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Schwester, bleibt mein Arm so? - Geschichten von der Intensivstation

Karla Brandt

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2015

ISBN 9783832188320 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Einleitung — Warum ich Krankenschwester auf der Intensivstation wurde

Mit ausgebreiteten Armen läuft das fünfjährige Mädchen im Kreis um die kleinen Holzkreuze des Tierfriedhofs herum und schreit immer wieder: »Ich werde Feuerwehrmann!«

Ob ihr mal jemand sagen sollte, dass sie in diesem Leben kein Mann mehr wird? Zumindest nicht ohne immensen medizinischen Aufwand? Und dass man sich auf einem Friedhof gefälligst würdevoll benimmt, selbst wenn dort nur Distelfinken und Spitzmäuse ihre letzte Ruhe gefunden haben? Und warum sieht der kleine Lockenkopf eigentlich einen Zusammenhang zwischen Feuerwehrmann und Segelfliegen? Ja, ist denn hier kein Erziehungsberechtigter anwesend?

Das fünfjährige Mädchen bin ich. Gerade formuliere ich zum ersten Mal entschlossen einen Berufswunsch. Die Idee und Leidenschaft habe ich meinem großen Vorbild abgeguckt: Grisu, der kleine Drache – eine Zeichentrickfigur mit klaren Karrierevorstellungen.

Obwohl ich es mehrmals täglich laut und unmissverständlich zu verstehen gab – meine Eltern trauten meinem Feuerwehrmannplan nicht. Nicht nur, weil sie mich aufgrund von unschönen Szenen im Badezimmer für wasserscheu hielten. Die beiden Dickschädel hatten sich in den Kopf gesetzt, dass ich Tierärztin werden würde. Keine Ahnung, wie sie darauf kamen. Bei den Tieren, mit denen ich Umgang pflegte, gab es eindeutig nichts mehr zu verarzten. Beinahe täglich brachte ich tote Vögel und Mäuse und Igel mit nach Hause und beerdigte die niedlichen Kadaver in sorgsam bemalten Pappschachteln. Ich bastelte Mini-Kreuze aus Zweigen und steckte Gänseblümchen zu Grabkränzen zusammen und verwandelte so eine Ecke unseres Gartens in den Friedhof der Kuscheltiere. Alles deutete eigentlich darauf hin, dass ich einmal im Bestattungswesen tätig werden würde.

Doch schnelllebig sind die Schrullen der Kinderzeit. Vom Feuerwehrmann bzw. Bestatter sattelte ich um auf Polizist, von Polizist auf Delphintrainerin, und von da war es nur ein Katzensprung zur Meeresbiologin. Und schließlich fand ich mich unvermittelt mit etlichen anderen verhinderten Delphintrainerinnen und Meeresbiologen in einem Germanistikstudium wieder. Immerhin las ich gerne Romane. Abgesehen davon studierte ich nicht, weil ich einen klaren Plan für meine Zukunft hatte. Ich studierte, weil ich eben keinen klaren Plan hatte. Als planlos muss auch meine erste Hausarbeit eingestuft werden, in der ich so entschlossen wie ungefragt die These vertrat, dass Sprache aus dem Bedürfnis entstanden ist, Musik zu machen. Die Arbeit bekam ein unmusikalisches »befriedigend« und bald verstand ich, dass meine Meinungen und Leistungen an der Uni niemanden interessierten. Toll: Erst lassen sie dich dreizehn Klassen lang unliebsamen Quatsch auswendig lernen und treiben dir jedes persönliche Interesse aus und dann sollst du plötzlich aus eigenem Antrieb mit großer Leidenschaft deinem persönlichen Interesse folgen, ohne dass das so richtig kontrolliert wird.

Na ja, so eine gesellschaftskritische Betrachtung liest sich zumindest allemal besser als: Ich hatte den Kopf voll Kraut und Rüben, fand es schwierig meinen Studientag zu strukturieren und war ohnehin mehr damit beschäftigt, meinen Lebensunterhalt zu finanzieren und meine noch immer nicht ganz abgeschlossene Pubertät zu meistern.

In der Schule war ich in der Regel ohne aufwendiges Lernen ausgekommen. Die Hausaufgaben hatte ich, wenn überhaupt, oft kurz vor Unterrichtsbeginn oder in den Fünf-Minuten-Pausen vor dem jeweiligen Fach erledigt, also irgendwo abgeschrieben. Diese Kindereien ergaben im Studium keinen Sinn, und irgendwann sah ich es ein: In sauerstoffarmen Hörsälen emotionsgebremsten Nicht-Pädagogen dabei zuzuhören, wie sie aus jahrzehntealten Manuskripten über den regelhaften Lautwandel im Bereich des Konsonantismus vorlasen – das fetzte für mich nicht so richtig. Nach drei Semestern mutierte ich zur Karteileiche und nach fünf ließ ich mich exmatrikulieren.

Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Konnte ich nicht noch schnell eine berühmte Sängerin oder Schauspielerin werden und dann mit siebenundzwanzig unter tragischen und nie ganz geklärten Umständen abdanken? Das hätte Glamour gehabt, und ich wäre in den Club siebenundzwanzig eingetreten, in dem Größen wie Janis Joplin, Jim Morrison oder Amy Winehouse Mitglieder sind. Andererseits war diese Idee totaler Schwachsinn. Nur weil man mal vorübergehend nicht weiß, was man mit seinem Leben anfangen soll, muss man es ja nicht gleich frühzeitig beenden. Schließlich gab es eine enorm attraktive Alternative zu rauschhaften Rockkonzerten, Blitzlichtgewittern, wilden Partys, Luxuslimousinen, zerstörten Hotelzimmern und einem Abgang als junge Göttin: einfach mal ein Praktikum machen. Also versuchte ich mich in verschiedenen Praktika: Kindergärtnerin – jubelnde Massen und immerhin was mit Menschen, Tontechnikerin – da hallte der Rockstarwunsch noch leise nach, Schreinerin – jetzt mal was mit Holz, PR-Beraterin – was mit Hochglanzbroschüren und wunderschönen Floskeln. Während dieser verschiedenen Tätigkeiten wurde mir klar: Ich wollte einen Beruf, den ich als sinnvoll empfand, der mich herausforderte und bei dem ich in einem Team arbeiten konnte. Ich wollte keinen Beruf, der mich dazu nötigte, stundenlang auf zu kleinen Stühlen zu hocken und mit schrill quiekenden Zwergen Lieder über zehn Finger oder die Puthenne Widewidewenne zu singen. Ich wollte auch nicht den ganzen Tag in schallisolierten Kabinen sitzen und fünfzigmal die gleichen zehn Sekunden Gangster-Rap eines hübsch frisierten Teenagers aus dem Villenviertel hören, dem die Eltern zum Geburtstag eine CD-Aufnahme geschenkt haben. Und erst recht wollte ich mich nicht mutterseelenallein an einer Drechselmaschine verstümmeln oder potentiellen Kunden erklären, wie sie beim Bescheißen ihrer eigenen Kunden glitzern und glänzen, während ich versuche, beim Bescheißen dieser potentiellen Kunden zu glitzern und zu glänzen.

Während meiner Praktika-Serie wohnte ich in einer Zweck-WG, die aus vier Zimmern und einem winzigen Bad bestand. Jedes Zimmer hatte ein Waschbecken und einen Kühlschrank und wurde einzeln vermietet. Mit diesem gewitzten Kniff kam der Vermieter vermutlich zu höheren Einnahmen und erzeugte für uns Bewohner das interessante Gefühl, in einem Motel zu wohnen, und zwar in einem von der Sorte, wie wir sie aus skandinavischen Arthouse-Dramen und amerikanischen Psychothrillern kennen.

Menschen kamen und gingen. Manche grunzten mir nur einmal im Zwielicht des Flurs ihren Namen zu und zogen ein paar Wochen später schon wieder aus. Inmitten des undurchsichtigen Kommens und Gehens gehörte ich bald mit anderthalb Jahren Verweildauer zu den Alteingesessenen. Immer wieder nahm ich mir vor, mich nach einer behaglicheren Unterkunft umzusehen, doch das Psycho-Motel entzog mir zunehmend die Energie. Je mehr mir die Bude zum Hals raushing, desto weniger fand ich die Kraft, ihr den Rücken zu kehren. Ein Teufelskreis, der allerdings sein Gutes hatte. Eines Tages stand nämlich Michael in abgeschabter Lederkombi und mit schwarzem Motorradhelm unter dem Arm vor der Wohnungstür. Seine große Nase war vom Fahrtwind gerötet und ragte über ein Grinsen, das vom Freundlichen schon fast ins Unverschämte spielte. Ich ahnte: Das war endlich ein Mitbewohner nach meinem Geschmack. Und ich behielt recht.

Michael und ich gründeten mitten im Psycho-Motel eine echte Wohngemeinschaft. Ich freute mich, wenn er an meiner Tür klopfte und fragte, ob ich was von seiner Reispfanne haben wollte, selbst wenn ich sie dann erst noch für uns kochen musste. Wir erzählten uns Geschichten, schmiedeten Pläne und sangen. Einmal dichteten wir ein Lied für die unter uns wohnende Nachbarin. Frau Brück klopfte bei jeder Gelegenheit mit dem Besenstiel an die Decke, zum Beispiel sobald man auch nur einen Akkord auf der Gitarre spielte. Das Lied begann so:

Hallo, wie ich hörte, mögen Sie Musik

Und so schrieb ich nur für Sie dieses kleine Lied.

Ich weiß nicht, wie Sie ausseh’n,

doch wie Ihr Besen klingt,

und der groovt echt einmalig und klopft lässig und beschwingt.

Wir machten aber nicht nur Quatsch und Musik, sondern führten auch Gespräche über unsere Lebensplanungen – ein wiederkehrendes Thema im wenig konkreten Konjunktiv. Bis dann eines Tages Michael einen Entschluss getroffen hatte: »Ich werde Krankenschwester!«

Kurz darauf manifestierten sich in seinem kleinen Zimmer Anatomie-Poster und medizinische Fachbücher voller Kurzbeschreibungen von Krankheitsbildern und chirurgischen Behandlungsmethoden. Das fand ich mindestens so spannend wie die toten Vögel aus seligen Kindertagen, für die mein Interesse mittlerweile merklich abgeflaut war.

Michael erzählte mir von den Erlebnissen in seiner Ausbildung, zum Beispiel von einer folgenschweren Entscheidung der Krankenhaus-Verwaltung. Mit dem eisernen Vorsatz, dem Krankenhaus ein moderneres Flair zu geben und den Pflegekräften Arbeitserleichterung zu verschaffen, wurden neumodische, vollelektrische Patientenbetten gekauft, gleich fünfzehn Stück. Große Freude, als die prächtigen Betten angeliefert wurden. Böse Vorahnung, als sich rausstellte, dass sie zehn Zentimeter breiter waren als die alten, mechanischen Modelle. Niederschmetternde Ernüchterung, als die verflixten Dinger trotz wütendem Quetschen nicht in die Aufzüge passten. So wurde das Erdgeschoss zum Bettenlager und Michael räsonierte über einen großen Räumungsverkauf, der sein karges Gehalt aufbessern sollte.

Oder die Geschichte von der fünfundvierzigjährigen karnevalsbegeisterten Krebspatientin, die ihren letzten Rosenmontag...