dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Farben der Hoffnung

Lavanya Sankaran

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604382 , 464 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[7] 1

Anand K. Murthy hatte zwei Fenster in seinem Büro. Durch das eine, ein schmales Fenster mit schwergängigem Riegel, das er nur mit Mühe aufbekam, sah man einen kleinen Ausschnitt des Fabrikgeländes. Das andere, das er lieber mochte, war ein schalldichtes Panoramafenster mit Blick in eine Produktionshalle. Die Zeiten, als Anand die Arbeitsabläufe noch Tag für Tag penibel überwachen musste, waren längst vorbei, doch dieser Anblick verschaffte ihm stets aufs Neue eine tiefe Befriedigung.

Hier stand er nun und spürte, wie sich das Gewicht des morgigen Tages auf ihn niedersenkte. Er neigte eigentlich nicht zur Nervosität, doch heute erlebte er fraglos eine Art Phantomversion davon: trockener Mund, beschleunigte Atmung, ein unkontrollierbares Pulsieren, das seine Wirbelsäule hinauf- und hinabjagte. Er griff nach dem Glas Wasser, das auf einem indigoblauen Plastikuntersetzer mit dem orange geprägten Schriftzug CAUVERY AUTO stand.

Ein Klopfen an der offenen Tür; er setzte das Glas ab und lächelte freundlich.

»Herein, herein, guten Morgen.« Der Anblick von Mr. Ananthamurthy hatte etwas Beruhigendes.

Der Betriebsleiter arbeitete schon seit den ersten Anfängen der Firma für Anand. Vor fünfzehn Jahren war [8] Ananthamurthy ein älterer Mann gewesen, hinter dessen ruhiger Art sich langjährige Betriebserfahrung verbarg; jetzt sah Anand mit plötzlichem Schrecken jemanden vor sich, der auf den Ruhestand zuging. Äußerlich hatten die vielen Jahre Ananthamurthy kaum etwas anhaben können, die wenigen langen Haare, die er sich quer über die Glatze kämmte, waren nur etwas grauer geworden, und seine Augen waren jetzt von Fältchen umgeben. Ansonsten war er der Gleiche geblieben: mager, aufrecht, von der Verlässlichkeit einer alten Schweizer Uhr, akkurat und absolut zuverlässig.

»Guten Morgen, Sir. Sie haben schon gegessen?« Seit fünfzehn Jahren begann Ananthamurthy den Arbeitstag mit dieser rituellen Frage.

»Ja, ja«, sagte Anand, wobei das selten stimmte. Er hatte morgens nie Hunger. Später zu seinem Kaffee würde er vielleicht ein Traubenzuckerplätzchen essen. »Und Sie?«

»Ja, Sir, danke.« Ananthamurthy wandte sich nicht wie sonst gleich tatkräftig der anstehenden Arbeit zu. Feierlich, doch mit einer scheuen Zurückhaltung, die sein gewohntes gravitätisches Auftreten überlagerte, stellte er eine Plastikdose auf Anands Schreibtisch.

»Meine Frau und meine Töchter haben darauf bestanden, Sir«, sagte er. »So ein wichtiger Tag für die Firma, da haben wir heute Morgen den Tempel besucht, und sie haben mir dieses Prasadam für Sie mitgegeben. Bitte, Sir.«

Anand steckte sich gehorsam ein winziges Stückchen der gesegneten süßen Halva in den Mund und spürte, wie sich Zucker und Weizen auf seiner Zunge auflösten. »Bitte richten Sie Ihrer Frau meinen Dank aus.«

[9] »Gerne, Sir. Sie hat vor, ihre Gebete den ganzen Tag fortzusetzen.«

Mehr sagte Ananthamurthy nicht, doch in seinen Augen sah Anand die gleiche glühende Hoffnung, die auch in seinem Innern brannte.

Anand drückte auf die Taste am Telefon, die ihn direkt mit seinem Sekretariat verband. In einer Phantasiewelt hätte dort eine junge Frau gesessen, vielleicht aus Goa, die auf einen Namen wie Miss Rita hörte und gewagte kurze Röcke zu hautengen Blusen trug. Die Realität jedoch war Mr. Kamath, kahlköpfig und von solch beängstigender Effizienz, dass er ein unverzichtbares Bollwerk in Anands Berufsleben darstellte. »Kamath? Wo bleiben denn die anderen? Und nachher möchte ich noch diesen Computer-Menschen sprechen.«

Seine Worte lösten bei Ananthamurthy einen Reflex aus.

»Dieser Mensch«, sagte er, womit er den neu angestellten EDV-Servicetechniker meinte, »ist nicht in der Lage, Weisungen zu befolgen.« Anand hörte geduldig zu, wohlwissend, dass Ananthamurthys Klagen weniger dem Mann als dem Arbeitsprozess galten. Die Automatisierung in der Fabrik griff wie ein Virus um sich, zur massiven Beunruhigung Ananthamurthys, der sich voll altersbedingter Empörung immer noch erfolglos mit dem Phänomen E-Mail herumschlug und seine Korrespondenz Buchstabe für Buchstabe heraushämmerte, wobei sein Blick nach jedem Anschlag hektisch von der Tastatur zum Bildschirm zuckte. Anand dachte oft, dass es höchste Zeit war, für die gesamte Belegschaft einen obligatorischen Textverarbeitungskurs zu organisieren.

[10] Zwei weitere Leute betraten sein Büro, und Anand musterte sie mit neuen Augen, wie zum ersten Mal.

