dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Eine von vielen

Viktorija Tokarjewa

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604429 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

19,99 EUR


 

Angela kam vom Einkauf zurück. Sie hatte Waschmittel und Karotten besorgt.

»Dein ehemaliger Chef hat angerufen«, verkündete Innokenti. »Er hat eine Nummer hinterlassen und gebeten, dass du zurückrufst.«

[104] »Mach ich auf gar keinen Fall«, sagte Angela erschrocken.

Jelena hatte Angela rausgeschmissen, wobei sie ihr Diebstahl unterstellt hatte. Sie hatte behauptet, eine Brillantbrosche sei ihr abhandengekommen. Hatte sich aufgeführt, als wäre sie Queen Elizabeth persönlich.

Angela hatte eine solche Brosche nie zu Gesicht bekommen, bestand aber auch nicht auf einer weiteren Klärung der Angelegenheit. Sie hatte einfach ihre Sachen gepackt und war gegangen.

Das Telefon klingelte. Angela wartete, dass es aufhörte, aber es klingelte und klingelte.

»Na jetzt geh schon dran!«, rief Innokenti.

Angela nahm ab und hörte Nikolajs Stimme.

»Ich kann Sie nicht verstehen!«, rief Angela.

»Hör mir mal zu«, sagte der Exchef. Seine Stimme klang warmherzig.

»Was wollen Sie?«, fragte Angela misstrauisch.

»Das klingt aber unfreundlich«, bemerkte Nikolaj.

»Na ja…« Angela geriet ins Stocken. »Also gut, was möchten Sie?«

»Mit dir essen.«

»Was soll ich kochen?«

»Ich lade dich in ein Restaurant ein. Jemand anders kocht für uns… Wo wohnst du überhaupt?«

[105] »Novator-Straße sechs. Wieso?«

»Und wie ist die Nummer des Eingangs?«

»Eingang drei. Wieso?«

»Komm um acht zum Eingang drei.«

»Am Morgen?«, fragte Angela verwirrt.

»Na, wer geht denn morgens in ein Restaurant? Um acht Uhr abends natürlich.«

»Ich frag mal Kira Sergejewna.«

»Was fragst du sie?«

»Ob ich mit Ihnen ins Restaurant gehen darf.«

»Du bist doch volljährig. Du brauchst nicht zu fragen. Und um elf bist du wieder daheim.«

»So spät!«, rief Angela.

›Na, die ist ja noch eine richtige Landpomeranze‹, dachte Nikolaj. ›Das trifft sich gut.‹

Das Restaurant hatte einen Steinboden. Es war fast leer. Jedes Wort hallte wie in einem Bahnhof.

Ein junger Schwarzer kam an den Tisch und fragte in akzentfreiem Russisch, welchen Wein sie trinken wollten. Nikolaj nannte einen. Der Schwarze nickte.

»Wohnen Sie in Moskau?«, fragte Angela.

»In Mytischtschi«, antwortete der Schwarze.

»Nicht zu fassen«, sagte Angela staunend.

Der Schwarze ging davon.

Eine Kellnerin brachte grünes Öl und knuspriges Brot.

[106] »Nimm dir nicht den Appetit«, riet Nikolaj.

»Aber warum haben sie es dann gebracht, wenn man es nicht essen soll?«, fragte Angela verständnislos.

Sie sah Nikolaj an. Ohne Ehefrau war er ein anderer. Er war jünger, attraktiver. Er war ganz er selbst, und das stand ihm gut. Aber trotzdem hätte Angela seine Tochter sein können. Fast seine Enkelin. Er war ein Papilein, beinahe ein Opa.

Der Schwarze brachte eine Flasche. Er schenkte in die langstieligen Gläser ein. Nikolaj probierte, behielt den Wein eine Weile im Mund, bevor er schluckte. Dann nickte er wohlwollend. Es war ein richtiges Ritual.

Angela probierte auch. Säure, weiter nichts. Sie hätte es am liebsten wieder ausgespuckt, aber sie genierte sich.

Der Schwarze ließ die Flasche da und ging weg.

»Ich möchte, dass du zurückkommst«, sagte Nikolaj anstelle eines Toastes.

»Nein!«, schnitt ihm Angela das Wort ab. »Für Jelena Michailowna arbeite ich nicht mehr. Sie ist eine Lügnerin. Sie lügt, ohne rot zu werden.«

»Jelena Michailowna hat gar nichts damit zu tun. Ich möchte, dass du in meiner Moskauer Wohnung arbeitest.«

»Und weiß Ihre Frau das?«

[107] »Das geht sie gar nichts an. Wir leben in getrennten Territorien.«

›Es ist doch überall dasselbe‹, dachte Angela. Ihre Eltern wohnten auch in ›getrennten Territorien‹.

»Und was soll ich tun?«, fragte Angela.

»Genau dasselbe wie vorher. Kochen, putzen, aufräumen.«

»Und einen freien Tag bekomme ich auch?«

»Wenn du möchtest.«

»Ist es inklusive Wohnen, oder soll ich abends gehen?«

»Wie du möchtest.«

»Und der Lohn?«

»Sag mir, was du haben willst.« Nikolaj lächelte.

Er saß ganz zufrieden und entspannt da. Es war genau der richtige Moment, um mit ihm zu verhandeln, doch Angela war nicht wohl in ihrer Haut.

»Also, ich weiß nicht recht, wie viel ich verlangen soll… Sie sind ja jetzt allein, es wäre also weniger zu tun…«

»Ich bin nicht allein, du bist ja auch da«, korrigierte Nikolaj.

»Und werden Sie mir nachstellen?«

»Wie du möchtest…«

Das reinste Märchen. Als ob man sie eingeladen hätte, nicht das Aschenputtel zu sein, sondern die Prinzessin.

