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Im Kongo

Urs Widmer

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257605808 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

[61] »WIKING WAR EINE Linie des Nachrichtendienstes der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg«, sagte mein Vater. »Unser Informant war ein Adjutant Hitlers im Führerhauptquartier. Fritz war der Kurier.«

»Ich war Kaufmann«, sagte Herr Berger. Er strahlte meinen Vater an und nickte. »Ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe.«

»Optische Geräte.« Ich sah wieder meinen Vater an. »Du warst also sein Führungsoffizier. Was heißt das?«

»Ich leitete das Büro, das für die Aufklärung Deutschland zuständig war«, antwortete dieser. »Ich führte Wiking.« Und zu Herrn Berger: »Daß wir uns hier treffen!« Er leuchtete ebenfalls.

»Die Welt ist klein!«

Herr Berger hängte den Strohhut an einen Garderobenhaken und schüttelte sich. Mein Vater wich den herumspritzenden Wassertropfen mit einem Schritt zum Bett hin aus. Cindy, die getroffen wurde, rief: »Hey, Mister Berger!«

Ich ließ mich auf den Plastikhocker fallen, der in allen Zimmern neben dem Waschbecken stand. Mir war, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. »Und wieso weiß ich das nicht?« sagte ich zu meinem Vater, als ich wieder atmen konnte.

»Du warst ein Kind«, sagte der. »Dein ganzer Kindergarten hätte am nächsten Morgen gewußt, daß dein Vater beim Geheimdienst ist.«

Weil Herr Berger in einer Wasserlache stand, hob Cindy seine Arme nach oben, zog ihm die Anzugsjacke und das Hemd aus, dirigierte seine mageren Arme in ein trockenes [62] Hemd, auch eins aus den feldgrauen Vorräten meines Vaters, und knöpfte es zu. »Sie holen sich sonst den Tod«, sagte sie, als sie fertig war. Jetzt trugen alle drei feldgraue Hemden.

»Aber nach dem Krieg! Als ich erwachsen war!« Ich tat einen Schritt auf meinen Vater zu und, weiß der Himmel, wenn er nicht ein so alter Mann gewesen wäre, ein Tattergreis, kann sein, daß ich ihn am Kragen gepackt hätte, oder an der Gurgel.

»Ich war gern ein harmloser Vater«, sagte er.

»Und ich« – ich bemerkte erst jetzt, als ich die flache Hand gegen die Stirn schlagen wollte, daß ich die Weinflasche immer noch umklammert hielt – »habe gedacht, daß du ein Versager bist! Ein Langweiler! Eine Pfeife! Eine Pumpe! Ein Angsthase! Ein Nichts! Ohne Schicksal! Dabei hast du mir einfach nichts gesagt!« Ich stellte die Flasche so heftig ins Waschbecken, daß sie eigentlich hätte zerklirren müssen.

Mein Vater hob die Arme. »Nach dem Krieg«, sagte er, »haben alle Mitarbeiter des Nachrichtendienstes verabredet, über ihre Tätigkeit während des Kriegs zu schweigen. Daran haben wir uns gehalten. Stimmt’s, Fritz?«

Herr Berger nickte.

»Interviews habt ihr gegeben«, rief ich. »Autobiographien habt ihr geschrieben. Erzählt mir doch nichts. Im Fernsehen seid ihr aufgetreten.«

»Ich nicht«, sagte mein Vater.

»Ich auch nicht«: Herr Berger. Und Cindy, vielleicht weil sie das gleiche Hemd trug, echote: »Ich schon gar nicht.«

[63] Jetzt lachten alle drei. Ich sah eisig zwischen ihnen hin und her, bis ihr Gelächter erfror.

»Ihr Herr Vater meint«, sagte Herr Berger, trat zu mir hin und legte eine Hand auf meine Schulter, »daß wir nach dem Krieg nicht öffentlich werden lassen wollten, was wir getan hatten. Wir hatten Kinder. Es gab tausend alte Nazis, die sich rächen wollten.«

Er sah zu mir hoch – er war kleiner als ich – und nickte schon wieder.

»Das war der Grund«, sagte ich und nickte auch. »Das verstehe ich.«

»Das war der Grund.« Herr Berger wandte sich meinem Vater zu. »Nicht wahr, Kuno.«

»Nein«, sagte mein Vater.

Mir reichte es. »Essen ist in zehn Minuten«, sagte ich und stürmte zur Tür hinaus. Es kann sein, daß ich sie hinter mir zuschlug. Während ich durch den Korridor ging, hörte ich, daß die beiden alten neuen Freunde bester Laune waren. Auf der Treppe begegnete ich Schwester Anne, die mich nicht weiter beachtete.

