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Jene Jahre voller Träume - Roman

Marcia Willett

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN 9783732501526 , 511 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

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KAPITEL 1


1964–1968

Die Isle of Wight schien geisterhaft auf einem Meer aus flüssigem Glas zu treiben. Eine schwache, bleistiftfeine, silberne Linie deutete den Horizont an, wo er mit einem einförmig grauweißen Himmel verschmolz. Der spätherbstliche Nachmittag hatte etwas Helles, einen sanften Schimmer, ein Versprechen auf Sonnenschein, das noch der Erfüllung harrte. Kate, die langsam über den Strand von Stoke’s Bay schlenderte, passte sich nach und nach an die neue Umgebung an. Diese flachen, kiesigen Ufer und die breiten Promenaden mit den dahinterliegenden weiten Grasflächen schienen Kate zu zähmen, die an die sandigen Strände, die Felsvorsprünge und die hoch aufragenden Klippen der Westküste gewöhnt war. Hier betrug sich sogar das Meer zivilisierter. Es lag still da, zog sich gelassen zurück und kam bescheiden wieder näher, ganz anders als im Norden der kornischen Küste, wo es sich wild und lärmend gebärdete.

Kate blickte in die Schutzhütten, die entlang der Promenade standen. Sie erkannte allmählich die ältlichen Stammgäste; sie saßen da wie Spinnen, die darauf warteten, das unschuldige Opfer mit einem freundlichen kleinen Nicken und einem auf tapfere Weise mitleiderregenden Lächeln in die Falle zu locken. Sie waren natürlich einsam, genau wie Kate, aber sie wusste, wenn sie sich zu nahe heranwagte, würde sie von einem beiläufigen Gruß in einem Netz banaler Gespräche gefangen werden, das der Wind unausweichlich um ihre Unabhängigkeit schlingen würde, um die Freiheit ihres Weges zu beschneiden. Beinahe war es eine Versuchung. Es würde ihr ein gewisses Gefühl von Kameradschaft schenken, müßig und halb betäubt von dem sanften Summen der Erinnerungen anderer Menschen dazusitzen, wohl wissend, dass jeder halbherzige Fluchtversuch durch den klebrigen Strom der Worte um sie herum erstickt werden würde.

Kate verhärtete ihr Herz und wandte den Kopf ab. Ihr Mann, Mark, war für sieben Wochen auf See, und sie stand noch in der ersten dieser Wochen. Bei der Erinnerung an all die Ratschläge und Warnungen, die sie vor fast zwei Monaten an ihrem Hochzeitstag von wohlmeinenden Freunden erhalten hatte, reckte Kate das Kinn vor und schob die Fäuste noch tiefer in die Taschen ihres Dufflecoats. Sie hatte nicht die Absicht, beim ersten Mal, da das U-Boot in See stach, ihre Niederlage einzugestehen und nach Hause zu eilen, obwohl es ihr geholfen hätte, wenn sie vor Marks Abfahrt einige andere Leute in Alverstoke kennengelernt hätte. Er kannte aber auch niemanden. Wie hätte es auch anders sein können, da er direkt vom Britannia Royal Naval College und den Kursen des vierten Studienjahrs zur HMS Dolphin gekommen war, der U-Boot-Basis in Gosport?

Während sie zusah, wie die Fähre zur Isle of Wight sich hinter der Seemauer, einem Steinwall zum Schutz gegen das Meer, durch die Wellen pflügte, wehrte Kate sich nicht länger gegen die Erkenntnis, dass sie ihre beste Freundin schrecklich vermisste. Als Zwölfjährige waren sich Cassandra und sie das erste Mal begegnet; es war im Internat an der Nordküste von Somerset am Rand der Quantock Hills gewesen. Sofort und ohne Umwege hatten sie Freundschaft geschlossen. Kate kam aus einem Zuhause, das schier überquoll von Brüdern, einer Schwester und mehreren Hunden; ihre großzügigen Eltern standen der Familie auf liebevolle Weise vor. Sie hatte mit großen Augen zugehört, wenn Cass, ein Einzelkind, über Kinderfrauen, Armeequartiere und ihren Vater – inzwischen ein General – gesprochen hatte, der nach dem Tod ihrer Mutter bei einem Autounfall mit seiner Weisheit am Ende war.

»Gerüchten zufolge«, offenbarte Cass Kate, während sie in einen verbotenen Doughnut biss, »wollte sie mit ihrem Geliebten durchbrennen.«

Kates Augen wurden noch runder. »Meine Güte!«, flüsterte sie. »Aber kann man denn durchbrennen, wenn man bereits verheiratet ist?«

Cass zuckte die Schultern; die Einzelheiten waren unwichtig. Sie leckte etwas Marmelade auf. »Na schön, dann sind sie eben weggelaufen. Wie dem auch sei, den Wagen konnten wir abschreiben. Ich kann mich im Grunde nicht an sie erinnern. Ich war erst zwei.«

»Dein armer Vater.«

»Er war am Boden zerstört, der arme alte Schatz. Und er weiß einfach nicht, was er mit mir machen soll, jetzt, da ich erwachsen werde. Deshalb hat er mich für die nächsten fünf Jahre hierhergeschickt, mitten ins Nirgendwo. Er denkt, hier sei ich sicher vor Versuchungen.«

Die Art, wie sie das Wort aussprach, gab ihm den Ruch von Aufregung und Verheißung. Etwas, das man erstreben sollte, statt es zu meiden.

