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Die Elster auf dem Galgen - Ein Roman aus der Zeit Pieter Bruegels

John Vermeulen

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606133 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[7] 1

Behutsam schob der Junge das Schilfrohr zur Seite, das ihm die Sicht versperrte. Er hatte einige Zeit gebraucht, um durch den Sumpf kriechend so nah an das Nest der Wildenten heranzukommen. Aber nun, als sich der brütende Vogel schwankend erhob und mit unruhigen, ruckartigen Kopfbewegungen um sich blickte, konnte er sogar die Eier sehen.

Der Junge rührte sich nicht, er hielt selbst den Atem an, bis sich die Ente beruhigte und wieder niederließ, wobei sie den Bauch hin und her schob, um die richtige Position auf den wenigen Eiern zu finden, die nicht den Raubzügen von Ratten und gefräßigen Möwen zum Opfer gefallen waren.

Der Junge im Röhricht wartete, bis eine Brise die Schwertlilien um ihn herum zum Rascheln brachte. Erst dann nahm er vorsichtig das schöne blaue Papier, das sein Vater für ihn gekauft hatte, und einen feinen Bleigriffel. In schnellen Strichen zeichnete er das Entennest mit dem wachsamen Weibchen.

Es war Flut, und das steigende Wasser der Schelde strömte blubbernd und rauschend durch die gewundenen Gräben in den Sumpf, wo sich der Junge versteckt hielt. Er achtete jedoch weder auf die Feuchtigkeit, die durch Hose und Wams bis auf seine Haut drang, noch auf die stechende Frühlingssonne, die in seinem Nacken brannte, und die Insekten, die unablässig um seine Ohren schwirrten.

Seine Aufmerksamkeit wurde erst gestört, als die Ente auf dem Nest plötzlich erneut unruhig wurde. Das Tier streckte den Hals, schlug ein paarmal heftig mit den Flügeln, als wolle es ihre Tauglichkeit prüfen, und stieg dann mit kraftvollen Flügelschlägen auf. Entrüstet quakend flog die Ente geschwind zur Mitte des Flusses davon.

Erst jetzt hörte auch der Junge, was die Stille gestört hatte. Das Geräusch kam von jenseits des entfernt gelegenen Deiches: Hufschläge, Waffengeklirr, der Schrei eines Menschen, unverständliche Rufe in bellendem Ton.

Er fühlte, wie sein Herz vor Furcht und Neugier klopfte. Eilig [8] stopfte er die Zeichensachen in die Tasche an seinem Gürtel, lief gebückt durch den sumpfigen Morast und kletterte auf allen vieren den Deich hoch. Als er flach auf dem Bauch in jungem, duftendem Unkraut lag, spähte er durch die noch kahlen Brombeersträucher über den sandigen Weg.

Von der Stadt her kamen etwa zwanzig spanische Reiter im Schritt angeritten. Zwischen den Pferden zogen sie an langen Stricken drei Bürger mit sich her, zwei Männer und eine Frau. Die Gefangenen konnten das Tempo der Pferde kaum halten, so daß sie immer wieder stolperten und taumelten. Wer hinfiel, wurde einfach an dem Strick über den Boden geschleift.

Etwa fünfzig Meter hinter den spanischen Soldaten folgte eine Schar von Männern, Frauen und Kindern. Es waren zumeist Bauern, die Parolen skandierten, die offenkundig nicht gegen die Soldaten, sondern gegen ihre Gefangenen gerichtet waren. Die Kinder rannten aufgeregt zwischen den Erwachsenen herum, rauften und schubsten sich und tanzten zwischendurch mitten auf dem staubigen Weg im Kreis herum, bis sie von den Erwachsenen zur Seite gestoßen wurden.

Der Junge wartete, bis alle vorbeigegangen waren, stand dann auf und folgte dem Zug.

Die Gefangenen sind wahrscheinlich Ketzer, dachte er. Sein älterer Bruder Dinus hatte ihm erzählt, daß jeder, der es wagte, öffentlich Kritik an der spanischen Regierung oder der katholischen Kirche zu äußern, sofort als Spion oder Ketzer gebrandmarkt wurde und in den Kerker, an den Galgen oder auf den Scheiterhaufen kam. Es gab sogar Bürger, die das richtig fanden.

Sein Vater hatte ihm wiederholt ans Herz gelegt, sich von Tumulten und Hinrichtungen fernzuhalten, aber die Neugier des Jungen war zu groß, so daß er der Menschenmenge folgte. Kurz darauf verließen die Reiter den Weg und ritten zwischen Bäumen und Sträuchern einen kleinen Abhang hinunter zu einer tiefer gelegenen Lichtung in einem Wäldchen. Noch einen Bogenschuß weiter lag ein großer Bauernhof mit einem Wasserrad, und in der Ferne zeichneten sich die düsteren Umrisse zweier Burgen gegen den blauen Himmel ab.

In der Mitte der Lichtung ragten auf einem großen Sandsteinblock [9] ein Galgen und ein Holzkreuz empor, umgeben von einigen Gräbern. Die Stützbalken des Galgens waren von Wind und Wetter so verzogen, als würden sie dort schon seit langem stehen. Oben auf dem Galgen hockten zwei Elstern. Als die Soldaten näher kamen, flog einer der Vögel auf und setzte sich ein Stück weiter auf einen großen Stein. Die zweite Elster blieb, wo sie war, und schaute dem Treiben unter ihr interessiert zu.

