewesen, aber nachdem er die beiden Engländer abgeschossen hatte, tauchte direkt hinter ihm wie aus dem Nichts eine weitere Sopwith Camel auf. Das war ärgerlich, solche Situationen konnten normalen Fliegern, ja, selbst deutschen Kameraden, das Leben kosten.

Er musste rasch handeln und einen kühlen Kopf bewahren. Er wartete ab, bis die Engländer so nahe herangekommen waren und die ersten Kugeln an ihm vorbeipfiffen, dann zog er den Steuerknüppel maximal an sich heran, richtete das Flugzeug steil in die Höhe und ging vom Gas. Er stand eine Sekunde still in der Luft, ehe er rasend schnell abwärtszutrudeln begann und der erstaunte Engländer, der das Vorhaben des Roten noch gar nicht erfasst hatte, an ihm vorbeischoss. Da eröffnete er das Feuer und durchlöcherte die feindliche Maschine der Länge nach, wobei zugege­benermaßen wohl auch ein wenig Glück im Spiel war.

Danach gab er wieder Gas, parierte die Drehung mit den Rudern und steuerte den Heimatflughafen an. Vier Eng­länder an einem Vormittag mussten reichen. Es war ohnehin Zeit zum Mittagessen. Anschließend konnte er sich mit frischer Kraft, aufgetankter Maschine und vollen Maga­zinen erneut ins Gefecht begeben. Sein Rekord lag bei elf Abschüssen an einem Tag, aber das würde er heute wohl nicht mehr schaffen, sofern er nicht auf eine Formation amerikanischer Anfänger stieß.

Während des intensiven Luftgefechts waren die Quellwolken über dem Baggensfjärd nach Südwesten getrieben. Es war ein klarer, warmer Tag, der Frühsommer verhieß, obwohl erst April war.

Eigentlich wollte er Stichling angeln, darum hatte er auch den Schlüssel zum Bootssteg mitgenommen. Er legte sich auf den Bauch und schaute zwischen den Brettern hindurch. Das Wasser war klar, und das Sonnenlicht drang bis auf den Grund, fast wie zu Hause, das hieß fast wie auf Osterøya. Sand, einzelne Tangbüschel, winzige Miesmuscheln und vier oder fünf Barsche. Aber nicht ihnen galt dieser Einsatz. Er hatte eine Aufgabe, die mit Präzision und erfolgreich ausgeführt werden musste.

Sein erster Versuch war missglückt, und das durfte sich nicht wiederholen. Seine Mutter Ingeborg hatte ihm seine Fehler erläutert. Der Stichling war ein Nestbauer, daher war es klug, ein großes Einmachglas mit ein wenig Tang auszulegen. Aber das war nicht das Wichtigste. Zur Laichzeit waren die schönsten Fische normalerweise die Männchen, das galt sowohl für Stichlinge als auch für Forellen und Saiblinge. Stichlingsmännchen schimmerten metallisch smaragdgrün oder auch blau und rubinrot.

Sein Fehler war gewesen, nur Männchen zu fangen, sie ohne Tang oder Seegras in einem Glas einzusperren und sich einzubilden, dass sie dort Frieden halten würden. Stattdessen hatten sie sich gegenseitig umgebracht, und kurz darauf hatte auch der Sieger den Bauch nach oben gedreht.

Dieses Mal wollte er ein schönes Männchen und zwei glanzlose Weibchen einfangen. Wenn eines der Weibchen starb, weil es von der Rivalin, dem Männchen oder von beiden getötet wurde, konnten die Überlebenden trotzdem noch eine Ehe eingehen.

Die Weibchen zu fangen war einfach, denn sie zirkulierten vor dem Nest des Männchens. Er spießte einen Regenwurm auf eine gebogene Stecknadel, weil er einen Haken ohne Widerhaken brauchte, damit die Fische, wie seine Mutter ihm erklärt hatte, unverletzt blieben. Wenig später schwammen zwei Weibchen in seinem Einmachglas.

Männchen zu fangen erwies sich als schwieriger. Sie versteckten sich, schienen keinen Appetit zu haben, führten aber überraschende Blitzattacken auf den Regenwurm an der Stecknadel oder auf eines der Weibchen aus, um gleich wieder in ihr Nest zu verschwinden. Ihm war jedoch aufgefallen, dass das Männchen, wenn man mit dem Regenwurm auf das Dach des Stichlingnestes klopfte, wütend hervorschoss und den Regenwurm eher zerbiss und verletzte, statt ihn zu verspeisen. Diesen Augenblick musste man abpassen und es schnell nach oben ziehen, ehe es losließ. Nach vier oder fünf Versuchen hatte er schließlich neben den zwei Weibchen auch ein Männchen in seinem Glas und konnte zufrieden nach Hause gehen. Auftrag ausgeführt, zumindest so weit.

Er schloss das schwarze Schmiedeeisentor des Bootsstegs ordentlich hinter sich ab, wie es ihm sein Vater aufgetragen hatte, denn der Steg war privat.

Der Heimweg führte ein kurzes Stück die Strandpromenade entlang, aber das Einmachglas mit den drei hitzigen Fischen wurde immer schwerer, weil er es mit vor sich gestreckten Armen halten musste, damit das Wasser nicht auf seine Sonntagskleider, das Matrosenhemd mit dem frisch gestärkten blauen Kragen und die marineblauen ­langen Hosen schwappte. Es würde definitiv einfacher sein, über den Källvägen zum Kücheneingang zu schleichen, statt die große Treppe von der Strandpromenade aus zu nehmen.

Auf dem steilen Källvägen traf er zwei Nachbarsfrauen bei ihrem Sonntagsspaziergang. Er machte einen Diener, wobei er das Einmachglas am ausgestreckten Arm vor sich hielt, als wolle er es ihnen schenken. Neugierig begutachteten die beiden seinen Fang, und er versuchte, ihnen seinen Plan mit der Stichlingsheirat zu erklären. Momentan wirkten die Fische allerdings nicht sehr kooperationswillig. Sie hatten begonnen, sich zu bekämpfen, und eine der Nachbarinnen machte einen Scherz über die Liebe, den er nicht verstand. Dann tätschelten sie ihm den Kopf und setzten ihren Spaziergang, wahrscheinlich zum Grand Hotel, fort.

Als er in die Küche huschte, strömte ihm der Duft von Sonntagsbraten und frisch gebackenem Brot entgegen. Die Köchinnen hasteten hin und her und sprachen über Lebensmittelmarken und Rationierung, verstummten jedoch, als sie ihn sahen. Verlegen machte er einen Diener und eilte an der Mädchenkammer und der Anrichte vorbei.

Das große Esszimmer war leer, und mit dem Tisch­decken war noch nicht begonnen worden, was Gutes verhieß. Vielleicht gab es dann nur ein bescheidenes Mahl im Kreis der Familie, obwohl an Wochenenden oft Gäste kamen. Und ganz richtig, als er an dem kleinen Esszimmer vorbeiging, war dort eines der Serviermädchen damit beschäftigt, das Tafelsilber zu putzen. Gut. Also gab es nur ein bescheideneres Abendessen. Bei größeren Veranstaltungen musste er immer mit am Tisch sitzen und langweilte sich, weil die Erwachsenen unendlich lange tafelten und sich unterhielten. Seine kleinen Geschwister hatten es bei solchen Gelegenheiten besser, sie durften mit Marthe im kleinen Esszimmer essen.

Seine Arme waren müde, und er musste die Fische einen Augenblick auf der untersten Treppenstufe unter den beiden Palmen...