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Schwarzkonto - Kriminalroman

Erich Schütz, Dirk Platt

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2014

ISBN 9783839245125 , 375 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Montag, 21. November


Langenargen, frühmorgens


»Verdammt noch mal, es ist November, da gibt es noch kein Treibgut und Wassersportler schon längst nicht mehr«, denkt Claudia Finke, als sie am Bodenseeufer, bei Kressbronn, ein schneeweißes Surfbrett im leichten Wellenschlag dümpeln sieht. Sie schaut angestrengt und glaubt, einen menschlichen Körper darauf zu erkennen. Liegend. »Schläft der?«, fragt sie sich ungläubig.

Claudia Finke ist eine der beiden blondgelockten Dalben-Schwalben der Bodensee-Schiffsbetriebe in Kressbronn. Sie öffnet in der Frühe den Schiffsfahrkartenverkaufsschalter der BSB am Landungssteg und sorgt mit ihrer ebenso blond gelockten Kollegin den ganzen Tag über für das reibungslose An- und Ablegen der großen weißen Personenschiffe. Doch ihre Entdeckung lässt sie in ihrer morgendlichen Routine stocken. Sie will nicht glauben, was sie sieht: ein Surfer, ruhend, splitterfasernackt auf seinem weißen Brett?

Ungläubig lehnt sie sich weit über das Geländer am Steg, um ihre Entdeckung genauer zu erkennen. Die Morgensonne blendet. Sie führt die Handfläche zur Stirn.

Es ist mild für die Jahreszeit. Herbstliche Winde und Sonnenschein locken zwar den einen oder anderen Surfer auf den See, aber ohne Neoprenanzug holt sich jeder den Tod. Die Wassertemperatur liegt bei zwölf Grad; selbst bei sonnigen 20 Grad Lufttemperatur in den Nachmittagsstunden. Warum sollte sich bei solchen Bedingungen ein vernünftiger Mensch nackt auf sein Surfbrett legen? Und dann auch noch morgens um neun Uhr?

Brrr – sie friert.

Entschlossen verlässt sie den Landungssteg und geht zügig Richtung Ufer. Sie streicht sich eine Strähne aus ihrem braun gebrannten Gesicht. Ein kühler Ostwind bläst um ihre spitze Nase. Trotzdem fröstelt sie plötzlich nicht mehr. Es treibt sie innerlich angespannt immer näher an das offensichtlich gestrandete Surfbrett und diesen unheilverkündenden Menschenkörper.

Das Surfbrett ist noch aufgetakelt. Das bunte Segel liegt am Baum aufgezogen flach auf der Wasseroberfläche. Es tänzelt leicht im dunklen rhythmischen Wellenschlag. Die Spitze des Segelbaums hat sich in Schlingpflanzen verfangen. Das Brett mit dem nackten Körper ist auf dem Kies gestrandet und gibt ihm am Ufer Halt.

Claudia Finke hat nur noch Augen für den menschlichen Körper. Es ist ohne Zweifel ein Mann. Deutlich ist seine kräftige Statur zu erkennen, wenn auch ein Teil der Beine von der Takelage verdeckt ist, in der sich der gesamte Körper verheddert hat.

Der ist tot!, schießt es Claudia schließlich mit Gewissheit durch den Kopf. Sie tritt näher heran. Watet, ohne zu zögern, mit ihren Lederstiefeln in das kalte Wasser. Das Rindsleder weist die Nässe kaum ab. Sie steht direkt neben dem Brett und dem Toten. Sieht sein junges Gesicht. Die Augen sind geöffnet. Fast scheint es ihr, als würde er sie anlächeln. Frech sieht er aus, nicht unsympathisch. Braungebrannt sein schlanker Körper, seine blonden Locken hängen patschnass an ihm, die blauen Augen starren sie an.

Unwillkürlich spitzen sich die Lippen zu einem frechen Pfiff. Dann hält sie sich schnell die Hand vor den Mund. Sie fühlt sich beobachtet. Schaut trotzdem noch kurz auf den Penis des nackten Mannes und lächelt. Sie wusste doch, dass es saukalt ist. Abrupt wendet sie sich ab und eilt zu ihrem Kassenhäuschen.

19222 – die Telefonnummer der Rettungsleitstelle. Sie wählt, ohne zu überlegen, und schreit in die Telefonmuschel: »Der ist tot!«

»Wer?«

Sie weiß nichts zu antworten.

»Wer ist am Apparat?«

»Ich«, sagt Claudia. Als sie ihre eigene Stimme hört, löst sich ihr erster Schock und sie erzählt, was sie soeben entdeckt hat.

*

Eine Stunde später ist der Kressbronner Strand großräumig abgesperrt. Die Polizei aus Friedrichshafen ist vor Ort, die Spurensicherung hat Verstärkung aus Ulm angefordert. »Volles Programm«, sagt Horst Weinrich, der Polizeipostenchef von Kressbronn, stolz zu Claudia Finke. Sie winkt ab und antwortet lapidar: »Dann müsstet ihr auf dem See Spuren sichern.«

»Was meinst du?«

»Den hat uns der Rhein gebracht«, ist sich Claudia Finke sicher. »Den hat es genau dort angeschwemmt, wo der Rhein jährlich an unserem Ufer knabbert. Siehst du nicht, wie die Bucht sich hier immer weiter ausfrisst? Das ist der Rhein! Der mündet drüben, auf der anderen Uferseite in den See und drückt sein Wasser samt allem was er sonst noch mitreißt hier zu uns. Und genau da ist ja auch das Brett mit dem Toten gestrandet.«

»Hm«, brummt der Ortspolizist.