Die Soldaten stiegen ab. Als einer von ihnen drei Stricke über den Galgen warf, flog die Elster kurz krächzend hoch, ließ sich jedoch sofort wieder auf ihrem alten Platz nieder. Die meisten Bürger stellten sich in einem großen ungeordneten Kreis um die Soldaten. Andere johlten und tanzten und führten sich auf, als hätten sie zuviel getrunken. Einige kleinere Gruppen standen abseits und schauten schweigend zu, manche von ihnen bekreuzigten sich.

Der Junge war auf einen Sandhügel geklettert, von dem aus er alles gut überblicken konnte. Er setzte sich hin, packte Zeichenheft und Griffel aus und begann zu skizzieren: die Bäume, die Burgen in der Ferne, die tanzenden Bauern, das Holzkreuz mit den verstreut liegenden Grabsteinen und den Galgen. Er zeichnete in schnellen, sicheren Zügen.

Ein Jubelgeschrei erhob sich, als die drei Gefangenen von den Soldaten unter den Galgen geschleppt wurden und man ihnen den Strick um den Hals knüpfte. Ein Mönch stieg ungelenk auf den Stein und schickte sich an, die Opfer zu segnen. Die Frau aber spuckte ihm mit solcher Verachtung ins Gesicht, daß der Mönch mit seinem Stab zum Schlag gegen sie ausholte. Die Soldaten hielten ihn zurück und führten ihn mit sanfter Gewalt vom Galgen weg.

Dann zogen drei Soldaten mit ihren Pferden die Stricke an. Die Gefangenen wurden langsam hochgezogen, um ihnen das Genick nicht zu brechen, so daß sie den langsamen und qualvollen Erstickungstod erleiden mußten.

Ergriffen von der Tragödie des Augenblicks, hörte das Kind zu zeichnen auf und starrte auf die drei Unseligen, die verkrampft und zappelnd am Strick hingen, begleitet von dem Gejohle einiger Zuschauer. Ihm war, als würde eine kalte Hand seine Eingeweide zusammenpressen, die kalte Hand des Todes, die ihn auf dem Weg zu ihrem Werk dort unter dem Galgen streifte. Fast hätte er das [10] Zeichenheft fallenlassen, aber er konnte es gerade noch festhalten. In dem Moment flog die Elster, aufgeschreckt durch diese kleine Bewegung inmitten des ganzen Tumults, vom Galgen hoch und verschwand schimpfend zwischen den umstehenden Bäumen.

Der Junge rutschte von seinem erhöhten Platz hinunter und landete mit einem Plumps auf der ebenen Erde. Er war noch damit beschäftigt, seine Zeichensachen in die Tasche zu packen, als er von einigen johlenden Kindern seines Alters fortgezogen wurde, die mit ihm »Papier, Stein oder Schere« spielen wollten. Verärgert über die unsanfte Störung seiner Gemütsstimmung, riß er sich los. Sie ließen ihn stehen und rannten weiter. Nur ein häßliches Mädchen mit roten Zöpfen drehte sich um und schnitt ihm eine Grimasse, bevor sie den anderen folgte.

Als der Junge dem Mädchen hinterherschaute, wanderte sein Blick wieder zu den Gehängten am Galgen, die nun regungslos an den Stricken baumelten. Ihre Gesichter waren zu grotesken Fratzen verzerrt, und die Zungen hingen ihnen weit aus dem Mund heraus. Die leblosen Augen der Frau waren genau auf ihn gerichtet. Ihr starrer Blick ließ den Jungen zurückweichen. Plötzlich fühlte er sich schuldig, weil er den Galgen gezeichnet hatte. Er war davon überzeugt, diese toten Augen sahen alle seine Sünden, er würde in die Hölle hinabgerissen, wenn er nicht schnell und weit genug flüchtete.

Als sich das Kind hastig umdrehte, stieß es gegen jemanden. Es erschrak beim Anblick des stämmigen Bauern, der es an den Schultern packte und auf Armeslänge von sich hielt.

»Ich wußte, daß ich dich hier finden würde«, sagte sein Vater in einem Ton, der nichts Gutes verhieß. »Habe ich dir nicht gesagt, daß du dich von solchen Aufführungen fernhalten sollst?«

»Es war Zufall«, versuchte sich der Junge zu verteidigen. »Sie sind vorbeigekommen, und ich bin ein Stück mitgelaufen und…«

Er verstummte, als er merkte, daß sein Vater nicht zuhörte. Er blickte über ihn hinweg zu den spanischen Soldaten, die gerade die Leichen von dem Galgen herunterließen. »Diese verdammten Spanier!« murmelte er undeutlich. »Die Erde sollte sich auftun unter den Stinkfüßen dieser dreckigen Teufelsboten des Papstes, damit sie geradewegs in ihre eigene Hölle stürzen!«

[11] Der Junge zuckte zusammen und schaute sich ängstlich um, ob vielleicht jemand den Fluch gehört hatte. Sein Blick begegnete dem eines Mönchs, der ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Der Mönch hatte mit verschränkten Armen unbewegt der Hinrichtung zugeschaut, doch nun schien er sich nur noch für das Kind und dessen Vater zu interessieren.

Der Junge fühlte einen schmerzhaften Krampf im Leib, als der Mönch sich ihnen langsam näherte, den Blick starr auf ihn geheftet.

Jetzt bemerkte auch sein Vater den Geistlichen. Er schob das Kind mit einer schützenden Bewegung hinter seinen Rücken und schaute den Mönch unfreundlich an. In einem Ton, der fast unverschämt klang, fragte er: »Was wollt Ihr von mir?«

»Von dir vorläufig nichts«, antwortete der Mönch, die Augen noch immer auf das verängstigte Kind gerichtet. »Ich möchte nur mal sehen, was dieser junge Mann da gerade so eifrig hingekritzelt hat.« Gebieterisch streckte er die Hand aus....