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Gebt der Wildnis das Wilde zurück! - Ein Mann der Berge kämpft für die Natur

Michael Wachtler

 

Verlag Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2014

ISBN 9783440146439 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Er wusste natürlich: Um zu jagen, bedurfte es Prüfungen und Genehmigungen. Genauso zum Fischen. Seine Gedanken kreisten: Gesetzt den Fall, es gäbe in einem abgelegenen Tal einen Menschen, der nie mit anderen in Kontakt gewesen ist. Der weder Gewehr noch andere moderne Errungenschaften kennengelernt hat und sich auf äußerst natürliche Weise ernährt, wie er es schon sein ganzes Leben lang einfach tat. Was würde passieren, wenn er „entdeckt“ werden würde?

Die Behörden würden ihn darauf aufmerksam machen, dass in unserer zivilisierten Gesellschaft Bestimmungen zum „Wohle der Menschen“ eingeführt wurden. Sie würden ihn darüber aufklären, dass er von nun an nicht mehr als eine bestimmte Menge Pilze oder Pflanzen sammeln dürfe. Dass er Fische und Tiere des Waldes erst nach vielerlei Prüfungen und das nur zu besonderen Zeiten und nach einer von einer Behörde festgelegten Anzahl jagen könne. Außerdem müsse er seine Art und Weise zu leben genehmigen lassen.

Was wäre die Folge? Dieser Mensch würde innerhalb kurzer Zeit Hungers sterben oder in der Kälte zu Tode kommen.

Doch es blieb Fèro keine Wahl: „Ich machte mich daran, mir die nötigen Papiere zu besorgen, und ersuchte, zur Jagdprüfung zugelassen zu werden. Nur auf diese Weise konnte ich im Sinne der Gesellschaft zum Jäger werden. Auch einen Jagdhund brauchte ich.

Ein Freund von mir sagte, dass in einem nahe gelegenen Ort jemand einen Setter von Rasse habe. Am nächsten Tag brach ich nach Bolentina, dem besagten Dorf, auf. Ich läutete an der Haustür und brachte mein Anliegen vor. Der Mann führte mich in den Hof und da sah ich einen Hund von einer außerordentlichen Schönheit. Ich dachte mir, das ist sicherlich nicht jener Hund, den er zu verkaufen gedenkt.

Er aber sagte: ‚Das ist er!‘

Ich glaubte erst, dass er mich verspottet. Doch dann fragte ich ihn: ‚Wie viel willst du?‘

Er nannte eine bestimmte Summe. Ich gab ihm wesentlich mehr. So war es für mich richtig. Die nächsten Tage lernte ich den Rassehund an. Er war sehr ungestüm, und deshalb brachte ich ihm Überlegtheit und Ruhe bei. Nach einigen Monaten war er darin so ausgezeichnet, wie er schön war.

Mit meinem Freund Celestino fuhr ich dann ins österreichische Ferlach zum Büchsenmacher Anton Sodia. Ich sagte ihm, dass ich mir als Gravur an der Seitenplatte einen Auerhahn vorstelle. Und auf den Seiten eine Gämse und ein Reh. Sodia versprach, die Gravuren am Gewehr mit höchster Kunstfertigkeit auszuführen.

Im Herbst begann ich, mit meinem Hund das Gebiet rund um den Tovelsee der Länge und Breite nach zu durchstreifen. Ich lernte dabei noch inniger die Gewohnheiten des Auerhahns kennen, ebenso die Eigenheiten der Rehe und Gämsen. In dieser Zeit beschloss ich, mich voll und ganz der außerordentlichen und tiefgründigen Welt der freien Natur zuzuwenden, einem Adler gleich. Mit all meinen Instinkten. Dabei jedes Leben achtend – jenseits naturfremder bürokratischer Regeln.

