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Isabel & Rocco

Anna Stothard

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604412 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

[5] 1

Das erste Kapitel

Rocco versteht nicht, wieso für mich schöne Dinge nach dem ersten Mal ihren Reiz verlieren. Klar, sie können unter Umständen intensiver werden, aber nicht mehr besser. Bis zur Pubertät ist das eindrücklichste Gefühl körperlicher Schmerz. Wenn man dann das erste Mal unter den warmen Fingern eines Jungen gekommen ist, fühlt man sich auf einmal den Sternen nah. Das nächste Mal ist vielleicht besser, stärker, egal was, aber es hebt nicht mehr wie beim allerersten Mal die Welt aus den Angeln. Als Baby sind erste Male grundlegender Natur: der erste Schmerz, das erste Mal kacken, der erste Schritt, das erste Wort, das erste Mal krank sein. An die meisten davon erinnert man sich später nicht mal. Und dann geht das Ganze mit sechzehn noch mal von vorn los. Der erste Kuss, das erste Mal Sex und tausend andere wundervolle Momente der Vorfreude, diese Momente kurz vor einem neuen Gefühl, wie in Bernstein eingeschlossen.

Erste Male sind die Sammlerstücke unter den schönen Momenten im Leben. Für Rocco zählt bei Schönem nur die Menge, aber ich will jedes einzelne erste Mal in diesem Buch festhalten. Wenn ich sie irgendwann alle aufgebraucht habe wie eine Packung dieser Happy Pills, [6] die man nur in Thailand kriegt, kann ich auf die schönen, die schlimmen und die krassen Momente zurückblicken und weiß wieder, wie es war, sechzehn zu sein.

Ich heiße Isabel. Vor sechs Monaten haben mein Bruder und ich die Stadt verlassen, in der viele unserer ersten Male stattfanden. Wir sind aus dem schicken London hierhergezogen, in ein billiges Hostel im Quartier Latin, in dem man die Zimmer gleich für mehrere Monate mieten kann. Ein halbes Jahr später wohnen wir immer noch in unserem winzigen, verrauchten Zimmer, und hier sitze ich jetzt und katalogisiere meine ersten Male. Rocco findet es nicht gut, dass ich meine Erinnerungen festhalte. Für ihn zählt nur die Gegenwart, und was in London passiert ist, will er hinter sich lassen. Dass ich das alles aufschreibe, macht die ganze Sache seiner Meinung nach nur komplizierter.

Auch ich würde manches gern vergessen, aber es geht mir nie wirklich aus dem Kopf. Doch wenn ich London erst auf diesen Seiten archiviert habe, kann ich die Stadt bestimmt endlich abhaken. Für mich ist dieses Tagebuch so etwas wie eine Sammlung, so wie andere Leute Käfern eine Nadel durch den Panzer bohren und sie auf einem Brett festpinnen. So ein Sammler würde doch auch nicht die Leidenschaft für sein Hobby verlieren, bevor nicht alle Käfer fein säuberlich hinter Glas aufgereiht sind. Erst dann würde er sie vielleicht in den Schrank legen und zugeben, dass dieses Hobby nur eine Phase war. Als ich das zu Rocco gesagt habe, hat er mich nur sehr ernst angesehen und gefragt, und was, wenn dieser Sammler jeden Käfer katalogisieren müsste, den er kennt? Wenn [7] er wirklich jede einzelne Spezies, die ihm unterkommt, erfassen müsste, bis die Käfer irgendwann völlig sein Leben bestimmen? Ich habe nur gelacht.

Vom Fenster aus kann ich die Stadt nicht sehen, nur die Backsteinwand des Wohnhauses gegenüber und eine kleine Seitenstraße voller Müllsäcke, gegen die gerade ein Mann pinkelt. Auf dem Tisch stehen vier Spielzeugsoldaten, auf dem Schrank das Modell eines Auges, und auf dem Bett liegen zwei rote Masken. Alles Überbleibsel aus London. In der Scheibe das verschwommene Spiegelbild von Rocco, der sich gerade zum Schlafen umzieht. Die halbmondförmige Narbe auf seiner rechten Schulter. Ich habe mir die Haare auf Schulterlänge abgeschnitten und dunkelbraun gefärbt. Dadurch sehe ich noch blasser aus als ohnehin schon. Ich trage keine Kontaktlinsen mehr, sondern stattdessen eine schmale Brille mit Metallgestell. Rocco sieht ohne seine dunklen Locken auch anders aus. Seine Gesichtszüge wirken härter, seine Augenbrauen und die Wangenknochen treten ohne die sanfte Umrahmung der Haare deutlicher hervor. Seine Augen sind riesige grüne Untertassen. Wir versuchen beide, ganz anders auszusehen als früher. Aber Rocco ist es viel wichtiger als mir. Er ist geradezu besessen von dem Gedanken, nicht wiedererkennbar zu sein.

