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Das Elend des Christentums - Ein Klassiker der Religionskritik in neuer Auflage

Joachim Kahl

 

Verlag Tectum-Wissenschaftsverlag, 2014

ISBN 9783828860650 , 216 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

EINLEITUNG VON 1993


Nein, ich bereue meine Absage an den christlichen Glauben und meinen Kirchenaustritt nicht. Zwar sehe ich heute – nach mehr als fünfundzwanzig Jahren – vieles anders, vieles differenzierter, aber mein Nein zur christlichen Botschaft aus Gründen der Vernunft und des Gewissens findet sich immer erneut bestätigt.

Ja, ich bin geradezu froh, dass ich kein «Menschenfischer» geworden bin, der in der Nachfolge und auf Geheiß Jesu Menschen fischt (Markusevangelium, Kapitel 1, Vers 17). Ein verräterisches Sinnbild des christlichen Glaubens, Menschen wie Fische im Netz fangen zu wollen! Da gefällt mir die kauzig-provokative Art des griechischen Philosophen Diogenes schon besser. Er ging am hellichten Tag mit einer Laterne auf den Marktplatz, um dort Menschen zu suchen. So respektierte er die menschliche Freiheit und übte zugleich eine hintergründige Sozialkritik, die zur Nachdenklichkeit einlud.

Die Botschaft der christlichen Schlüsselgestalt «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich» (Johannesevangelium, Kapitel 14, Vers 6) ist anmaßend und bodenlos. Es gab und gibt viele Wege, jeder Mensch muss seinen eigenen suchen und selber gehen.

Der Personenkult, der in unserem Jahrhundert so schreckliches Unheil über die Völker gebracht hat, ist im christlichen Glauben vorgeprägt. Die christliche Zeitrechnung, der es gelang, zur vorherrschenden auf dem Erdball erhoben zu werden, sieht in dem Auftreten Jesu von Nazareth die Zeitenwende schlechthin. Aber die Einteilung der gesamten Menschheitsentwicklung in ein simples «vor» und ein «nach» Christi Geburt zeugt von einer aberwitzigen Selbstüberschätzung der christlichen Religion. Zugleich vertuscht sie einen peinlichen Umstand, der – paradox genug – den Aufstieg des Christentums zur Weltreligion erst ermöglichte: den grandiosen Irrtum Jesu und der Urgemeinde, den wunderbaren Ausbruch des «Reiches Gottes» in unmittelbarer Nähe zu wähnen und ebendeshalb auf den Untergang dieser Welt und die Schaffung eines «neuen Himmels» und einer «neuen Erde» zu hoffen.

Aber diese Welt ist nicht untergegangen. Sie besteht nach wie vor. Insofern dokumentiert die christliche Zeitrechnung das Scheitern der ursprünglichen Heilserwartung und zugleich den Aufstieg des Christentums zur Weltreligion durch geschickte Anpassung an die tatsächlich eingetretene Situation.

Seither verkünden die Kirchen: In Geburt, Wirken, Tod und Auferstehung Jesu Christi offenbare sich die Liebe Gottes zur Welt, habe sich bereits der entscheidende Schritt zum «Frieden auf Erden» und zur Erlösung der Menschen vollzogen. Franz Overbeck, der Baseler Altmeister unwiderlegter Bibel- und Christentumskritik, kommentierte sarkastisch: Das Christentum könne sein «Unterfangen, die Welt von Gottes Liebe zu überzeugen», «nur mit Atheismus abbüßen».9

In der Tat: Wo war und wo bleibt die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen vor und nach Christi Geburt? Wo zeigt sich, wie äußert sich – im wirklichen Leben von Mensch und Tier – die fürsorgliche Vatergüte, die aufhelfende Barmherzigkeit, die überquellende Freundlichkeit, die ewige Gerechtigkeit Gottes? Wofür sollen die Menschen «dem Herrn lobsingen», Gott demütig Dank darbringen, wie die Bibel und die kirchliche Liturgie unermüdlich fordern?

