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Der Garten der Lüste - Roman über Leben und Werk des Hieronymus Bosch

John Vermeulen

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606140 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[26] 2

»Finger weg!« sagte Thomas beiläufig, als Jeroen hinter seinem Rücken den Finger in den Honigtopf tauchen wollte. Der Topf stand inmitten eines unübersichtlichen Sammelsuriums aus Farbtöpfen, benutzten Pinseln, einem großen Brocken Kreide, einer durch die vielen Schichten angetrockneter Farbe formlos gewordenen Palette, zerknülltem und zerrissenem Papier mit Holzkohleskizzen, einem aus einem Eichenzweig geschnitzten Malstock, einer Schüssel schmutzigem Wasser sowie verschiedenen Essensresten.

Jeroen stellte seine heimliche Attacke auf den Honigtopf ein und schaute verdutzt auf den Hinterkopf seines Onkels, der minutiös auf einer kleinen Eichentafel pinselte.

»Ich habe hinten ein drittes Auge«, warnte Thomas. Er schmunzelte. Kein Kind konnte der Verlockung des Honigtopfs widerstehen. In der Beziehung war Jeroen nicht anders als seine Altersgenossen. »Der Honig ist nicht zum Essen da, den brauche ich, um meine Farbe zu binden.«

»Mit Honig?« Jeroen schaute verwundert auf den cremefarbenen Brei.

»Riecht besser als Leim oder Eidotter«, erklärte Thomas. »Vor allem nach ein paar Tagen!« Er zog ein angewidertes Gesicht. »Schon mal mit verschimmelter Farbe gearbeitet?«

[27] »Ich habe überhaupt noch nicht mit Farbe gearbeitet«, antwortete Jeroen.

»Ach, nein?« Thomas hörte auf zu malen und trat zwei Schritte zurück, um einen prüfenden Blick auf die Jagdszene zu werfen, die auf der Tafel zum Leben erwachte. »Wo mein Bruder doch behauptet, du habest sein Talent geerbt.«

»Sagt mein Vater das?«

»Nur, wenn du es nicht hören kannst. Er möchte gewiß verhindern, daß du dir zu viele Grillen in den Kopf setzt, da du nun auch schon Griechisch und Latein lernen darfst.«

»Ich setze mir keine Grillen in den Kopf«, protestierte Jeroen.

»Nein, brauchst du auch nicht. Deine Stiefmutter hat schon genug davon für die ganze Familie!« Thomas trat wieder an seine Arbeit und beugte sich vor, um ein Detail aus der Nähe zu studieren. »Irgendwas stimmt nicht an diesem Fasan.«

»Es liegt an seinem Hals«, sagte Jeroen.

»Was?« Thomas blickte sich verwundert zu Jeroen um. »Seinem Hals?«

Jeroen rutschte von dem Hocker herunter, auf dem er gesessen und zugesehen hatte. Mit seinem dünnen kleinen Finger zeigte er auf den Fasan im Vordergrund. Der Vogel floh mit ausgebreiteten Flügeln und gestrecktem Schwanz vor einem Jäger, der die Armbrust auf ihn angelegt hatte. »Das sieht unecht aus.«

Thomas runzelte die Stirn, eher erstaunt als beleidigt. »Das sieht unecht aus?«

Vorsichtig, darauf bedacht, die noch feuchte Farbe nicht zu berühren, ließ Jeroen seinen Finger an den Konturen des [28] Fasans entlangfahren. »Ein fliehender Fasan hält den Hals anders, das hier ist nicht… nicht…«

»Nicht natürlich, meinst du das?«

Jeroen nickte und schaute sogleich schüchtern zu seinem Onkel auf, ängstlich, daß er etwas Falsches gesagt hatte. »Ich sehe sie mir manchmal an… Fasane und… andere Tiere«, erklärte er zaghaft. »Und Fische…«

»Das ist ja höchst interessant. Der Hals, hm?« Mit einer Drehbewegung tauchte Thomas einen Pinsel in grüne Farbe und tuschte heftig an dem bemängelten Hals. Wenig später trat er erneut einen Schritt zurück. »So besser?«

»Verzeih, Onkel Thomas, ich wollte dich nicht…«

»Nein, nein, du hattest recht, das ist wirklich eine Verbesserung.« Thomas sah Jeroen an. »Du hast ein verdammt scharfes Auge, Joen!« Er legte seinen Pinsel beiseite und massierte die Finger seiner rechten Hand. »Ich frage mich, wieso mein Bruder dich nicht in die Malerei einweist.«

»Vater sagt, daß ich noch zu klein bin.«

»Dann bauen wir dir doch einfach eine kleinere Staffelei!« Thomas grinste über seinen Scherz.

»Aber Herberta bringt mir schon das Zeichnen bei.«

»Deine Schwester?« Thomas machte ein skeptisches Gesicht. »Was versteht denn Herberta schon vom Zeichnen?«

»Sie zeichnet sehr schön«, sagte Jeroen verteidigend.

»Sie ist sehr schön«, korrigierte ihn Thomas. »Und darauf sollte sie es auch lieber beruhen lassen, die rebellische Trine.« Er beendete seine Fingermassage. »Hast du keinen Hunger? Ich habe frische Mustachollen von der Pasteterei.«

Jeroen verzog das Gesicht. »Gebäck mit Rosenwasser, bah!«

[29] »Ebendeswegen hab ich sie gekauft, sonst bleibt ja nichts für mich übrig.« Thomas knöpfte seinen farbverschmierten Kittel auf.

