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Schwesterherz

Felix Francis

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604344 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[5] 1

»Das Rennen ist gestartet!«

Ich blickte auf meinen Monitor und schirmte die Augen gegen die helle Septembersonne ab, um die Pferde besser zu sehen. Zwölf Starter in einem 1600-Meter-Fliegerrennen für sieglose Zweijährige in Lingfield Park – ein Rennen wie jedes andere, eins von über fünfzehnhundert, die ich in diesem Jahr live sehen würde.

Aber es sollte mein Leben ein für alle Mal verändern.

Die Pferde kamen in einer ziemlich geraden Linie aus der Startmaschine, und ich sah auf den handgeschriebenen Zettel mit ihren Startnummern, als sie aus knapp tausendsechshundert Metern auf mich zuhielten.

Da der Start für die sechzehnhundert Meter in Lingfield ein wenig hinter Bäumen versteckt ist, wenn man auf der Tribüne sitzt, verließ ich mich mehr auf den Monitor.

»Wir sehen das Herald Sunshine Limited Maiden Stakes, und Spitfire Boy geht gleich zu Beginn in Führung«, sagte ich, »vor Steeplejack, der ebenfalls früh Tempo macht. Danach Sudoku innen, gefolgt von Radioactive, daneben Troubleatmill. Ihnen folgt Postal Vote, dahinter High Definition und Low Calorie, ganz außen kommt Bangkok [6] Flyer in Grün, dann Tailplane mit der weißen Kappe und Routemaster mit den orangen Ringen. Schlusslicht ist im Augenblick Pink Pashmina, die zu kämpfen hat und an der 1200-Meter-Marke eine Ermahnung bekommt.«

Ich sah vom Monitor hoch und richtete mein Fernglas auf die Pferde. Aus tausendzweihundert Metern waren sie jetzt alle deutlich zu erkennen, optisch verkürzt durch das Glas, mit unnatürlich wippenden Köpfen.

Fliegerrennen auf gerader Bahn, bei denen die Pferde direkt auf einen zustürmen, machen dem Kommentator oft das Leben schwer. So auch diesmal. Die zwölf Starter hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt – acht Pferde liefen innen, die vier anderen in der Bahnmitte.

Die Wetter auf der Tribüne wollten verständlicherweise wissen, welches Pferd führte, aber von meinem Platz aus war das nicht ohne weiteres zu erkennen.

»Der rote Dress von Spitfire Boy führt die größere Gruppe links an, attackiert von Radioactive. In der Bahnmitte laufen Troubleatmill und Bangkok Flyer achthundert Meter vor dem Ziel Kopf an Kopf.«

Ich sah mir das herangaloppierende Feld genau an. Laut Rennprogramm trug Bangkok Flyer Dunkelgrün, aber mir kam das im Sonnenlicht rabenschwarz vor, und ich wollte ihn nicht mit dem Dunkelblau von Postal Vote verwechseln.

Nein, alles klar. Es war Bangkok Flyer mit dem Lammfell-Nasenriemen, und er machte seinem Namen Ehre.

»Rechts kommt jetzt Bangkok Flyer mit dem Lammfell-Nasenriemen. Er lässt Troubleatmill, der die Distanz wohl nicht stehen kann, zwei Längen hinter sich. Und [7] links wird Spitfire Boy von Radioactive eingeholt. Aber Sudoku mit Paul James in Weiß, der sich jetzt erst rührt, ist auch noch da.«

Ich ließ das Fernglas sinken und schaute mit bloßem Auge zu.

»Zweihundert Meter vor dem Ziel geht Sudoku links in Führung, aber er muss noch den als Favoriten gesetzten Bangkok Flyer überwinden. Sudoku und Bangkok Flyer gehen gleichauf in die Schlussphase. Sudoku in Weiß, Bangkok Flyer in Dunkelgrün, es ist ein Direktvergleich.« Meine Stimme wurde immer heller, je näher die Pferdenüstern unter mir der Ziellinie kamen. »Bangkok Flyer und Sudoku Huf an Huf. Sudoku und Bangkok Flyer.« Schriller konnte ich nicht mehr werden. »Sudoku siegt vor Bangkok Flyer, Low Calorie erkämpft Platz drei, Radioactive wird Vierter vor dem lange führenden Spitfire Boy, es folgen Routemaster, High Definition, Troubleatmill, Steeplejack, dann Tailplane und Postal Vote gleichauf und schließlich die Stute Pink Pashmina abgeschlagen auf dem letzten Platz.«

Ich schaltete mein Mikrofon aus.

»Erster, Nummer zehn, Sudoku«, sagte der Zielrichter über die Lautsprecher. »Zweiter, Nummer eins, Dritter, Nummer vier. Vierter ist die Nummer acht. Abstand Hals und zweieinhalb Längen.«

Ende der Ansage.

Das Rennen war vorbei, die Aufregung im Nu verflogen. Die Zuschauer warteten bereits auf den nächsten Lauf in einer halben Stunde.

Ich sah auf die Bahn und war verunsichert.

[8] Irgendwas hatte da nicht gestimmt.

Mein Kommentar schon. Ich hatte weder die Pferde durcheinandergebracht noch das falsche Pferd zum Sieger erklärt – was den besten Sportreportern passiert. Mit dem Rennen selbst hatte etwas nicht gestimmt.

