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Die Stunde des Erlösers - Roman

Paul Hoffman

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641143992 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

ERSTES KAPITEL

Kurzgutachten über Thomas Cale, Geisteskranker. Drei Sitzungen, Klostersanatorium, Insel Zypern.

(Vorbemerkung: Diese Begutachtung fand nach Oberin Allbrights Schlaganfall statt. Ihre Aufzeichnungen wurden offenbar verlegt wie auch Cales Einweisungspapiere. Das hier vorgelegte Gutachten muss im Lichte des Fehlens dieser Dokumente gelesen werden; daher kann ich keine Verantwortung für meine Folgerungen übernehmen.)

PHYSISCHE EIGENSCHAFTEN

Mittlere Körpergröße; ungewöhnliche Blässe. Mittelfinger links fehlt. Schädel-Eindrückungsfraktur. Stark wulstartig vernarbte Wunde an der linken Schulter. Patient klagt über immer wieder auftretende Schmerzen aller Wunden.

SYMPTOME

Schweres Erbrechen, gewöhnlich mitten am Nachmittag. Erschöpfungszustände. Leidet an Schlaflosigkeit; im Schlaf treten Albträume auf. Gewichtsverlust.

KRANKHEITSGESCHICHTE

Von seiner generell üblen Laune abgesehen leidet Thomas Cale nicht an hysterischen Selbsttäuschungen oder unkontrollierbarem Verhalten. Die am Nachmittag auftretenden Würganfälle führen zu vollständiger Erschöpfung und Sprechunfähigkeit; danach schläft er gewöhnlich ein. Erst am späten Abend ist er wieder ansprechbar und artikulationsfähig, zeigt sich jedoch generell als eine extrem sarkastische und beleidigende Persönlichkeit. Er behauptet, ein Priester des Ordens des Gehenkten Erlösers habe ihn seinen Eltern für ein paar Kreuzer abgekauft, kann sich aber nicht an seine Eltern erinnern.

Thomas Cale ist ein komischer Kauz, doch bei ihm ist dieses Getue keineswegs leichter zu ertragen als seine übrigen ärgerlichen Eigenarten. Denn entweder verunsichert er seinen Gesprächspartner so weit, dass dieser nicht weiß, ob sich Cale über ihn lustig macht, oder, als unangenehmes Kontrastprogramm dazu, lässt er ihn nur zu deutlich spüren, dass er genau das tut. Die Geschichte seiner Erziehung in der Stammburg des Erlöserordens erzählte er mir, als wollte er mich ständig dazu provozieren zu sagen, dass ich ihm nicht glaubte, dass er in seiner Kindheit solche Grausamkeiten erdulden musste. Während er sich von seiner Kopfverletzung erholt habe, sei, wie er behauptete, als Folge der Verletzung seine ohnehin schon große Tapferkeit noch weiter gesteigert worden: Seit seiner Genesung sei er stets in der Lage, die Aktionen seiner Gegner vorherzusehen – doch auch dabei ist nicht klar, wie ernst er das meint. (Im Nachhinein betrachtet wirkte er wie ein Prahlhans, aber beim Gespräch selbst hatte ich nicht diesen Eindruck.) Das klang sehr unglaubwürdig; dennoch lehnte ich sein Angebot ab, mir seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Auch der Rest seiner Geschichte klang so unwahrscheinlich wie das weit hergeholte Fabulieren eines Kindes über seine Heldentaten und seine Verwegenheit. Cale ist der schlechteste Lügner, der mir jemals begegnet ist.

Seine Geschichte in Kürze. Sein Leben in der Ordensburg hatte aus Entbehrungen und härtester militärischer Ausbildung bestanden – bis es an einem Abend auf dramatische Weise abrupt endete, als Cale zufällig einen hochrangigen Erlösermönch dabei überraschte, wie dieser zwei Mädchen bei lebendigem Leib sezierte. Dies war Teil eines heiligen Experiments, durch das herausgefunden werden sollte, wie sich die Macht der Frauen über das männliche Geschlecht neutralisieren ließe. Es kam zu einem Kampf, bei dem Cale den Erlösermönch tötete und mit dem überlebenden Mädchen sowie zwei seiner Freunde aus der Burg floh, verfolgt von einer Meute rachedurstiger Erlösermönche. Das Quartett konnte den Verfolgern entkommen und gelangte schließlich nach Memphis, wo sich Cale selbstverständlich sofort eine Menge Feinde machte und, was nun weniger selbstverständlich war, auch ein paar Freunde, darunter den allbekannten IdrisPukke und dessen Halbbruder, den (damaligen) Kanzler Vipond. Trotz dieser für ihn vorteilhaften Situation setzte sich schon bald sein gewalttätiges Wesen wieder durch und führte zu einer brutalen, aber erstaunlicherweise für ihn nicht tödlichen Auseinandersetzung mit (nach eigenen Angaben) einem halben Dutzend Jugendlichen aus Memphis, aus der er zwar siegreich hervorging, aber im Gefängnis endete. Dennoch setzte sich Lord Vipond unerklärlicherweise für ihn ein, und Cale wurde zusammen mit IdrisPukke aufs Land verbannt. Sie bezogen eine Jagdhütte der Materazzi, doch dauerte der Hausfrieden nicht lange, denn schon bald nach ihrer Ankunft versuchte eine Frau, ihn zu ermorden, aus Gründen, die er nicht erläutern konnte. Dass seine Ermordung letztlich verhindert werden konnte, war nicht etwa seinen eigenen wunderbaren Fähigkeiten zu verdanken – zum Zeitpunkt des Anschlags schwamm er völlig nackt im See –, sondern einem geheimnisvollen Fremden, den niemand zu sehen bekam und der kaltschnäuzig die Möchtegern-Meuchelmörderin mit einem Pfeil in den Rücken erschoss. Danach verschwand sein Retter wieder, spurlos und ohne jede Erklärung.

