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Der Schwan mit der Trompete

E.B. White

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604504 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

[16] Kapitel 3

Der Besucher

Eines Tages, es war etwa eine Woche später, setzte sich die Schwänin still in ihr Nest und legte ein Ei. Sie versuchte, jeden Tag ein Ei zu legen. Manchmal gelang es ihr, manchmal nicht. Mittlerweile befanden sich drei Eier im Nest, und heute wollte sie ein viertes legen.

Während sie dort saß und ihr Mann elegant auf dem Wasser dahinglitt, immer in ihrer Nähe, hatte sie plötzlich das Gefühl, sie würde beobachtet. Es machte sie ganz nervös. Vögel mögen es nicht, wenn man sie beobachtet. Schon gar nicht, während sie in ihrem Nest sitzen. Die Schwänin spähte nach allen Seiten. Ihr Blick blieb an der kleinen Sandbank hängen, die in der Nähe des Nests ins Wasser ragte. Mit ihren scharfen Augen suchte sie das Ufer nach einer möglichen Bedrohung ab und fuhr erschrocken zusammen. Dort drüben saß ein kleiner Junge auf einem Baumstamm. Er hatte kein Gewehr dabei, saß nur ganz still da.

»Schau mal!«, flüsterte die Schwänin ihrem Mann zu.

»Was denn?«

»Na, dort drüben. Auf dem Baumstamm. Da sitzt ein Junge! Was machen wir denn jetzt bloß?«

»Was macht der denn hier?«, flüsterte der Schwan zurück. »So tief in den kanadischen Wäldern gibt’s doch eigentlich weit und breit keine Menschen.«

»Dachte ich bis eben auch. Aber da drüben sitzt nun mal einer, so wahr ich zur Gattung der Cygnini gehöre.«

[17] Der Schwanenmann wurde böse. »Ich bin ja wohl nicht den ganzen Weg bis in den Norden Kanadas geflogen, nur um hier auf einen kleinen Jungen zu treffen! Wir haben uns doch dieses idyllische, abgelegene Fleckchen Erde extra ausgesucht, um unsere Ruhe zu haben!«

»Na ja, ich bin auch nicht gerade begeistert«, entgegnete die Schwänin, »aber schließlich tut er uns nichts. Er hat uns zwar entdeckt, aber er wirft nicht mit Steinen oder Stöcken nach uns. Er macht nichts kaputt. Er sieht uns einfach nur zu.«

»Ich möchte aber nicht, dass er uns zusieht. Ich habe doch nicht den weiten Weg auf mich genommen, damit mich jemand beobachtet. Und dich erst recht nicht. Du legst gerade ein Ei, das hoffe ich zumindest, und dabei steht dir ja wohl ein bisschen Privatsphäre zu. Bis jetzt hat noch jeder kleine Junge irgendwann mit Steinen und Stöcken nach uns geworfen. So sind sie einfach. Ich geh jetzt da rüber und verpass ihm eins mit dem Flügel. Der wird denken, ihn hat ein Gummiknüppel getroffen! Den schlag ich k. o.!«

»Jetzt warte mal!«, sagte die Schwänin. »Du musst doch nicht gleich Streit anfangen. Der Junge tut uns doch wirklich nichts, mir jedenfalls nicht. Und dir auch nicht.«

»Aber wie hat er denn bloß hierhergefunden?« Der Schwanenmann flüsterte jetzt nicht mehr, sondern wurde langsam laut. »Wie ist er hierhergekommen? Jungs können nicht fliegen, und hier gibt es doch keine Straßen. Der nächste Highway ist fünfzig Meilen entfernt.«

»Vielleicht hat er sich verlaufen«, überlegte die Schwänin. »Vielleicht ist er kurz vorm Verhungern und will unser Nest räubern und die Eier essen. Aber eigentlich glaube ich das nicht, sonderlich ausgehungert sieht er nämlich nicht aus. Aber das ist ja auch alles ganz egal. Ich habe dieses Nest gebaut, habe schon [18] drei wunderschöne Eier hineingelegt, und im Moment stört uns der Junge nicht. Also werde ich einfach weiter an meinem vierten Ei arbeiten.«

»Das machst du richtig, mein Schatz! Ich bleibe so lange bei dir und werde dich beschützen. Leg du nur!«

Eine Stunde verging. Der Schwanenmann drehte wachsam Runde um Runde um die winzig kleine Insel. Sam saß währenddessen regungslos auf dem Baumstamm. Er war vom Anblick der zwei Schwäne völlig fasziniert. Noch nie hatte er so große Wasservögel gesehen. Er hatte ihr Trompeten gehört und war dann so lange durch die Wälder und Sümpfe gestreift, bis er schließlich den kleinen See mit dem Nest gefunden hatte. Sam kannte sich mit Vögeln gut aus und wusste gleich, dass dies Trompeterschwäne waren. Mitten in der Wildnis, unter den Tieren, war er immer am glücklichsten.

Wie er dort auf dem Baumstamm saß und den Schwänen zusah, da ging es ihm wie anderen Menschen vielleicht in der Kirche.

Nach etwa einer Stunde stand Sam auf. Ganz langsam und so leise wie möglich ging er davon. Wie ein Indianer setzte er fast geräuschlos einen Fuß vor den anderen. Die Schwäne sahen ihm nach. Dann stieg die Schwänin vom Nest und sah hinein. Inmitten der weichen Federn auf dem Boden des Nests lag sicher und geborgen das vierte Ei. Der Schwanenmann kam an Land und watschelte herüber.

»Du hast dich wieder mal selbst übertroffen! Was für ein wunderschönes Ei. Welch perfekte Proportionen! Und es ist mindestens dreizehn Zentimeter lang!«

Seine Frau freute sich auch.

