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Oh...

Philippe Djian

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604320 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

 

[7] Wahrscheinlich habe ich mir die Wange aufgeschürft. Sie brennt. Mein Kiefer schmerzt. Ich habe eine Vase umgeworfen, als ich hingefallen bin, ich erinnere mich, wie sie auf dem Boden zerbarst, und ich frage mich, ob ich mich nicht mit einem Glassplitter verletzt habe, ich weiß es nicht. Draußen scheint immer noch die Sonne. Es ist warm. Langsam komme ich wieder zu Atem. Ich spüre, dass ich in ein paar Minuten eine schreckliche Migräne bekommen werde.

Vor zwei Tagen bewässerte ich meinen Garten. Als ich zum Himmel aufblickte, erschien mir ein beunruhigendes Zeichen. Eine Wolke mit einer unmissverständlichen Form. Ich sah mich um, ob es sich an jemand anderen richtete, aber da war niemand. Und es war nichts zu hören, nur ich beim Gießen, kein Wort, kein Schrei, kein Lufthauch, kein einziges Maschinengeräusch – dabei ist hier weiß Gott fast immer irgendwo ein Rasenmäher oder Laubbläser im Einsatz.

Im Allgemeinen bin ich für Fingerzeige der Außenwelt sehr empfänglich. Ich kann mich tagelang zu Hause einschließen, keinen Fuß vor die Tür setzen, wenn ich den unsteten Flug eines Vogels – der womöglich noch von einem durchdringenden Schrei oder einem düsteren Krächzen begleitet ist – als schlechtes Omen empfinde, oder wenn ein Strahl Abendsonne durchs Blätterdach fällt und mich [8] merkwürdigerweise mitten ins Gesicht trifft, oder wenn ich mich bücke, um einem auf dem Gehweg sitzenden Mann etwas Geld zu geben, und der mich plötzlich am Arm packt und anbrüllt: »Die Dämonen, die Fratzen der Dämonen… Aber wenn ich ihnen mit dem Tod drohe, ha, dann gehorchen sie mir…!!« – und den Satz stieß er nicht nur einmal hervor, sondern wieder und wieder, ohne mich loszulassen, mit weit aufgerissenen Augen –, da ließ ich, als ich an diesem Tag nach Hause kam, mein Zugticket stornieren, vergaß augenblicklich den Grund für meine Reise und verlor jegliches, aber wirklich sämtliches Interesse daran, denn ich war keine Selbstmordkandidatin und nicht taub für die Warnungen, Botschaften und Zeichen, die man mir schickte.

Mit sechzehn habe ich nach einem Besäufnis bei den Fêtes de Bayonne ein Flugzeug verpasst, das dann abgestürzt ist. Ich habe lange darüber nachgedacht. Danach habe ich mich entschieden, künftig gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um mein Leben zu schützen. Ich war zur Überzeugung gelangt, dass solche Dinge existieren, und habe die Spötter spotten lassen. Ich könnte keinen Grund dafür nennen, aber die Zeichen des Himmels erschienen mir stets als die treffendsten und zwingendsten, und eine Wolke in Form eines X – das kommt selten genug vor und hätte umso mehr meine Aufmerksamkeit erregen müssen – kann mich eigentlich nur zur Vorsicht mahnen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Warum hatte meine Wachsamkeit so sehr nachgelassen? Selbst wenn es ein bisschen – eigentlich mehr als ein bisschen – an Marty lag. Ich schäme mich schrecklich. Aber ich bin auch schrecklich wütend. Wütend auf mich selbst. Da ist eine Kette an meiner Tür. Da ist eine verdammte Kette [9] an meiner Tür, habe ich das etwa vergessen? Ich stehe auf und hake sie ein. Ich beiße einen Moment auf meine Unterlippe und verweile regungslos. Außer der zerbrochenen Vase kann ich keinerlei Unordnung entdecken. Ich gehe hoch und ziehe mich um. Vincent kommt mit seiner Freundin zum Abendessen, und ich habe noch nichts vorbereitet.

Die junge Frau ist schwanger, aber das Kind stammt nicht von Vincent. Ich sage nichts mehr dazu. Ich kann ohnehin nichts machen. Ich habe nicht mehr die Kraft, mich mit ihm herumzustreiten. Und auch keine Lust mehr. Als mir bewusst wurde, wie sehr er nach seinem Vater kommt, hätte ich fast den Verstand verloren. Sie heißt Josie. Sie sucht nach einer Wohnung für Vincent und sich selbst, und natürlich für das angekündigte Baby. Als wir über die Mietpreise in der Hauptstadt sprachen, tat Richard so, als bereiteten sie ihm körperliche Schmerzen. Er ging schimpfend auf und ab, das hat er sich so angewöhnt. Mir fällt auf, wie sehr er gealtert, wie freudlos er in den letzten zwanzig Jahren geworden ist. »Hä, ist das für ein Jahr oder für einen Monat?«, meinte er und schaute grimmig. Er sei nicht sicher, ob er das Geld aufbringen könne. Während ich ja seiner Meinung nach ein großzügiges und geregeltes Einkommen beziehe.

Natürlich.

»Du wolltest einen Sohn«, sagte ich zu ihm. »Vergiss das nicht.«

Ich habe ihn verlassen, weil er unerträglich geworden war, und heute ist er unerträglicher denn je. Ich ermuntere ihn immer wieder dazu, wieder mit dem Rauchen anzufangen oder gar zu joggen, um diese mimosenhafte Bitterkeit loszuwerden, die ihn die meiste Zeit umtreibt.