Mittlerweile hatten die Erlösermönche seinen ungefähren Aufenthaltsort entdeckt und unternahmen den Versuch, ihn (wie er behauptet) durch die Entführung von Arbell Materazzi, der Tochter des Dogen von Memphis, aus dem Versteck zu locken. Als ich ihn fragte, warum die Erlösermönche seinetwegen einen ruinösen Krieg gegen die größte zeitgenössische Macht riskieren sollten, lachte er mir direkt ins Gesicht und meinte, er würde mir zum gegebenen Zeitpunkt seine erhabene Bedeutung schon noch enthüllen. Geisteskranke nehmen nach meiner Erfahrung ihre eigene aufgeblähte Bedeutung ausgesprochen ernst, aber der demente Zustand von Thomas Cale wird einem erst Stunden nach dem direkten Gespräch klar. Solange man sich in seiner Gegenwart befindet, wird selbst bei den haarsträubendsten Geschichten, die er erzählt, jeder Unglaube außer Kraft gesetzt, und erst mehrere Stunden danach schleicht sich eine höchst ärgerliche Empfindung ein, als sei man von einem billigen Quacksalber auf dem Markt hereingelegt worden, teures Geld für ein Fläschchen eines Allerweltheilmittels auszugeben. Nur höchst selten habe ich bei anderen Geisteskranken eine derart ausgeprägte und eigenartige Selbsttäuschung beobachten können, die selbst den bedächtigsten Anomisten mit sich reißt.

Natürlich gelang es Thomas Cale, die schöne Prinzessin vor den bösen Erlösern zu retten, aber, wie zugegeben werden muss, nicht durch fairen und edlen Kampf gegen die überwältigende Übermacht, sondern indem er die meisten seiner Gegner im Schlaf erstach. Das ist eine weitere Eigenart seiner Selbsttäuschung – dass jede einzelne seiner schier endlosen Serie von Triumphen gewöhnlich nicht durch Heldentum und edle Kühnheit erreicht wurde, sondern durch brutale List und gewissenlosen Pragmatismus. Gewöhnlich stellen sich solche Verrückte selbst als galant und ritterlich dar, aber Thomas Cale gesteht freimütig, das Trinkwasser der Feinde mit verwesten Tierkadavern verseucht oder seine Gegner im Schlaf getötet zu haben. In diesem Zusammenhang ist die folgende Passage unseres Gesprächs aufschlussreich.

ICH

Erscheint es dir vollkommen selbstverständlich, unbewaffnete Gefangene umzubringen?

PATIENT

Ist jedenfalls leichter, als bewaffnete umzubringen.

ICH

Du hast also kein Problem damit, dich über das Leben anderer Menschen sarkastisch zu äußern?

PATIENT

(KEINE ANTWORT)

ICH

Du hast nie in Erwägung gezogen, Gnade walten zu lassen?

PATIENT

Nein, niemals.

ICH

Warum nicht?

PATIENT

Weil auch sie mir keine Gnade gewährt hätten. Hätte ich sie laufen lassen sollen? Dann hätte ich später doch nur wieder gegen sie kämpfen müssen, wäre dann womöglich selbst gefangen genommen und umgebracht worden.

ICH

Was ist mit Frauen und Kindern?

PATIENT

Die habe ich nie absichtlich getötet.

ICH

Aber du hast auch Frauen und Kinder getötet?

PATIENT

Ja. Das kam vor.

Er behauptet, beim Aufstand der Folks für deren Frauen und Kinder ein eigenes Verwahrungslager gebaut zu haben, aber weil er selbst anderswo eingesetzt worden sei, seien fast alle Lagerinsassen, rund fünftausend Seelen, infolge von Hunger und Krankheiten umgekommen. Als ich fragte, was er bei diesem Vorgang empfinde, antwortete er nur: »Was soll ich dabei schon empfinden?«

Kehren wir zu seiner eigenen Geschichte zurück. Nach der Befreiung der schönen Arbell Materazzi (gibt es denn in der Welt der Wahnhaften keine schlicht aussehenden Prinzessinnen?) wurde er, zusammen mit seinen beiden Freunden, damit betraut, die junge Frau zu beschützen, der gegenüber er, während unserer drei langen Gespräche, eine tief verwurzelte Abneigung zum Ausdruck brachte, die ihrer Undankbarkeit und ihm bezeigten Verachtung zuzuschreiben war. Diese Bitterkeit beherrscht ihn offenbar in hohem Maße, denn er ist überzeugt davon, dass Memphis nur deshalb später den Erlösern in die Hände fiel, weil die Materazzi seinen Plan, wie der Orden besiegt werden könne, nicht ausgeführt hätten. (Übrigens behauptet er ausdrücklich, dass sein Talent für die Kriegsführung noch größer sei als sein Talent für Grausamkeit.)

Gewöhnlich drückt er sich zwar sarkastisch, doch recht sachlich aus, doch was seinen Aufstieg zur Macht angeht, gerät er unweigerlich ins Prahlen. Allerdings sorgt seine drollige Ausdrucksweise dafür, dass einem die Prahlerei im direkten Gespräch...