»Hätte der Segelmast sein Brett nicht am Ufer festgehalten, wäre er wie alles andere Treibgut längst seeab getrieben.«

»Seeab«, lächelt Horst Weinrich, »lass das die klugen Kriminalbeamten aus Ulm nicht hören. Die halten dich für unzurechnungsfähig. Seeab, tss.«

»Der Rhein fließt bei uns in den Obersee und am Untersee wieder hinaus. Also: Fließt der jetzt im See bei dir bergauf, oder was?«

»Hm«, sucht der Ortspolizist nachdenklich nach Worten, da fallen ihm Blechmusik und Paukenschläge ins Wort. Die Melodie des lokalen Evergreens Die Fischerin vom Bodensee ertönt. Claudia Finke springt auf, beginnt in ihrer Handtasche zu wühlen, zieht schließlich ein kleines Handy heraus. »Ja, Fritz, was willst denn du jetzt?«

Sie fuchtelt mit dem Handy vor dem Gesicht des Polizisten herum. »Privat«, entschuldigt sie sich und weist mit ihren großen dunklen Augen dem Polizeipostenführer den Weg aus ihrem Kassenhäuschen.

»De Fritz«, lacht sie in das Handy, nachdem der Polizist ihr Refugium verlassen hat, »natürlich erinnert sich der alte Griffelspitzer wieder an seine ›Dalben-Schwalbe‹. Woher weißt denn du, was wir uns hier eingefangen haben?«

»Du musst nur den Seefunk hören«, antwortet am anderen Ende der Leitung Lebrecht Fritz, »das ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass die Polizei an deinem Steg einen toten Mann gefunden hat.«

»Und was willst du jetzt von mir?«

»Okay, ich hab’s ja überlebt«, erinnert sie Fritz an ihre alte Affäre, »ist ja auch schon lange her. Aber ein toter Mann, direkt an deinem Steg …«

»Mach keine Witze, Fritz! Das ist traurig. Zu allem hin sah er auch recht gut aus, ein schöner Verlust für die Frauenwelt.«

»Und er war nackt!«, fällt ihr Fritz ins Wort und unterstreicht das Wort »nackt« deutlich und laut.

»Woher weißt du das? Hat das auch der Seefunk gemeldet?«

»Mein Chef sagt das, deshalb meint er, das sei etwas für mich: nackte Tatsachen!« Lebrecht Fritz räuspert sich und zitiert eine alte journalistische TV-Binsenweisheit: »Nackte Tote und kleine Kinder bringen Quote! – Da Kinder nicht mein Thema sind, soll ich mich um den nackten Toten kümmern. Sag mal: Stimmt das denn, ein Nacktsurfer?«

»Ja«, antwortet Claudia trocken und steckt sich eine Zigarette an. Die X-te an diesem Morgen.

»Bei aller Liebe, Claudia«, wird Fritz vertraulich und spielt auf ihre gemeinsamen Nächte an, »ein nackter Mann unter deiner Liebeslaube, na komm schon …«

»Du spinnst!«, hält Claudia Finke energisch dagegen, »und dann noch auf meiner Massagebank, oder was?«

»Warum auf der Massagebank?«, ist Fritz verunsichert.

»Weil der Tote auf einem Surfbrett dahergeschwommen ist.«

»Hör auf. Ich komm’ vorbei.«

*

Lebrecht Fritz hatte bis zu dem Gespräch mit Claudia Finke gehofft, dass die Meldung über einen nackten Toten im See bei Kressbronn eine Ente ist. Im November! Bei nächtlichen Lufttemperaturen von zehn Grad und zwölf Grad Wassertemperatur. Diese Angaben hatte er sich schnell beim Wetteramt besorgt, nachdem sein Chef, Uwe Hahne, ihm den Auftrag aufs Auge gedrückt hatte. »’ne geile Story«, hatte dieser erkannt und Fritz auf die Fährte gesetzt.

Lebrecht Fritz zählt für Uwe Hahne zu den personellen Altlasten seiner Redaktion. Vor einem Jahr hat er das Regionalstudio Friedrichshafen des Landessenders übernommen. Hahne will eine Crew für moderne Themen. »Quote verdoppeln!«, ist sein Ziel. Journalisten der alten Schule, wie Lebrecht Fritz, sind ihm im Weg. Sie erkennen die Zeichen der Zeit nicht. Der nackte Tote ist für Hahne ein typisches Beispiel. »Nackte Tatsachen!«, hat er gelacht, »das ist doch, was Fritz immer fordert, jetzt soll er sich um die nackte Angelegenheit kümmern.«

Lebrecht Fritz hatte den Auftrag zu Hause angenommen. Er hatte gerade seiner Mutter das Frühstück ans Bett gebracht. Seit Monaten ist Elfriede Fritz meist bettlägerig. Dabei war seine Mutter ihr Leben lang nie krank gewesen. »Nur eine kleine Hüftoperation«, hatte der Herr Professor abgewunken, »Routine, wie wenn Sie über die Straße gehen.« Jetzt liegt seine Mutter im Bett, als wäre sie im falschen Augenblick über die Straße gegangen.

»Ich habe Schmerzen, als wäre ein LKW über meine Hüfte gedonnert«, jammert sie seit Wochen. Und Lebrecht sieht seiner Mutter ihr schweres Los an. »Das zieht wie ein Feuer von der Wade bis in Kreuz«, massiert sie ihr linkes Bein und die Hüfte mit schmerzverzogenem Gesicht, »so schlimm war es vor der Operation nicht!« Zu allem hin kann sie kaum noch gehen. Vom Bett bis zur Toilette benützt sie Krücken. Bei fast jedem Schrittversuch wird sie von Schmerzattacken geplagt, wie sie sie vor der Hüftoperation nicht kannte.

Lebrecht Fritz ist ein Journalist der alten Schule. Er hat sich mühsam hochgeackert. Vom...