Ich muss an den Sonntag im November denken, als Mum und Dad sich so gestritten haben. Es war nicht das erste Mal. Rocco und ich versuchten, Mums wütende Stimme zu ignorieren, die unablässig wie eine gutgeölte Maschine über Dads rostige Raucherstimme hinweg zu [8] hören war. Für Mum und Dad gab es keinen Mittelweg: Entweder hatten sie Sex oder Streit. Dad war ein kleiner, unscheinbarer Mann, der Tweedanzüge, Kaschmirpullover und Manschettenknöpfe mit den Initialen anderer Leute trug. Er sah irgendwie farblos aus, als wäre er zu oft gewaschen worden. Er war schrecklich dürr, sprach gehetzt und stotterte manchmal. Sein Gesicht hatte etwas Koboldhaftes, doch die Augen waren ernst. Mums Züge waren dagegen viel weicher, mit großen Augen und einem breiten Mund, der ihr Gesicht durchschnitt. Wenn sie ausging, trug sie immer knallroten Lippenstift. Rocco und ich fanden, dass sie ziemlich heiß aussah. Die beiden besaßen einen Antiquitätenladen für Kriegsmemorabilia, eine winzige rote Backsteinhöhle in Camden Lock. Gleich um die Ecke war der Fluss, dessen schmutzige Feuchtigkeit alles in der Nähe durchweichte. Sie verkauften allen möglichen Plunder, von alten Waffen, die nicht mehr funktionierten, bis hin zu Zinntellern. Im Laden roch es nach Waffenöl, Staub, Holz, abgestandenem Londoner Wasser und feuchten Backsteinen. Er befand sich in einem schmalen Haus, und wenn man drinstand, erwartete man automatisch eine Totenstille, weil alles so leblos aussah und einen der Anblick der vielen Antiquitäten inmitten der gelben Wände fast erschlug. Leider waren von oben immer Schritte zu hören, die die Stille kaputtmachten.

Als Mum und Dad unten anfingen zu streiten, machte ich gerade einen Handstand. Meine langen braunen Haare fielen auf meine Hände herab, und mir lief das Blut in den Kopf. Rocco lag quer auf seinem Bett, rauchte und [9] beobachtete mich lächelnd über die brennende Glut seiner Zigarette hinweg. Das tat er oft, er benutzte Bleistifte, Zigaretten oder ein Stück Papier, um seine Augen damit auf einen Punkt zu fokussieren. Rauch stieg auf und nahm ihm die Sicht. Er hielt die Zigarette waagerecht vor sich, und sein Blick wanderte darüber hinweg durch den Raum. Ich beendete meinen Handstand. Es war etwa sieben Uhr abends, die Nacht begann gerade, sich sanft wie ein Teewärmer über Camden Town zu legen. Unsere Dachkammer roch nach Haschisch und Parfüm, das Fenster war offen, deshalb war es nicht so stickig wie sonst. Rocco war achtzehn, ich sechzehn, und wir teilten uns immer noch ein Zimmer wie früher. Rocco grinste mich an, seine rechte Hand spielte mit dem Stoff der Bettdecke, die linke führte die Zigarette hin und her. Es ist sehr schwer, nicht zurückzulächeln, wenn Rocco einen so angrinst, selbstsicher und fest und mit diesem Hauch von Sarkasmus. Ich wollte irgendetwas sagen, das nichts mit Mum und Dad zu tun hatte, aber mittlerweile fluchten sie richtig, die Worte laut und abgehackt wie zerplatzende Luftballons.

Mum machte Dad gerade wie immer nach allen Regeln der Kunst fertig, auf einmal wechselte der Streit jedoch seinen Rhythmus, das Tempo veränderte sich, was uns zusammenzucken ließ, wie wenn jemand schief auf einer Geige herumkratzt. Ich stand auf und öffnete die Zimmertür, damit wir die beiden besser verstehen konnten. Inzwischen wurde geschrien, ihre Sätze überdeckten einander. Rocco und ich schlichen uns zur Treppe und [10] verharrten dort zusammengekauert wie früher, als wir noch klein waren, klammerten uns an das Geländer und spähten hinunter in den Flur. Es roch durchdringend nach Mums blumigem Parfüm, als würde sie es ausschwitzen, und der Duft vermischte sich unangenehm mit dem Rauch von Dads Zigarette.

Mum und Dad liebten Gelb, deshalb war der kleine Flur in einem klebrig gelben Ton gestrichen. Oben zierte die Wände ein beigefarbener Fries. Gegenüber der Treppe war die Haustür, links und rechts gingen Küche und Wohnzimmer ab. Mum trug einen seidenen Morgenmantel, der immer wieder aufglitt, mit einem Gürtel, der nicht dazu passte. Unter den Armen hatte sie Schweißflecke. Der Stoff war elektrisch geladen und schmiegte sich an ihre Beine, ihr Haar war wirr, und ein paar Strähnen klebten ihr an den schweißnassen Schläfen. Sie kaute unsicher auf ihrer Oberlippe herum, wodurch ihr Gesicht aus dem Gleichgewicht geriet. Dads weißes Hemd war ebenfalls von Schweiß verfärbt, ein schwarzer Gürtel hielt seine Anzughose fest. Die beiden standen voreinander, ihre Münder fraßen Worte und spuckten Flüche, ihre Gesichter verschwammen und zerbrachen, die Hände drückten Verzweiflung aus, die Körper waren angespannt. Bei ihrem Streit ging es um etwas, das Dad gekauft hatte, aber nicht wieder verkauft bekam. Sie tauschten die Plätze, bewegten sich umeinander herum wie zwei Magnetpole, die sich gegenseitig abstoßen, und dann sagte Mum etwas ein wenig lauter als der Rest dieses schiefen Liedes, und Dad schlug ihr ins Gesicht, dass sie zu Boden fiel. Sie schrie auf, und Rocco und ich rannten die Treppe [11] hinunter. Mums Lippen zitterten, Schweißtropfen standen in der Vertiefung zwischen Nase und Mund. Ich hatte noch nie zuvor erlebt, dass Dad sie geschlagen hatte. Das feuchte Klatschen war mir durch und durch gegangen.

»Keinen Schritt weiter«, sagte Dad. Ich hatte gerade das Ende der Treppe erreicht, aber Dad sah so ernst aus, dass ich mitten in der Bewegung erstarrte. Mein ganzes Gewicht lastete schmerzhaft auf dem vorderen Fuß. Ich wollte doch Mum helfen. Dad war eigentlich nie streng zu uns, deshalb sah...