Die fünf Jahre waren verstrichen; zuerst waren sie geprägt gewesen von Schwärmereien für Cliff Richard und Adam Faith, dann von quälender Verliebtheit in Brüder anderer Mädchen. Sie hatten Lacrosse und Tennis gespielt und waren reiten und schwimmen gegangen. Sie hatten ihre Prüfungen, so knapp es ging, bestanden, sich über Babyspeck und Pickel gegrämt, und eines Tages waren sie dann aufgewacht, und alles war vorüber gewesen. Die Schultage, die sich so endlos vor ihnen dahingestreckt hatten, gehörten jetzt der Vergangenheit an.

»Aber wir werden in Verbindung bleiben.«

Sie standen gemeinsam in dem Arbeitszimmer, das sie sich das letzte Jahr geteilt hatten. Ihre Sachen waren gepackt, die Regale und Schreibtische ausgeräumt. Sie sahen einander an. Cassandra, blauäugig, hochgewachsen und mit vollen Brüsten, trug das lange blonde Haar zu einem französischen Zopf geflochten und wirkte mit einem Twinset aus Kaschmir, einem dunkelblauen Faltenrock und einer Perlenkette sehr elegant.

Kate grinste. »Erinnerst du dich, wie wir uns aus der Schule geschlichen haben, um Expresso Bongo zu sehen?«

»Und weißt du noch, dieses Jahr, in dem ich zwölf rote Rosen und eine Valentinskarte von Moiras Bruder bekommen habe und sie beschlagnahmt wurden?«

Sie brüllten vor Lachen.

Kate mit ihrem Mopp ungebärdiger, brauner Locken und den grauen Augen war kleiner und untersetzter als ihre Freundin und versuchte gar nicht erst, elegant zu wirken. Sie trug ein honigfarbenes Tweedkostüm, Heimreisekleider.

Sie umarmten einander und mochten gar nicht mehr loslassen.

»Du musst zu Besuch kommen. Wir werden Unmengen Spaß haben.«

Schließlich lösten sie sich voneinander. Cass fuhr zur Wohnung ihres Vaters nach London, um sich ein Jahr lang zu entspannen und – sehr vage – darüber nachzudenken, sich irgendeine Art von Job zu suchen. Kate reiste heim nach Cornwall, um – sehr widerstrebend – dem Gedanken an die Teilnahme an einem Hauswirtschafts- oder Stenografie- und Maschineschreibkurs näherzukommen. Beide dachten allerdings sehr ernsthaft darüber nach, sich zu verlieben und zu heiraten.

Auf einer Party kaum ein Jahr später lernte Cass Tom Wivenhoe kennen, einen Seekadetten in seinem letzten Jahr am Britannia Royal Naval College, und kurz darauf erhielt Kate einen Anruf.

»Ich bins. Wie läuft es im Schreibmaschinenkurs?«

»Grässlich. Schrecklich. Wie geht es dir?«

»Ging mir noch nie besser. Hör mal, ich habe einen umwerfenden Typen kennengelernt. Also! Wie wärs, wenn du zu dem Sommerball in Dartmouth kommen würdest? Du weißt schon, das Marine-College.«

»Ist das dein Ernst? Die Eintrittskarten sind wie Goldstaub!«

»Aha! Vertrau deiner Feenpatentante. Du kommst zum Ball, Cinderella.«

»Aber wen soll ich …?«

»Tom hat einen Freund namens Mark Webster. Seine Partnerin hat sich das Bein gebrochen oder so etwas, und er hat niemand anderen. Er ist nett. Ehrlich. Ein bisschen still, aber groß und gut aussehend. Wie wärs damit? Wir nehmen uns ein Doppelzimmer im ›Royal Castle‹. Es wird genauso sein wie in der Schule. Was sagst du dazu?«

»Oh, Cass …«

Ein Jahr später, nach den Abschlusskursen des vierten Jahrs und einer ungebrochenen Abfolge von Bällen, Damenabenden und Partys waren sie beide verheiratet. Cass und Tom heirateten im August mit Kate als Brautjungfer. Zwei Wochen später waren dann Kate und Mark an der Reihe mit Cass als Ehrendame. In einer Woge aus weißer Seide, das Donnern der Orgel in den Ohren und eine Vision ehelicher Wonnen in den verzückten Augen, schritten sie unter den Bögen von Marineschwertern hinaus in den Sonnenschein eines Lebens, in dem sie glücklich sein würden bis ans Ende ihrer Tage.

Nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen waren Kate und Mark in eine möblierte Erdgeschosswohnung in einem entzückenden georgianischen Reihenhaus in dem Dorf Alverstoke gezogen, eine Straße vom Strand entfernt. Kate hatte viele glückliche Stunden darauf verwandt, die Wohnung so behaglich und heimelig zu gestalten, wie sie es mit ihren wenigen Besitztümern nur vermochte, während Mark jeden Tag auf die Dolphin ging, um seine Zusatzausbildung für die U-Boot-Flotte zu vollenden. Er war inzwischen gerade so lange Leutnant zur See, dass der einzelne Goldstreifen um beide Manschetten seine offenkundige Neuheit verloren hatte.

Cass und Tom wohnten ebenfalls in Alverstoke. Tom war der einzige andere verheiratete Mann in dem Kursus, und er und Mark fühlten sich zueinander hingezogen – allerdings mehr aufgrund ihres Status als Frischverheiratete und der langen Freundschaft zwischen ihren Frauen als aufgrund irgendwelcher Ähnlichkeiten in ihrem Charakter oder ihrer Lebenseinstellung. Sie wirkten ernsthafter und verantwortungsbewusster als die übrigen Mitglieder des Kurses, die in der Offiziersmesse lebten und deren Hauptgesprächsthemen noch immer Partys, Mädchen und Verabredungen für abendliche Trinkgelage im Pub waren. Die vier jungen Leute kamen oft zu zwanglosen Abendessen in Kates und...