Nachdem sie noch ein fünftes Ei gelegt hatte, war es die Schwänin zufrieden und betrachtete stolz ihr Werk. Dann setzte sie [19] sich jedoch schnell wieder auf das Nest, denn die Eier mussten warm gehalten werden. Vorsichtig schob sie sie mit dem Schnabel unter sich so in Position, dass jedes Ei genug Körperwärme abbekam. Währenddessen kreiste der Schwanenmann wie immer in ihrer Nähe, um ihr Gesellschaft zu leisten und im Notfall zu Hilfe kommen zu können. Irgendwo in den Wäldern ringsum lebte ein Fuchs, den hatte er nachts nach erfolgreicher Jagd schon bellen gehört.

Der Junge tauchte nicht noch einmal auf, vielleicht würde er gar nicht mehr wiederkommen. Die Schwänin saß tagein, tagaus geduldig auf den fünf Eiern und wärmte sie. Unterdessen geschah in jedem Ei etwas, was man von außen nicht sehen konnte: Ein kleiner Schwan wuchs heran. Wochen vergingen. Die Tage wurden länger, die Nächte kürzer. Auch wenn es regnete, saß die Schwänin auf ihrem Nest und ließ den Regen einfach Regen sein.

»Mein Schatz«, sagte der Schwanenmann eines Nachmittags, »ist dir das nie lästig, wird es dir nie zu viel? Es kann dir doch keinen Spaß machen, die ganze Zeit auf einem Fleck zu sitzen, ohne dich ab und zu auch mal zu bewegen. Ohne Ablenkung, ohne jeden Spaß, ohne einfach mal herumtoben zu können. Wird dir denn nie langweilig?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Ist es nicht unbequem, auf den Eiern zu sitzen?«

»Doch, das schon. Aber für unsere Schwanenjungen sitze ich gern ein bisschen unbequem.«

»Weißt du, wie lange du noch da sitzen bleiben musst?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber die Entenjungen vom anderen Ende des Sees sind schon geschlüpft, die Rotschulterstärlinge auch, und neulich Abend habe ich eine Stinktiermutter mit ihren vier Jungen am Ufer gesehen. Da wird es bei mir [20] bestimmt auch nicht mehr lange dauern. Wenn wir Glück haben, ist unser Nachwuchs bald da.«

»Hast du denn aber nie Hunger oder Durst?«

»Doch, natürlich. Gerade jetzt könnte ich zum Beispiel einen Schluck Wasser vertragen.«

Es war ein schöner Nachmittag, die Sonne schien warm. Die Schwänin fand, sie könnte ihre Eier kurz allein lassen, und erhob sich. Sie schob ein paar lose Federn über die Eier, damit sie ein wenig verdeckt waren und in ihrer Abwesenheit auch nicht auskühlten, stieg vom Nest und glitt ins Wasser. Erst stillte sie ihren Durst, dann schwamm sie zu einer flachen Stelle, wo sie den Kopf unter Wasser steckte und zartes Grün vom Grund des Sees riss. Sie bespritzte sich mit Wasser und wusch sich. Dann trat sie ans Ufer und putzte sich in aller Ruhe.

Die Schwänin war vergnügt. Sie ahnte nicht, dass sie in Gefahr war. Sie hatte den Rotfuchs nicht bemerkt, der hinter ihr im Gebüsch saß und sie beobachtete. Der Fuchs hatte gehört, dass jemand im Wasser planschte, und war in der Hoffnung auf eine Gans nähergekommen. Nun witterte er die Schwänin. Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Leise schlich sich der Fuchs an. Er würde sie nicht wegtragen können, dazu war sie zu schwer, aber er wollte sie trotzdem töten, er wollte Blut schmecken. Der Schwanenmann schwamm immer noch auf dem See und entdeckte den Fuchs zuerst.

»Vorsicht!«, trompetete er. »Vorsicht, ein Fuchs!« Die Augen des Fuchses glänzten, der buschige Schwanz war steil aufgestellt, sein Bauch streifte fast den Boden. »Er will Blut! Du bist in großer Gefahr, wir müssen sofort etwas unternehmen!«

Während der Schwanenmann noch redete, überschlugen sich die Ereignisse. Der Fuchs setzte gerade zum Sprung an, um der Schwänin seine Zähne in den Hals zu schlagen, da flog ein Stock [21] durch die Luft und traf ihn direkt an der Schnauze. Blitzschnell rannte er davon. Die Schwäne waren verwirrt. Was war passiert? Da raschelte es im Gebüsch, und Sam Beaver trat lächelnd hervor, der Junge, der vor einem Monat schon einmal hier gewesen war. Er hatte noch einen Stock in der Hand, falls der Fuchs zurückkommen sollte. Dem war aber so gar nicht danach. Seine Schnauze tat ziemlich weh, und der Appetit auf Schwanenfleisch war ihm auch gründlich vergangen.

»Hallo«, sagte Sam leise.

»Ko-roh, ko-roh!«, grüßte der Schwanenmann zurück.

»Ko-roh!«, rief auch seine Frau. Der ganze See hallte wider von ihrem Trompeten, sie trompeteten voller Stolz und Freude darüber, dass der Fuchs in die Flucht geschlagen worden war.

Sam wurde bei dem Klang ganz warm ums Herz. Langsam ging er zu der kleinen Sandbank und setzte sich dort auf seinen Baumstamm. Die Schwäne waren nun ganz sicher, dass er ihnen nichts Böses wollte, er hatte ja der Schwänin das Leben gerettet. Er war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Die Schwäne waren ihm sehr dankbar. Der Schwanenmann schwamm zu Sam hinüber, trat an Land und stellte sich vor ihm auf. Er sah den Jungen...