[10] »Nichts für ungut, aber du kannst mich mal«, sagte er zu mir. »Ich bin jedenfalls gerade pleite. Ich dachte, er hätte einen Job gefunden.«

»Keine Ahnung. Sprecht doch mal darüber.«

Auch mit ihm will ich mich nicht mehr herumstreiten. Ich habe mehr als zwanzig Jahre meines Lebens mit diesem Mann verbracht, aber manchmal frage ich mich, woher ich die Kraft dafür genommen habe.

Ich lasse mir ein Bad einlaufen. Meine Wange ist rot und sogar ein bisschen gelb, wie aus Ton, und im Mundwinkel ist ein kleiner Blutstropfen zu sehen. Meine Frisur ist ordentlich durcheinander – ein Gutteil meines Schopfs hat sich aus der Haarklammer gelöst. Ich schütte Badesalz in die Wanne. Eigentlich ist das verrückt, denn es ist schon fünf Uhr nachmittags, und ich kenne Josie, dieses Mädchen, nicht sonderlich gut. Ich weiß nicht so recht, was ich von ihr halten soll.

Dabei herrscht ein unglaublich schönes und sanftes Licht, meilenweit entfernt von jeglichem Gefühl einer Bedrohung. Ich kann es kaum glauben, dass mir so etwas bei einem derart blauen Himmel und derart schönem Wetter passieren konnte. Das Badezimmer ist von Sonnenlicht durchflutet, ich höre Geschrei, Kinder spielen in der Ferne, der Horizont glitzert, Vögel, Eichhörnchen usw.

Wie gut das tut. So ein Bad ist wunderbar. Ich schließe die Augen. Ich kann nicht sagen, dass ich alles ausgelöscht habe, aber ich bin wieder voll bei Sinnen. Die erwartete Migräne bleibt aus. Ich telefoniere mit einem Feinkostladen und lasse mir Sushi kommen.

Ich habe schon Schlimmeres erlebt, und das mit Männern, die ich mir selbst ausgesucht hatte.

[11] Nachdem ich die großen Stücke der Vase aufgelesen habe, staubsauge ich die Stelle, an der ich gestürzt bin – bei dem Gedanken, dass ich hier vor einigen Stunden mit klopfendem Herzen auf dem Boden lag, fühle ich mich wieder ziemlich unwohl. Und als ich mir gerade einen Drink machen will, bekomme ich doch tatsächlich eine Nachricht von Irène, meiner Mutter, die fünfundsiebzig Jahre alt ist und die ich seit einem Monat nicht gesehen habe – geschweige denn gehört. Sie behauptet, sie habe von mir geträumt, ich hätte sie zu Hilfe gerufen – dabei habe ich überhaupt nicht nach ihr gerufen.

Vincent scheint mir meine Geschichte nicht ganz abzunehmen. »Dein Fahrrad hat nicht einmal einen Kratzer«, sagt er zu mir. »Das ist doch irgendwie seltsam.« Ich schaue ihn kurz an, dann zucke ich mit den Schultern. Josie ist knallrot. Vincent hat sie eben grob am Handgelenk gepackt und gezwungen, die Erdnüsse wieder zurückzulegen. Anscheinend hat sie schon über zwanzig Kilo zugenommen.

Sie passen überhaupt nicht zusammen. Richard, der sich damit kein bisschen auskennt, hat mir versichert, dass solche Mädchen im Bett oftmals richtige Feger seien – was soll das denn heißen: ein richtiger Feger im Bett? Derweil sucht sie eine Dreizimmerwohnung mit mindestens hundert Quadratmetern, und in ihrem Wunschviertel findet man in der Größe nichts unter dreitausend Euro.

»Ich habe mich bei McDonald’s beworben«, sagt er. »Das ist schon mal ein Anfang.« Ich bestärke ihn in seinem Entschluss – vielleicht könnte er es aber auch mit etwas Ambitionierterem versuchen? Eine Schwangere zu versorgen ist teuer. »Lass dir das gesagt sein«, hatte ich zu ihm gesagt, noch [12] bevor er sie mir vorstellte. »Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt«, hatte er mir geantwortet. »Ich pfeif auf deine Meinung.«

So redet er mit mir, seit ich seinen Vater verlassen habe. Richard ist ein hervorragender Schauspieler. Und Vincent sein dankbarster Zuschauer. Als wir vom Essen aufstehen, mustert er mich erneut misstrauisch: »Was ist nur mit dir los? Da stimmt doch was nicht.« Ich denke natürlich ständig daran, während des gesamten Essens hat es mich nicht losgelassen. Ich frage mich, ob die Wahl zufällig auf mich gefallen ist oder ob mir jemand nachgestellt hat, ob es eine Person ist, die ich kenne. Ihre Probleme mit Mieten oder Kinderzimmern interessieren mich nicht, aber ich staune, wie sie sich abmühen, ihr Problem, soweit es irgend möglich ist, zu meinem zu machen. Ich mustere ihn kurz und versuche mir sein Gesicht vorzustellen, wenn ich ihm erzählen würde, was mir heute Nachmittag passiert ist. Aber das fällt nicht mehr in meinen Bereich. Mir die Reaktionen meines Sohnes vorzustellen steht nicht mehr in meiner Macht.

»Hast du dich geprügelt?«

»Geprügelt, Vincent?« Ich pruste kurz los. »Geprügelt?!«

»Hast du dich mit jemand gekloppt?«

»Oh, also wirklich, red kein dummes Zeug. Es ist nicht meine Art, mich zu ›kloppen‹. Mit wem auch.«

Ich stehe auf und gehe zu Josie auf die Veranda. Der Abend ist angenehm kühl, dennoch fächelt sie sich Luft zu, weil sie fast umkommt vor Hitze. Die letzten Wochen sind die schlimmsten. Nicht um alles in der Welt hätte ich es noch mal durchmachen...