Öfter als je zuvor beobachtete ich die Gämsen, wie sie mit Sorglosigkeit und in grenzenloser Freiheit über die steilen Felshänge sprangen. Von Zeit zu Zeit traten sie Felsplatten los, so als wollten sie ihre angestammten Rechte lautstark verdeutlichen. Ich sah zu und freute mich über ihre Selbstsicherheit. Manch Reh oder Gämse zeigte selbst im Tod noch Charakter und Freiheitswillen. Den eigentlichen Bewohnern der Natur muss man zugestehen, dass sie ihre Heimat nie verraten.

Am Tovo Giagol fiel mir ein Gamsbock auf, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Diese Gämse trieb mich zur Besessenheit. Mehr als fünfzig Mal folgte ich ihren Spuren. Sonderbarerweise bewegte sie sich nur nachts fort.“

Fèro hielt inne, so bewegte ihn diese Erfahrung. Seine kargen Worte wurden dadurch umso reichhaltiger. Dann fuhr er fort.

„Eines Tages folgte ich einem Weg in Richtung Tovo Giagol und erreichte bald die Felsen. Von dort aus konnte ich in den oberhalb liegenden Dos del Lagiet einsehen. Ich setzte mich und suchte langsam die abschüssigen Felsen ab. Plötzlich tauchte am Horizont ein Gamsbock auf. Mit dem Fernrohr erkannte ich ihn: Das Tier war er, der ‚König der Gämsen‘ des Toveltales. Ich betrachtete ihn. Die Aufregung überwältigte mich. Er war so groß und trug ein eng anliegendes mächtiges Horn. Das Alter hatte ihn hager werden lassen. Doch für einen sicheren Schuss war er zu weit entfernt.

Trotzdem beschloss ich, zu schießen. Ich schätzte die Entfernung. Um ihn zu treffen, musste ich 70 Zentimeter über ihn zielen. Der Horizont gab keinen Anhaltspunkt. Unvermittelt machte er zwei, drei Schritte. Ich maß wieder ein. Über ihm, in Richtung Spitze des Gran del Formenton, hob sich das Gipfelkreuz ab. Der Gämsenkönig setzte sich stolz in den Vordergrund, so als wüsste er, was kommt. Er verharrte, war ganz Ruhe. Ich zielte auf das Kreuz, löste den Abzug und … bum. Er fiel frei über den Felsen.

Gleichzeitig schauderte mich bei dem Gedanken, den König dieser Gegend vor dem Kreuz, vor etwas Heiligem erlegt zu haben. Dieses Bild prägte sich tief ein. Es ließ mich nie mehr los.

Dann brach ich auf, um ihn zu holen. Er war eine schmale, von Blumen bewachsene Rinne hinuntergestürzt. Wo er aufgeschlagen war, erkannte ich geknickte Kräuter. Unten am Ende lag er. Seine Hufe waren so groß wie die eines Hirsches. Jetzt fiel mir noch deutlicher auf, wie alt und dürr er war. Er hatte jahrein, jahraus dem harschen Wetter getrotzt und den Überlebenskampf immer gewonnen. Er war wahrhaft der König der Gämsen im Toveltal.

Der Tod dieses Tieres traf mich tief. Erkannte ich doch mit einem Schlag, dass nicht wir Menschen die Herrscher über die Natur sind, die entscheiden können, welcher Tiere es in der Wildnis bedarf. Es ist nicht an uns, darüber zu richten, wie viele kranke oder alte Gämsen oder Rehe es geben darf. – Von diesem Tag an hängte ich das Gewehr an einen Mauerhaken und benutzte es nie mehr wieder.“

Fèro war in sich gekehrt. Das Erlebnis ging ihm spürbar nach.

Nach einer Pause erzählte er weiter.

„Eines Tages, einige Wochen später, saß ich wie so oft an einem sonnenbeschienenen Hang im Toveltal. Plötzlich sah ich zwei Gämsen daherkommen. Ich erkannte sie sofort. Es waren die Enkel jenes Großen, den ich erlegt hatte. Ich sah, wie sie mehrmals mit den Klauen in den Boden schlugen, so als wollten sie sagen: ‚Du hast unseren Großvater auf dem Gewissen. Hat niemand mehr Respekt vor uns?‘ Dann eilten sie davon.

