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Tod im Frühling - Ein Fall für Guarnaccia

Magdalen Nabb

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605891 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[7] 1


Das ist ja nicht zu fassen! Heute ist doch schon der erste März …«

»Aber es ist so, sieh doch selbst!«

»Das sind sicher irgendwelche Samen im Wind.«

»Was für ein Wind? Ich sag dir, es ist Schnee!«

Die gesamte Bevölkerung von Florenz hatte sich beim Aufwachen vor Verwunderung und Verwirrung die Augen gerieben. Fensterläden wurden aufgestoßen, und das Phänomen wurde quer über Höfe und enge Straßen lautstark kommentiert.

»Es schneit!«

In den letzten fünfzehn Jahren hatte es in der Stadt nur ein einziges Mal geschneit, und das war mitten im Winter gewesen. Ein eisiger Wind aus der Russischen Steppe war über die italienische Halbinsel gefegt und hatte die Straßen unter einer lähmenden weißen Decke begraben. Aber heute war der erste März. Um es noch unglaublicher zu machen, war es in den letzten zwei Wochen sogar außergewöhnlich warm gewesen, die ersten Touristen – immer die Deutschen – schlenderten schon in hellen Kleidern durch die Stadt, und die Frauen boten der fiebrigen Februarsonne ihre fülligen weißen Arme dar. Normalerweise entledigten sich die Florentiner ihrer grünen Lodenmäntel frühestens Ende April, aber einige hatten sich diesmal täuschen lassen und bereits die ersten Blumentöpfe mit Geranien auf ihre Fensterbretter gestellt. Und an den milden Abenden waren schon viele halbgeöffnete Fensterläden zu sehen, und dahinter gelbe Lichtstreifen und die Silhouetten der Hausbewohner, die das Treiben auf der Piazza beobachteten, als wäre schon Sommer. Nur die Winzer und die Getreidebauern in den umliegenden Hügeln beklagten sich über das Wetter. Schließlich hätte [8]es zu dieser Jahreszeit regnen sollen. Aber es schneite, und die Menschen hätten nicht überraschter sein können, wenn Konfetti vom Himmel herabgerieselt wären.

Der morgendliche Stoßverkehr hatte um acht Uhr in einem fahlen, kalten Licht begonnen. Hoch oben in den erleuchteten Wohnungen drückten kleine Kinder ihre Nasen gegen die Fensterscheiben und wischten Hauchflecken weg oder malten mit einem Finger darin herum.

Der Himmel war so leer, daß der Schnee scheinbar aus dem Nichts herabfiel. Er erschien plötzlich zwischen den hohen Steingebäuden, in großen nassen Flocken, die auf die Straße schwebten und verschwanden. Auf den Gehsteigen und in den Rinnsteinen, die durch die Dachvorsprünge der Häuser geschützt waren, hinterließen sie nur einen feuchten, gesprenkelten Streifen.

Die Menschen, die auf der winzigen Piazza San Felice auf den Bus warteten, stellten mit einem besorgten Blick zum Himmel den Mantelkragen hoch und fragten sich, ob sie nicht besser Schal und Handschuhe angezogen hätten. Dabei war es nicht einmal kalt! Das ganze war vollkommen unerklärlich. An der Ecke ihnen gegenüber stand Wachtmeister Guarnaccia von der Carabinieri. Er postierte sich oft dort, wenn er seinen Kaffee in der Bar getrunken hatte. Gleich neben ihm stand eine Gruppe plaudernder Mütter. Sie hatten gerade ihre Kinder in die Obhut einer Nonne gegeben, die nun ihre Schützlinge in den Kindergarten neben der Kirche führte. Obgleich der Wachtmeister den Kragen seines schwarzen Uniformmantels mit einer automatischen Geste hochstellte, war er der einzige, der nicht auf den Schnee starrte. Seine Aufmerksamkeit galt der Trattoria auf der anderen Straßenseite. Die Lampen, die in Kugelbündeln von der Decke hingen, brannten noch, und der Sohn des Besitzers fegte in einer schmutzigen weißen Schürze lustlos den Boden und starrte mit leerem Blick hinaus auf das Wetter, nachdem er hinter der Glastür Sägespäne verstreut hatte. Der Junge [9]war dünn und pickelig und hatte schwarze Haare. Er war erst sechzehn, doch Wachtmeister Guarnaccia hatte ihn schon auf der Treppe vor der Kirche Santo Spirito beim Heroinspritzen gesehen. Er hatte bei den Fixern gesessen, die dort immer hockten, und sich verstohlen umgeblickt, wie es nur die tun, die erst seit kurzem an der Nadel hängen.

Der Bus der Linie 15 fuhr vor und versperrte dem Wachtmeister die Sicht. Auch im Bus war die Beleuchtung eingeschaltet, und alle Fahrgäste starrten hinaus, wie hypnotisiert von den großen Flocken, die langsam an den Scheiben vorbeischwebten. Obwohl der Wachtmeister als Sizilianer mehr Grund gehabt hätte, sich über den Schnee zu wundern als die Florentiner, schenkte er ihm immer noch keinerlei Beachtung. Er war zu sehr mit den Problemen beschäftigt, die ihn bedrückten. Zum einen war da die Frage, was – wenn überhaupt – er dem Vater des Jungen sagen sollte, und dann war da auch noch ein Fall, der in den nächsten Tagen vors Berufungsgericht ging. Trotzdem sollte er sich später nur zu gut an den Schnee erinnern, wenn ihn ein Zeuge nach dem andern zur Verzweiflung bringen und er immer wieder die gleiche, mit dem gleichen bedauernden Lächeln vorgebrachte Antwort zu hören bekommen würde:

»Ehrlich gesagt, mir ist da nichts aufgefallen. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber an dem Morgen hat es geschneit … Was sagen Sie dazu, Schnee mitten in Florenz, und das auch noch im März …«

Der Bus blinkte und fuhr davon. Der Junge hatte seinen Besen stehen lassen und war im Hinterraum der Trattoria verschwunden. Auf das Feuer, über dem das Fleisch geröstet wurde, hatte man die ersten großen Scheite gelegt, und die ersten Flammen züngelten daran hoch. Über dem hohen Gebäude trieb blauer Holzrauch unentschlossen zwischen den lockeren Schneeflocken umher, und sein süßer Duft gesellte sich zu den vorherrschenden morgendlichen Gerüchen von Kaffee und Autoabgasen.

[10]Der Wachtmeister sah auf seine Uhr. Wenn er noch wie geplant beim Gefängnis vorbeigehen wollte, hatte er jetzt keine Zeit mehr, wegen des Jungen irgend etwas zu unternehmen. Es war vielleicht sowieso besser, erst einmal zu versuchen, mit dem Jungen direkt zu reden und den Vater aus dem Spiel zu lassen. Und außerdem war es mehr als wahrscheinlich, daß entweder der eine oder der andere oder beide ihm sagen würden, daß er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Er seufzte und schickte sich an, die Straße zu überqueren. Auf der linken Seite kam ein Auto herangefahren und blinkte lange angesichts des endlosen Verkehrs, der ihm von der Via Romana entgegenkam. Vorne saßen zwei Mädchen, und von hinten beugte sich jemand zwischen sie, ganz hinter einem riesigen Stadtplan verborgen, und versuchte vermutlich, der Fahrerin den Weg zu erklären. Noch mehr Touristen. Die Invasion begann Jahr für Jahr früher und machte es einem unmöglich, in den überfüllten, engen Straßen seinen normalen Geschäften nachzugehen. Erst am Tag zuvor hatte die Nazione einen Leserbrief veröffentlicht, in dem jemand den ironischen Vorschlag machte, der Bürgermeister solle doch den Florentinern irgendwo draußen in den Hügeln einen Lagerplatz einrichten, da in ihrer eigenen Stadt kein Platz mehr für sie sei. Der Tourismus brachte zwar beträchtliche Einnahmen, aber trotzdem haßten die Florentiner diese jährliche Invasion.

Auch für die sardischen Dudelsackpfeifer, die zwischen Weihnachten und Ostern selten zu sehen waren, war es noch zu früh. Doch als der Wachtmeister zu seinem Posten an der Piazza Pitti hinüberging, kam ihm einer entgegen, eingehüllt in einem langen schwarzen Schäferumhang, den Windbalg aus weißem Schafsleder unter einen Arm geklemmt. Er spielte stockend und ziemlich falsch, und niemand beachtete ihn oder gab ihm Geld. Automatisch warf der Wachtmeister einen Blick zur anderen Straßenseite, in der Erwartung, den zweiten Pfeifer zu sehen, der normalerweise auf einer [11]kleinen, oboenähnlichen Flöte die Melodie spielt, doch er war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er gerade in einem der Geschäfte und bettelte. Der Wachtmeister hatte keine Zeit rumzustehen und ging den ansteigenden Vorplatz des Palazzo Pitti hinauf, quetschte seinen entschieden übergewichtigen Körper zwischen den dichtgeparkten Autos durch und verschwand links unter dem steinernen Torbogen.

Als er den Kopf durch die Tür seines Büros steckte und mitteilte, daß er den Wagen nehmen würde, fügte er hinzu, als wäre es ihm eben eingefallen: »Es schneit …«

In den Chianti-Hügeln vor Florenz schneite es stärker, und der Himmel blieb den ganzen Tag verhangen und weiß. Die lockeren Flocken schmolzen schnell auf den steinigen, ockerfarbenen Straßen, doch konnten sie sich an den gerade sprießenden Weizen klammern. An den Olivenbäumen trug jedes der steifen kleinen Blätter eine Oblate aus Schnee. Es gab keinen Frost und offensichtlich bestand auch keine Gefahr, daß es welchen geben könnte. Die Bauern, die aus den vergitterten Fenstern der Castellos, Villen und Bauernhäuser blickten, betrachteten dieses unerwartete, doch harmlose Wetter ohne großes Interesse und bemerkten nur mit einem zweifelnden Blick zum fahlen Himmel: »Regen brauchen wir, nicht Schnee.«

Aber es schneite den ganzen Tag. Am frühen Abend wurde aus dem Schnee Schneeregen, und gegen Mitternacht regnete es bereits heftig. Der Regen füllte dunkle Gräben, Furchen und Schlaglöcher und spülte die Last von den kleinen Bäumen. Um vier Uhr morgens blitzten die Scheinwerfer eines Lieferwagens durch den starken Regen und beleuchteten ein Stück der ungeteerten Straße, die die beiden Bergdörfer Taverna und Pontino verband. Der Lieferwagen hielt an, und die Scheinwerfer gingen aus. Einige Augenblicke später setzte der Wagen zurück, wendete und fuhr mit verschwimmenden roten Hecklichtern davon.

[12]Als das Motorengeräusch verklungen war, hörte man in der Dunkelheit schlurfende Schritte. Als sie am Tor eines Bauernhauses vorbeikamen, schlug ein Hund...