dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Alta moda - Guarnaccias elfter Fall

Magdalen Nabb

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605853 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

[5] 1


Ich gebe mir ja die größte Mühe und will Ihnen auch alles sagen, aber vielleicht wird das, was ich mir gemerkt habe, Ihnen gar nicht weiterhelfen. Als nächstes haben sie mir jedenfalls die Uhr abgenommen, und da ich weder sehen noch hören konnte, war meine Wahrnehmung zeitweise ziemlich verschwommen, und wer weiß, ob mir nicht Minuten oder Tage, vielleicht sogar Wochen abhanden gekommen sind.

An den Überfall erinnere ich mich allerdings genau, schon weil ich mir den in den ersten Tagen wohl tausendmal ins Gedächtnis gerufen und darüber nachgegrübelt habe, was ich hätte tun, wie ich mich hätte verhalten sollen. Oder ich habe mir den Anschlag so zurechtphantasiert, daß ich entkam, sei es, weil ich um Hilfe schrie, weil zufällig ein Passant zur Stelle war oder weil Leo mir entgegenkam – das tat er nämlich manchmal. Ich vertrieb mir die Zeit mit solchen Phantasmagorien, die freilich an meiner unglücklichen Lage ebenso wenig änderten wie an dem Geschehen jener Nacht. Als ich Tessie an dem Abend ausführte, ging ein eisiger Wind. Ich habe das Brausen noch in den Ohren und den Krach, mit dem hin und wieder ein herabstürzender Dachziegel auf dem Pflaster zerschellte oder ein schlechtgesicherter Fensterladen [6] aufsprang. Tessie zerrte so stürmisch an der Leine, wie sie das ständig tut. Mich verblüfft es immer, wie sie mit ihren Säbelbeinen so ein Tempo vorlegen kann. – Sie haben so lange auf sie eingeschlagen und sie getreten, bis sie laut aufjaulte. Aber darüber mag ich nicht sprechen.

Wir kamen eben zurück auf unsere Piazza, ich wollte schon das Tor aufstoßen … und dann … Filmriß.

Im Dunkeln rotierte etwas dicht vor meiner Nase, das aussah wie die Flügel eines Ventilators, und der ganze Globus schien sich mitzudrehen. Ich verspürte einen heftigen Brechreiz, bekam auch keine Luft mehr. Es roch nach Chloroform, also glaubte ich, ich sei im Krankenhaus und würde gerade, frisch operiert, aus der Narkose aufwachen. Hier ist doch sicher ein Kübel, in den ich mich übergeben kann, dachte ich noch, und dann muß ich wieder ohnmächtig geworden sein.

Ich weiß, wie fatal dieser Ausfall für Sie ist, weil ich Ihnen nicht sagen kann, wie lange ich schon in dem Auto war, als ich wieder zu mir kam. Jedenfalls fand ich mich auf dem Boden zwischen Vorder- und Rückbank eingeklemmt wieder, das Gesicht in die Fußmatte gepreßt, Nase und Mund von Staub und Fusseln verklebt. Durch das Beben der Karosserie unter mir erriet ich, daß der Wagen mit hohem Tempo fuhr, wahrscheinlich auf der Autobahn, denn es ging immer geradeaus. Ich war mit irgend etwas zugedeckt, ich glaube, es war eine Lederjacke, und sie stank nach Schweiß und säuerlichem Fett. Als ich sie abstreifen wollte, weil ich darunter keine Luft bekam, merkte ich, daß meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.

[7] »Ich halt das nicht aus! Ich ersticke, wenn Sie mir das nicht vom Kopf nehmen!«

Die Antwort war ein brutaler Tritt in die Rippen. Über mir saß jemand, die Füße auf meinen Körper gestemmt. Ich versuchte, den Kopf zu heben.

»Ich muß doch atmen können! Bitte!«

Er trat gegen meinen Kopf und knurrte: »Das Luder kommt zu sich.« Erst ein Rascheln, dann hörte es sich an, als ob ein Stück Stoff entzweigerissen würde. Der hinter mir zerrte mich an den Haaren hoch, und seine Stimme drang mir direkt ins Ohr.

»Untersteh dich ja nicht noch mal, mich herumzukommandieren. Hörst du? Du bist hier nicht in deinem protzigen Palazzo. Hier bestimme ich, kapiert?«

»Ja …«

Er schob mir die Stiefelspitze unters Kinn und zog meinen Kopf näher zu sich heran. Dann klatschte er mir ein breites Pflaster über den Mund und drückte es fest, ehe er meinen Kopf wieder zu Boden stieß und noch enger in die übelriechende Jacke wickelte. Vor Angst war ich wie von Sinnen. Ich hatte den Mund voll Dreck, und das Pflaster zwang mich, den unerträglichen Gestank tief durch die Nase einzuatmen. Völlig entnervt begann ich zu schreien, oder vielmehr: Ich versuchte es, aber die Schreie blieben mir im Halse stecken, und ich brachte nichts als ein schmerzhaftes Röcheln zustande.

Von vorn, aber nicht vom Fahrersitz her, brüllte eine Stimme: »Was machst du da, verdammt noch mal?«

»Ich hab ihr den Mund zugeklebt. Das Luder wollte hier rumkrakeelen.«

[8] »Runter damit, du Blödmann, aber dalli! Wenn sie auf das Chloroform hin brechen muß, dann erstickt sie uns doch unter dem Pflaster. Also runter damit!« Ich hörte Tessie winseln, dann ein Jaulen, als ob man sie getreten hätte.