Ich bekam immer mehr Selbstzweifel über meine Jägerei. All die von mir erlegten Tiere stimmten mich nachdenklich.

Irgendwann traf ich bei meinen Ausflügen auf ein altes Gämsenweibchen mit langen Hörnern. Es lag tot, dabei mit offenen Augen im Gras, so als hätte sie auf mich gewartet, um mir etwas zuzuflüstern. Der weiße Fleck unter der Kehle war mit dem Alter bräunlich geworden. Sie musste wohl um die fünfzehn Jahre alt sein. Ich versuchte herauszubekommen, was sie mir sagen wollte. So setzte ich mich neben die alte Gämse und betrachtete sie. Erinnerungen und Traumwelten kamen auf und vermischten sich.

Mein Blick streifte über das Tier hinweg in die Umgebung. Sie lag neben einigen Gute-Heinrich-Pflänzchen, einen Meter weiter entfernt spross der Alpen-Milchlattich, ein wenig darunter wuchsen Brennnesseln und Isländisch Moos. Ich gewahrte auch einige junge Berg-Kiefern und den Gelben Enzian und noch viele weitere Kräuter. Dann verstand ich, was sie mir sagen wollte. ‚Schau um dich, wie viele Kräuter es gibt! Du kannst davon leben.‘ Tränen kullerten aus meinen Augen.“

Im Frauenschuh-Wald

Wieder einmal wanderten wir schweigend durchs Toveltal. Ich war in Gedanken versunken. Die meisten Menschen glauben, um in die Natur zu kommen, bedürfe es Straßen. Fèro hat sein Leben lang wenige benutzt – und war doch weiter gekommen als viele andere. Jeder freie Wanderer dringt Schritt für Schritt tiefer in die Natur ein und damit auch in sein eigenes Inneres.

Wer diese Erfahrung kennt, fühlt fast so etwas wie Mitleid, ge­rade mit den heranwachsenden jungen Menschen, wenn ihnen der freie Gang in die Natur verunmöglicht wird. So lässt sich auch die mo­derne Flucht zu künstlichen Vergnügungen verstehen. Stundenlang ­sitzen Millionen und Abermillionen vor den Bildschirmen und ­verbringen auf diese Weise ihre Zeit. Bis sie überzeugt sind, die ­virtuelle Welt wäre die wirkliche anstelle der Natur, die uns seit ­Urzeiten trägt und nährt.

Am Ende des Tovelsees in Richtung Cima Flavona öffnet sich dem unbedarften Auge ein magisches Schauspiel. Unvermittelt steil abfallende Felsen inmitten von sanften Waldhainen, Schluchten mit wild tosenden Gebirgsbächen und immer wieder kleine Seen geben dieser Landschaft ein fast unnatürliches Erscheinungsbild: Es ist die Gola. In dieser Gegend suchten wir die eigentlichen Bewohner: Pflanzen.

Zuerst zeigte mir Fèro einige Exemplare des Moosglöckchens. Das unscheinbare, kriechende Blümchen ist ein Relikt einstiger Eiszeiten und wird in seinem Lebensraum immer weiter zurückgedrängt. Durch Nebelschwaden und schwer beschreibbare, flüsternde Geräusche des nahen Waldes hindurch gelangten wir an eine Stelle, die vollkommen mit dem geheimnisvollen Gelben Frauenschuh bewachsen war. Sein prachtvoller Wildwuchs erfreute uns vollkommen. Nie im Leben sah ich dermaßen viele an einer einzigen Stelle.

Wie in einem Dschungel schlüpften wir zwischen flechtenüberhangenen Fichten und moosbedeckten Felsen hindurch. Immer dichter zeigten sich die Frauenschuhe, manchmal begleitet von den wunderschönen, so auffällig...