Hoffnungsvoll sagte Jeroen: »Aber in der Pasteterei machen sie auch leckere Pasteten.«

»O ja, die werden in der ganzen Stadt gerühmt. Und weißt du auch, warum sie so lecker sind?«

Jeroen sah Thomas, der seinen Kittel über die Rückenlehne eines Sessels drapierte, mißtrauisch an. »Nein?«

»Weil der Bäcker sie mit dem Fett von Hexen und Ketzern zubereitet, die vor dem Rathaus verbrannt wurden.«

Jeroen zuckte die Achseln. »Hauptsache, sie schmecken.« Er hatte genügend Erfahrung mit den makabren Scherzen seines Onkels, um sich nicht schockieren zu lassen. Meistens jedenfalls.

Thomas grinste amüsiert und legte Jeroen den Arm um die Schultern. »Na komm, wir holen Pastetchen. Und danach darfst du eine Grundierung anrühren, aus Kreide und Leim.«

»Grundierung anrühren? Wieso denn das?«

»Um eine Tafel zu grundieren natürlich, was dachtest denn du?«

»Und dann?«

»Und dann malst du darauf.«

»Ist das jetzt dein Ernst?«

»Nein«, sagte Thomas. »Mit Malen wird es wenig zu tun haben, aber irgendwo mußt du ja anfangen.«

»Du hast Farbe im Bart.«

»Macht nichts, Joen, ein Meister kann sich alles erlauben.«

[30] Später an diesem Tag hüpfte Jeroen in für ihn ungewöhnlich fröhlicher Laune nach Hause. Doch als er zur Lovensche Poort kam, verflüchtigte sich seine frohgemute Stimmung gleich einem Sonnenstrahl in einer Regenwolke. Mürrisch blickende Wachen führten gerade zwei Gefangene in Ketten aus dem Innern des mit wuchtigen Sandsteinquadern errichteten Stadttors ins Freie. Sie wurden von einem in Schwarz gehüllten Henker mit einem großen breiten Schwert, einem Mönch, der devot den Blick gen Boden gesenkt hielt, sowie einem Magistraten begleitet. Einer der Gefangenen warf Jeroen aus tiefliegenden Augen einen raschen Blick zu und sah dann wieder vor sich auf den Boden.

Verurteilte waren das. Sie hatten irgendein Verbrechen begangen, wahrscheinlich gegen die geistliche Macht, und nun wurden sie zum Blaustein vor dem Rathaus gebracht, wo man sie mit dem Schwert hinrichten würde. Oder auch auf dem Scheiterhaufen, je nachdem, wie schwer ihr Verbrechen war und wie die Laune des Schultheißen.

Von allen Seiten kamen Gassenkinder und Erwachsene herbeigerannt, um dem trübseligen kleinen Zug zu folgen. Hinrichtungen waren, obwohl sie jetzt beinahe täglich stattfanden, nach wie vor ein beliebtes Schauspiel. Je mehr Beifall man dem Henker für seine Arbeit zollte, desto geringer die Gefahr, selbst einen Kopf kürzer gemacht zu werden, schienen die meisten zu denken. Oder vielleicht fanden sie es auch aufregend, andere für Sünden sterben zu sehen, die sie selbst schon mehrfach begangen hatten.

Jeroen schloß sich dem rasch anwachsenden Haufen nicht an. Auf Drängen seines Bruders Goossen hatte er einmal einer Hinrichtung beigewohnt und war anschließend mit [31] der Meute zum Galgenfeld von Vught gezogen, wo die Leichname der Abgeurteilten verscharrt und ihre Köpfe zur Anschauung für das Volk auf Stangen gespießt wurden. Noch Wochen danach war er mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochgeschreckt, wenn er die blutrünstige Rotte im Traum wieder »Tod dem Drecksvieh!« hatte skandieren hören.

Womöglich waren das hier ja die bierseligen Brandstifter, von denen seine Stiefmutter unlängst gesprochen hatte, überlegte Jeroen. Wenn dem so war, hatten sie ihr schreckliches Los vielleicht sogar verdient. Es würde noch Jahre dauern, bis die letzten Spuren des fürchterlichen Feuers beseitigt waren. Die Stadtoberhäupter erboste vor allem, daß der größte Teil dessen, was sich im Magistratsgebäude befunden hatte, in Flammen aufgegangen war. Das hatte Herberta ihm zumindest erzählt; aber bei ihrer Abneigung gegen Kirche und Obrigkeit scheute sich seine Schwester sicher nicht, manches nach eigenem Belieben weidlich aufzubauschen.

Seine rebellische Schwester, dachte Jeroen, sich an den Ausdruck seines Onkels erinnernd. Das Wort klang aufregend. Und es paßte in der Tat zu Herberta. Nicht selten machte sie ihm mit ihren dreisten Reden angst, aber es war genau wie mit dem Bären: Dadurch wurde sie für ihn fesselnder als alle anderen Menschen, die er kannte. Ausgenommen vielleicht Onkel Thomas. Der behandelte ihn wie einen kleinen Erwachsenen und bemutterte ihn nicht, als wäre er ein unmündiges Kind, wie es die meisten anderen taten.

Jeroen blieb vor dem Ladenfenster ihres Nachbarn, des [32] Zinngießers Theodoor Goyart, stehen, welcher sein Geschäft dort, schon lange bevor die van Akens ins Haus nebenan eingezogen waren, betrieben hatte. Auch Sint Anthonius hatte einst einem Zinngießer gehört, wußte Jeroen von seinem Vater. Einem gewissen Paulus Keteler. Was dem widerfahren war, wußte Jeroen nicht.

Bewundernd schaute er sich die hübsch gearbeiteten Ziergefäße aus Kupfer und Zinn an, die im Ladenfenster ausgestellt waren. Einen Moment lang bedauerte er, daß er keine Zeichenutensilien bei sich hatte, mit denen er die kunstvollen Formen festhalten konnte. Aber das ließ sich ja auch zu Hause noch...