Die Finger, die unter meiner Nase herumfuchtelten, rochen nach Nikotin. Mit angehaltenem Atem wartete ich, bis er mir das Pflaster vom Mund riß. Beim Ankleben hatten sich ein paar Haare darin verfangen, die nun mit ausgerissen wurden, was so höllisch weh tat, daß ich anfing zu weinen. Die Streitenden bemerkten es nicht einmal. Der Mann auf dem Vordersitz schäumte.

»Du rührst sie nur an, wenn ich es sage! Ich hafte für die Ware, also hört alles auf mein Kommando, klar?!«

Mit Speichel und Zähnen versuchte ich, meine Zunge von Dreck und Fusseln zu befreien. Um mich einigermaßen vor dem abgestandenen Schweißgeruch zu schützen, atmete ich nur noch durch den Mund. Der Arm, auf dem ich lag, war eingeschlafen, aber ich wagte nicht, mein Gewicht zu verlagern, teils aus Angst vor dem Schmerz, der mit dem wiedererwachenden Gefühl einsetzen würde, teils aus Furcht vor einem neuerlichen Stiefeltritt.

Ich war immer noch ganz benommen von dem Chloroform, aber obwohl es vielleicht Linderung bedeutet hätte, wollte ich um keinen Preis wieder einschlafen. Denn angesichts meiner Erstickungsängste, der Finsternis und der Unfähigkeit, mich zu bewegen, wäre Schlaf fast gleichbedeutend mit Tod gewesen. Ich beschloß, mich mäuschenstill zu verhalten, damit der Mann über mir mir nichts tat, und spitzte im übrigen die Ohren, um mögliche [9] Anhaltspunkte für Fahrtzeit und -richtung aufzuschnappen. Vergebens. Seit dem Streit über das Pflaster herrschte Schweigen. Was hatte ich auch erwartet? Daß plötzlich einer sagen würde: Ach, guck mal, die Abzweigung nach da und da?

Unter mir die Fahrbahn, Kilometer um Kilometer. Über mir die Last ihres Schweigens. Der widerliche Geruch. Sonst nichts. Einmal kam mir der Gedanke: Das ist so absurd, daß es einfach nicht wahr sein kann. Es ist ein Alptraum, einer von der Sorte, in denen man nicht von der Stelle kommt. Nur ein bißchen Geduld, und bald werde ich zu Hause aufwachen, in einer Welt, in der es Typen wie die gar nicht gibt.

Der Alptraum ging jedoch nicht zu Ende, nur die Autofahrt. Durch die Erschütterungen des Wagenbodens unter mir spürte ich, daß wir die Straße gewechselt hatten: Erst kam eine kurvenreiche Strecke mit etlichen Kreuzungen, dann ein holpriger Feldweg. Der Wagen hielt an. Als sie mich in die eisige Nachtluft hinauszerrten, war ich froh, daß ich für die Abendrunde mit Tessie den dicken Schaffellmantel angezogen hatte und die bequemen Pelzstiefel … Verzeihen Sie.

Nein, bitte nehmen Sie sich meine Tränen nicht zu Herzen. Eigentlich weine ich ja gar nicht, das sind nur der aufgestaute Schmerz und die Anspannung, die sich so ein Ventil schaffen. Als ob mein Körper an meiner Statt weinen würde, Sie verstehen? Da, sehen Sie, ich kann gleichzeitig lächeln, das beweist doch, daß es nur eine körperliche Reaktion ist. Schließlich habe ich jetzt ja auch allen Grund, glücklich zu sein, nicht wahr?

[10] Dann nahmen sie sich Tessie vor und traktierten sie mit Fußtritten, bis einer sie packte und in hohem Bogen in die Dunkelheit schleuderte.

Wir gingen zu Fuß weiter. Ich hätte nicht mal die Hand vor Augen sehen können. Um mich herrschte vollkommene Dunkelheit, jene bedrückende, sinnverwirrende Finsternis, in der man rasch das Gleichgewicht verliert. Hinzu kam der Kampf gegen den stürmischen, eisigen Wind. Die Männer trieben mich schubsend und zerrend vorwärts. Diese erste Etappe war jedoch nicht lang. Sie führten mich erst über einen steinigen Schotterpfad, dann über weiches Erdreich mit vereinzelten wuchtigen Steinplatten, dann über kurzgeschorene Grasbuckel. Sehen konnte ich, wie gesagt, nichts, spürte aber die wechselnde Bodenbeschaffenheit durch die Gummisohlen meiner Stiefel. Nach einiger Zeit ging es bergauf, und ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, weil meine Hände immer noch gefesselt waren und die schwarze Finsternis ringsum keinerlei Orientierungshilfe bot. Einmal stolperte ich und prallte, da ich keinen Arm frei hatte, um mich aufzufangen, gegen meinen Vordermann. Der revanchierte sich fluchend mit einem so brutalen Fußtritt, daß ich den Schmerz durch den Stiefel hindurch spürte. Außerdem verlor ich vollends das Gleichgewicht und stürzte. Jemand riß mich an den Haaren hoch.

»Auf, auf, Contessina! Vorwärts, marsch.«

Als ich hochkam, verspürte ich plötzlich einen schmerzhaften Druck auf die Blase, gegen den ich, ob unter dem Einfluß der Kälte oder der Nachwirkungen der Narkose, einfach machtlos war.

[11] »Ich muß mal austreten.«

Sie schubsten mich seitwärts. »Dann mach zu!«

Der Mantel war mir im Weg, außerdem trug ich eine Hose mit seitlichem Reißverschluß. »Es geht nicht! Meine Hände!«

Da banden sie mich los, doch es war zu spät. Ich hatte mich schon naß gemacht, und ins Gras ging wohl bloß noch die Hälfte. Ich fror erbärmlich in den naßgepinkelten Hosen. Was immer die mit mir vorhaben, ich werde es nicht überleben, dachte ich. Und es sind nicht...