[108] Im Lokal erschien eine Gruppe von Musikern, drei junge Burschen. Einer setzte sich ans Klavier, ein anderer ans Schlagzeug, der dritte nahm eine Gitarre hervor.

Der Gitarrist war ein Kerl mit einem wie von einem Bildhauer gemeißelten Mund. Das war doch genau der, den sie bei dem Produzenten gesehen hatte. Also war es mit dem Produzenten nichts geworden, erriet Angela. Er hatte offensichtlich auch kein Geld, um sich groß rausbringen zu lassen. Aber in einem Restaurant konnte er auch so spielen.

Angela ging zu den Musikern. Sie hörte ihnen zu und beobachtete sie.

Die drei waren noch jung, aber schon ziemlich professionell. Sie beachteten Angela gar nicht, waren ganz in ihre Arbeit versunken.

Der Gitarrist hielt die Gitarre nach unten, er stimmte sie, wobei er den Kopf gesenkt hielt. Angela tat er irgendwie leid.

Angelas Augen strahlten, sie sandten Funken aus. Aber der Gitarrist sah und spürte es nicht. Er begann zu spielen, ließ die Finger über die Saiten gleiten, wobei er die Augen geschlossen hielt. Er schaukelte dabei leicht hin und her, es war fast, als meditiere er.

Der Drummer verneigte sich. Der Typ am Klavier fing an zu singen. Er sang ganz ruhig, als wenn er nur für sich selbst sänge.

[109] Eine Kellnerin trat zu Nikolaj. Sie brachte den ersten Gang.

Angela musste an den Tisch zurück.

So zog Angela schließlich in Nikolajs Stadtwohnung ein.

Nie im Leben hätte sie noch einmal Jelenas Territorium betreten, dafür war sie viel zu verletzt. Jelena hatte sie mit Schimpf und Schande davongejagt, sie des Diebstahls bezichtigt, statt ihr einfach ins Gesicht zu sagen: »Ich bin eifersüchtig.« Angela hätte das verstanden und wäre von selbst gegangen. Aber Jelena hatte sie erniedrigt und mit Füßen getreten. Als ob Angela eine Diebin wäre, ohne Ehrgefühl, bloß aus der Gosse, die Tochter von Säufern aus tiefster Provinz.

Letzteres mochte sie ja sein. Aber von Angela ging ein Blütenduft aus, auf den alle Bienen flogen. Jelena hingegen roch nach Fäulnis und Verfall. Man konnte sie nur bemitleiden. Und mit dem Treibstoff des Mitleids kann man nicht weit fahren. Weit fahren kann man nur mit dem Treibstoff der Leidenschaft. Und falls man doch nicht weit kommt, dann fährt man doch wenigstens schnell.

Die Nachricht, dass Nikolaj sich von der Familie getrennt hatte, verbreitete sich rasch. Ein reicher, [110] noch nicht alter Mann war frei geworden, ein Mann ohne schlechte Angewohnheiten, noch in der Blüte seiner Jahre.

Es begann eine richtige Jagd auf ihn. Anrufe, Einladungen, direkte Anträge. Junge, gebildete Frauen boten sich ihm an wie eine Pille auf der Hand. Man hätte diese Pille nur auf die Zunge legen und mit Wasser hinunterspülen müssen. Aber Nikolaj brauchte keine gestandenen reifen Frauen, auch wenn sie alle Vorzüge der Welt hatten. Er brauchte Angela, seine Kindfrau, die der Welt ohne Arglist treuherzig entgegentrat.

Sie schlief ruhig neben ihm wie ein kleines Tierchen. Ihr Atem war leicht und rein. Er schlief mit ihr von Angesicht zu Angesicht ein. Und er hatte Träume, die ebenso leicht und rein waren wie ihr Atem.

Morgens wachte sie auf, weil sie pinkeln musste. Sie ging durch das Morgenlicht, völlig nackt, mit ihrem kleinen zarten Busen, ihren schlanken Fesseln und Handgelenken, ihrem runden Hintern, der so vollkommen war, dass es schade war, dieses Brötchen geteilt zu sehen. Und nie hatte sich Nikolaj so stark und gut gefühlt wie jetzt, nicht einmal in seiner Jugend. Aber vielleicht kam ihm das auch nur so vor. Und außerdem kam es ihm vor, als würde es immer so bleiben. Er war seines Glückes Schmied, und alles hing nur von ihm ab.

[111] An Schicksal glaubte Nikolaj nicht. Er glaubte nur an sich selbst. Nichts war mehr wert als das Leben an sich. Und innerhalb des Lebens war nichts mehr wert als die Jugend. Und über die verfügte er. Er hatte einen Schatz gestohlen. Angela – das war sein Reichtum.

Das Bild seiner Frau und der Kinder tauchte kurz in seinem Bewusstsein auf und verdarben ihm die Laune. Aber nicht endgültig und auch nicht für lange. Nikolaj kaufte sich mit Geld von seinen Gewissensbissen los. Die Familie nahm das Geld an, sie glaubte nicht daran, dass er lange auf Abwegen sein würde. Die ganze Familie wartete darauf, dass sich Nikolaj eines Besseren besann und nach Hause zurückkehrte.

Die einzige reale Gefahr war eine Schwangerschaft der Geliebten.

Ein Kind, das ist für lange, praktisch für immer.

Angela wurde schwanger und trieb ab.

»Du Dummchen«, sagte Kira Sergejewna. »Du hättest ihn mit dem Kind binden können. Er hätte dich geheiratet.«

»Wozu hätte das gut sein sollen?«, fragte Angela naiv.

»Ein Kind, das ist eine lebenslange Pension. Er hätte...