Als Erste erschien Mrs. Padmavati von der Buchhaltung. Wie gewöhnlich kam sie mit flottem Schritt und energischer Miene herein. Ihre Effizienz war legendär – genau wie ihr Aufbrausen, wenn andere aus Achtlosigkeit Fehler begingen. Ihr Erscheinungsbild war, ihrem Arbeitsstil entsprechend, ausgesprochen ordentlich: der Baumwollsari sorgfältig gewickelt und an der Schulter festgesteckt, das lange Haar rigoros mit Kokosöl gebändigt und zu einem Zopf geflochten, der ihr als dicker Strang vom Nacken bis zum Steißbein fiel. An Schmuck trug sie nur das Allernotwendigste: kleine goldene Ohrringe, ein dünnes Goldkettchen mit ihrem Hochzeits-mangalsutra. Keine Fingerringe, keine Armreife – was Accessoires betraf, schienen sich all ihre Energien auf die gigantische Handtasche zu konzentrieren, die sie zu jeder Sitzung begleitete, eine derart geräumige Tasche, dass vor den Augen ehrfürchtiger männlicher Kollegen schon unzählige Gegenstände daraus ans Tageslicht gekommen waren, von Brieftaschen über einen Laptop, Zeitschriften und ein Geschenk für einen Kollegen bis hin zu, man glaubte es kaum, einer kleinen Spielkonsole, die laut Mrs. Padmavati ihrem neunjährigen Sohn gehörte, die man sie aber auf der Heimfahrt im Werkbus schon selbst hatte eifrig traktieren sehen. Sie arbeitete seit fünf Jahren für die Firma, gehörte somit zu den dienstälteren Angestellten, und Anand hatte sie an diesem Tag zum ersten Mal zu einer Sitzung auf Führungsebene eingeladen.

Wenn er ehrlich war, hatte es noch nicht viele solcher Sitzungen gegeben. Bis vor kurzem hatte die [11] »Führungsebene« nur aus Ananthamurthy und ihm bestanden, sie hatten beide diverseste Funktionen erfüllt.

Doch es war an der Zeit, das zu ändern. Er hatte das Thema ein paar Wochen zuvor aufs Tapet gebracht, und Ananthamurthy, der kürzlich von seinem Schwiegersohn ein Managementbuch geschenkt bekommen hatte, das er jetzt in seiner Freizeit las, hatte ihm zugestimmt: »Wir müssen uns professionalisieren, Sir. Das ist das A und O.«

Und so spielte Anand, der die Finanzen der Firma bisher strikt unter seiner Kontrolle gehalten hatte, jetzt mit dem Gedanken, Mrs. Padmavati zur Finanzchefin zu machen. Sie freute sich, an der Sitzung teilnehmen zu dürfen, und war, wie Anand merkte, nervös und zugleich begierig, sich zu beweisen. Sie stellte ihre Handtasche auf den Boden und setzte sich aufrecht hin, Notizblock, Stift und Taschenrechner zur Hand. Auch einen neuen Personalleiter hatten sie eingestellt, der nach ihr im Büro eintrudelte.

»Also dann«, sagte Anand, nachdem sie sich alle ausgiebig mit süßem prasadam aus Ananthamurthys Schachtel bedient hatten. »Gehen wir noch einmal unsere Vorbereitungen durch, damit wir genau wissen, wo wir stehen.« Er zögerte, schob sich die Brille auf der Nase hoch und verkündete, was alle Anwesenden längst wussten. »Morgen könnte der wichtigste Tag in der Geschichte unserer Firma werden.«

Die von Cauvery Auto produzierten Form- und Pressteile wurden an Kraftfahrzeughersteller verkauft, die PKWs und andere Fahrzeuge für den indischen Markt montierten. Sie hatten die Firma über die Jahre mühevoll aufgebaut, waren Aufträgen nachgejagt, hatten stunden-, manchmal [12] tagelang auf Einkaufsleiter gewartet, gottähnlichen Wesen in geheiligten Büros, denen scheinbar nicht bewusst war, dass Anand im Vorzimmer saß, so dass sein Neunuhrtermin vorbeitickte, die Mittagspause kam, der Nachmittag verstrich, bis er schließlich, verschwitzt, hungrig, ärgerlich, aber immer noch geduldig, gebeten wurde, am nächsten Tag wiederzukommen. Ja, tut mir außerordentlich leid, Sir ist sehr beschäftigt, hoffentlich hat er morgen Zeit für Sie.

Aber jetzt standen sie endlich an der Schwelle zu einer neuen Phase. Am nächsten Morgen würde ihr größter Kunde kommen, in Begleitung von Vertretern der japanischen Mutterfirma. Sie würden einen Rundgang durch das Werk machen, prüfen, inspizieren und endlose Diskussionen über Produktionskapazitäten und Entwicklungsmöglichkeiten führen. Wenn alles gutging, würde Cauvery Auto möglicherweise bald auch den internationalen Markt beliefern. Es war ein berauschender Gedanke. Anand machte sich nichts vor – es ging um viel, zweifellos bewarben sich noch jede Menge andere Firmen, von denen viele (so fürchtete er) besser dastanden als Cauvery Auto.

Wenn sie diesen Auftrag bekamen, würde das ihrer aller Leben verändern. Es würde Stabilität bedeuten, Wachstum, Profit, nicht nur für die Firma, sondern für jeden Einzelnen von ihnen – für ihn, für Ananthamurthy, für Mrs. Padmavati, für alle, es würde ihre Finanznöte mildern und ihren Familien eine völlig andere Zukunft eröffnen.

Am späten Vormittag unternahm Anand einen Inspektionsgang. Die Produktionshalle wurde grundsätzlich gut in Schuss gehalten, aber aus gegebenem Anlass hatten einige [13] der Arbeiter neue Overalls bekommen, und die Buchhaltung hatte neue ergonomische Schreibtischstühle in leuchtendem Orange angeschafft. Anand hatte nichts dagegen – solche Dinge...