»Danke, Mark. Super gemacht«, sagte mir eine Stimme in die Kopfhörer. »Jedes Pferd genannt und die vollständige Platzierung, danke.«

»Gern geschehen, Derek.«

Derek war Sendeleiter bei Racing TV, dem Satellitensender, der Pferderennen live übertrug. Er saß im Ü-Wagen, einem großen Transporter mit geschwärzten Scheiben, irgendwo hinter den Rennbahnstallungen, vor sich ein halbes Dutzend Fernsehbilder von den Kameras auf der Bahn, und er entschied, welche Bilder die Leute zu Hause oder in den Wettbüros zu sehen bekamen. Da der Sender keinen eigenen Rennkommentator hatte, hielten sie sich an den von der Rennbahn – an mich. Allerdings legten sie Wert darauf, dass jedes Pferd wenigstens einmal namentlich genannt wurde, und wollten unbedingt den kompletten Zieleinlauf im Kommentar. Bei zwölf Startern war das in Ordnung, aber bei dreißig oder mehr wurde es schwierig, erst recht bei so einem Fliegerrennen, das keine anderthalb Minuten dauert.

»Derek?« Ich hielt den Übertragungsknopf gedrückt.

»Rede«, antwortete er mir ins Ohr.

»Könntest du mir eine DVD von dem Rennen machen? Zum Mitnehmen. Alle Einstellungen.«

»Sie hat doch gar nicht gewonnen.«

»Trotzdem«, sagte ich.

[9] »Okay, kannst du haben.«

»Danke. Ich hol sie mir nach dem letzten Rennen.«

»Wir stehen dann noch hier.«

Es klickte, und meine Kopfhörer waren wieder still.

»Sie hat doch gar nicht gewonnen«, hatte Derek gesagt.

»Sie« war meine Schwester – meine Zwillingsschwester, genau gesagt, Clare Shillingford – ein Topjockey mit über sechshundert errittenen Siegen.

Jetzt war keiner dazugekommen. Mit Bangkok Flyer war sie knapp Zweite geworden, und für mich hatte an ihrem Ritt etwas nicht gestimmt.

Ich sah auf die Uhr. Da ich erst in frühestens zwanzig Minuten wieder am Platz sein musste, um das nächste Rennen zu kommentieren, lief ich die fünf Treppen zum Erdgeschoss runter und ging um die Tribüne herum zum Waageraum.

Ich steckte den Kopf in die Medienzentrale der Rennbahn – ein kleiner Raum hinter der Waage mit lauter Elektronik auf der einen Seite.

»Tag, Jack«, begrüßte ich den Mann, der da mit dem Rücken zu mir stand.

Er drehte sich um, sagte: »Hallo, Mark« und strich mit den Händen über seinen grünen Pullover, der mehr aus Löchern als aus Wolle zu bestehen schien. »Alles klar?«

»Alles bestens.«

Jack Laver war der für die Bildübertragung im bahneigenen Videosystem einschließlich des Monitors in der Kommentatorkabine zuständige Techniker. Er wusste [10] vielleicht nicht unbedingt, wie man sich gut anzieht, aber in Sachen Elektrotechnik war er ein Zauberkünstler.

»Tee?«, fragte er.

»Gern«, sagte ich, und er verschwand in einer Nische, aus der er mit zwei weißen Plastikbechern voll dampfendem Tee wiederkam.

»Zucker?«

»Nein, danke.« Ich nahm ihm einen Becher ab.

Waageraumtee war traditionell nichts für den erlesenen Geschmack, aber immer heiß und nass, und beides tat meiner Stimme gut. Ein mit Heiserkeit oder gar Laryngitis geschlagener Rennkommentator war zu nichts zu gebrauchen. Peter Bromley, der legendäre BBC-Sportreporter, hatte immer eine Flasche Stimmbalsam bei sich – eine nach Geheimrezept gebraute Mixtur mit Whisky und Honig. Vor jedem Rennen befeuchtete er seine Kehle damit.

So geregelt lief es bei mir zwar nicht, aber eine Flasche Wasser hatte ich doch immer gern zur Hand. Und Tee war noch besser.

»Jack, kannst du mir das letzte Rennen noch mal vorspielen? Die letzten vierhundert Meter reichen.«

»Klar.« Er ging zu seiner Anlage. »Hast du was durcheinandergebracht?«, fragte er und grinste mich über die Schulter hinweg an.

»Leck mich«, sagte ich. »Natürlich nicht.«

»Und wenn, dann würdest du’s nicht zugeben. Ihr Sprücheklopfer seid doch alle gleich.«

»Gleich gut, meinst du sicher.«

»Dass ich nicht lache!«

[11] Er drückte ein paar Tasten, und das Rennen erschien auf einem der winzigen Bildschirme vor ihm.

»Die letzten vierhundert Meter?«

»Ja, bitte.«

Mit einer großen, kugelförmigen Maus ließ er das Rennen vorlaufen, so dass die Pferde in halsbrecherischem Zeichentricktempo übers Geläuf flitzten.

»Voilà.« Jack brachte sie auf normale Geschwindigkeit runter.

Ich beugte mich vor, um besser folgen zu können.

Hoffentlich irrte ich mich. Das wünschte ich mir von Herzen.

»Kann ich das noch mal sehen?«, fragte ich Jack.

Er spulte mit der Kugelmaus zum Vierhundertmeterpfosten zurück.

Ich sah es mir erneut an, und es gab kein Vertun.

Für mich stand außer Zweifel, dass meine Zwillingsschwester Clare Shillingford soeben gegen Nummer (B)58, (B)59 und (D)45 der Rennordnung verstoßen hatte, die unter anderem festlegen, dass während des gesamten Rennens das Bemühen des Reiters erkennbar sein muss, sein Pferd so zu führen, dass es alle erforderlichen und ihm gegebenen Anstrengungen unternimmt, um die bestmögliche...