ZUM GLÜCK HABE ich den Austausch-Akku für meinen Laptop mitgenommen. Ich habe ihn eben anschließen müssen, weil mein Text immer blasser wurde und schließlich gar nicht mehr vom Fleck kam. Das Gedächtnis tot. – Das ist der Abend des dritten Tags: Eigentlich wollte ich jetzt fertig sein. Aber das Ende ist noch fern. 101 031 Zeichen hat mein Laptop gespeichert. So oft habe ich auf die Tasten gedrückt und habe immer noch zehn Finger! – Die [64] Dämonen des Waldes beobachten mich. Jetzt, wo ich mich auf diese Huldigung eingelassen habe, diese Beschwörung, ich könnte sie nur um den Preis des Tods abbrechen. Wenn ich jetzt nach Hause ginge, eine grüne Viper bisse mich gewiß. Ich stehe unter dem Schutz der Geister: aber auf Zusehen nur. Die Duldung der Waldgeister kann schnell enden, und wehe, du hast ihre Gunst verloren. Lauf, schrei, flieh: sie erwürgen dich, wann sie wollen. Da steckst du dann auf deinem Pfahl, wie viele andere schon. Lebst noch ein, zwei Tage, das Holz durch den Leib. Deine Schreie: Blutfontänen. – Mein Programm kann übrigens nur fünf Stellen anzeigen. Daß ich über hunderttausend bin, weiß ich, weil ich es weiß. Anzeigen tut es nur eintausendundsoundsoviel, bei jedem Wort ein paar mehr. 01 954 sind es jetzt schon, 01 981. Offenkundig ist einer wie ich – einer, der so viel schreibt – nicht vorgesehen. Was, wenn auch das Gedächtnis der Maschine nicht genügend Kapazität aufweist? – Hier oben ist kein Drucker. Kein Strom sowieso, und ich glaube, der Drucker läuft nicht mit einem Akku. – Ich darf nicht aufhören. Ich darf nicht denken, daß der Hunger mich zerwühlt. Daß ich stinke. Daß der Rücken mich schmerzt. Daß ich auf der Stelle einschlafen könnte. Ich darf nicht zu den Bierflaschen hinübersehen. – Eben geht die Sonne unter. Alles leuchtet rot. Der Wald, grün sonst, sieht aus, als stünde er in Flammen.

ALS ICH INS Zimmer zurückkam, standen Herr Berger und mein Vater immer noch. Als gäbe es keine Stühle. Ich hatte mit den Tamilen in der Küche gegessen, weil ich, eine Weile [65] lang wenigstens, keine Greise mehr sehen wollte. Sie waren jung, die Geschöpfe eines heiteren Gottes. Wir aßen nicht das Anstaltsessen – Milchreis und Backpflaumen –, sondern einen scharfen Reis, und tranken Tee (die Tamilen) beziehungsweise Bier (ich). Die Tamilen machten Witze über Schwester Anne, und ich erzählte von meinem Vater. Als ich aufstand und mich für das Essen bedankte, sagte der Hilfskoch, Kamal, das sei sein letzter Abend. Morgen werde er ausgeschafft. »Eigentlich heiße ich Saravanapavanathan. Jetzt, wo wir uns nie mehr sehen werden, möchte ich, daß Sie das wissen.« Ich gab ihm die Hand und ging.

»Weißt du, daß ich –« sagte mein Vater zu Herrn Berger.

Aber der unterbrach ihn sofort: »Nein! Eben nicht! Nichts weiß ich! Im Nachrichtendienst teilt man keine Erinnerungen! Frag den da!« Er wies auf mich.

»So ist es«, sagte ich und setzte mich wieder auf den Schemel. Cindy war verschwunden. Sie war zum Essen gegangen, anders als die Alten.

»Das will ich sagen!« Mein Vater war rot vor Erregung. »Was ich euch sage, habe ich noch niemandem gesagt!«

»Zum Beispiel?« sagte ich.

»Ich hatte auch eine Linie nach Frankreich. Das zum Beispiel.«

»Und?«

»Ein General im französischen Generalstab. Vichy. Nachrichtendienstler. Er hieß Lombard und sagte mir Dinge, die er seiner eigenen Regierung nicht meldete. Ich wußte immer, welche deutschen Truppen wo in welcher Stärke stationiert waren. Wir trafen uns im Elsaß. Ich schlich nachts durch Schrebergärten, durch ein Loch im [66] Stacheldraht, über Wiesen, auf denen der Bodennebel kroch, in ein Gasthaus, das bei einer Schleuse am Rhein-Rhone-Kanal stand. Dort saßen wir im Hinterzimmer und tranken Edelzwicker. Der Wirt war bei der Resistance.«

»Aha«, sagte ich.

»Ach ja!« seufzte Herr Berger.

»Einmal, als ich gerade gehen wollte, mit einem ganzen Packen Material in der Tasche, kam ein Trupp SS ins Lokal. Stundenlang brüllten sie sich Witze zu und sangen Lieder. Wenn einer nach hinten gekommen wäre! Zudem mußten wir beide dringend aufs Klo.«

»Oh. Ja. Kenn ich«: Herr Berger.

Ich trommelte mit den Fingern auf meinen Knien herum. Vor mir mein Vater geriet immer mehr in Fahrt.

»Ein andermal hatte der General Geburtstag. Wir feierten das und tranken viel. Das Leben war damals nur auszuhalten, wenn man es hie und da in Fendant ertränkte. Im Morgengrauen fuhren wir zur Grenze, in den Dienst-Chevy gequetscht, das ganze Büro mit allen Frauen. In einem Boot der Grenzbrigade setzten wir nach Deutschland über, immer noch der ganze Trupp. Dort brachten wir uns in den Besitz eines Geschützes, das wir schon lange geortet hatten und das unbewacht im Ufergehölz stand. Die Frauen, in ihren Sonntagsroben, zogen und zerrten am eifrigsten. Im selben Nachen fuhren wir über den Rhein zurück. Inzwischen war’s taghell. Kein Schuß, nichts. Es war ein Wunder, daß wir nicht laut sangen. Auf der Rückfahrt landeten wir in einem Graben. Der Chevy kippte auf die Seite, die Haubitze, oder was immer sie war, fiel aus [67] dem Kofferraum und kollerte die Böschung hinunter. Wir pinkelten, Männer und Frauen, in einer langen Reihe am Waldrand und gingen dann zu Fuß zum nächsten Bahnhof. Das Geschütz hatten wir dem General schenken wollen.«

Ich sprang auf und setzte mich wieder. Herr Berger öffnete den Mund, wohl weil er auch etwas sagen wollte. Aber mein Vater holte nicht einmal...