Die Nachrichten in der Zeitung und im Fernsehen strafen die Verheißungen der «frohen Botschaft» täglich Lügen und untergraben den Glauben. Kein gütiger und allmächtiger Gott hat die Welt geschaffen. Kein von Gott gesandter Retter hat die Menschen in irgendeiner Hinsicht von irgendeinem Übel erlöst. Kein heiliger Geist hat die Kirche vor innerer und äußerer Zwietracht bewahrt, die Christenheit vor moralischer Verwirrung behütet.

Mein Buch «Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott» erschien erstmals 1968 – ein Jahr nach meiner Promotion zum Doktor der protestantischen Theologie. Als zornige Bilanz meines Theologiestudiums löste es ein starkes Echo aus und wurde bis Anfang der achtziger Jahre in über hundertzwanzigtausend deutschen Exemplaren verkauft und in vier Sprachen übersetzt: ins Englische, Japanische, Italienische, Holländische. Es wurde und wird im schulischen Religionsunterricht besprochen, in theologischen Universitätsseminaren analysiert. Aufsätze und ein eigenes Buch dagegen wurden publiziert.10 Der praktische Theologe Hans-Hinrich Jenssen (Berlin/DDR) behandelte mich im «Handbuch der Seelsorge» unter dem Aspekt der «Seelsorge an Zweifelnden» und erörterte an meinem Buch die Notwendigkeit «intellektueller Diakonie»11.

Leserbriefe aus dem In- und Ausland erreichten mich in großer Zahl. Der prominenteste Autor eines Leserbriefes an mich war Karl Barth, einer der großen Kirchenlehrer dieses Jahrhunderts. Er schloss sein humorvolles Schreiben, das auch in der Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht ist, mit den Worten: «Glückauf, tapferer Mann! Möge er sich auch als ein weiser Mann offenbaren!»12

Eine ausführliche und kritisch-verständnisvolle Würdigung fand mein Buch bei Helmut Groos in seinem umfangreichen Werk «Christlicher Glaube und intellektuelles Gewissen. Christentumskritik am Ende des zweiten Jahrtausends».13 Groos erwähnt auch kurz meine spätere religionsphilosophische Entwicklung zum marxistischen Atheisten hin, wie sie sich kompakt in dem Essay «Warum ich Atheist bin» (1977) niederschlug. In diesem Beitrag zu einem von Karlheinz Deschner herausgegebenen Buch14 stilisierte ich den marxistischen Atheismus zur reflektiertesten Stufe des Atheismus, stellte ihn als dessen Vollendung dar. Ich bemerkte damals nicht und wollte es auch lange Jahre nicht wahrhaben, dass mit meiner vorbehaltlosen Hinwendung zum Marxismus, bald auch zum Marxismus-Leninismus, meine atheistische Philosophie selbst eine religiöse Färbung annahm.

Denn die religionskritische Typologie, in der der marxistische Atheismus als höchste Stufe des Atheismus verklärt wurde, war natürlich eingebettet in eine umfassende geschichtsphilosophische Konstruktion. Der marxistische Atheismus galt mir als Bestandteil des marxistischen Humanismus, der – praktisch organisiert in den kommunistischen Parteien und im «real existierenden Sozialismus» – seinerseits die höchste Stufe des Humanismus bilde. Vor ihm verblasse aller nichtmarxistischer Humanismus zu bloß «abstraktem Humanismus». Unmerklich hatte sich meine protestantische Theologie in marxistische Teleologie verwandelt: in den optimistischen Glauben, die Menschheitsgeschichte strebe unaufhaltsam vom Niederen zum Höheren, erklimme immer steilere Stufen von Freiheit und Gleichheit. In unserer Epoche münde sie in den weltweiten Übergang zum Sozialismus, dessen Triumph unvermeidlich kommen werde.

Ich war der Faszination des Kommunismus, genauer: der Idee des Kommunismus, erlegen – wie so mancher westdeutsche Intellektuelle der 68er Generation, wie so viele Menschen, die aufbrachen, den uralten Traum einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Im Marxismus-Leninismus bot sich mir ein Sinnsystem dar, in dem sich die drei Hauptformen weltlicher Gläubigkeit der Moderne zu einer verführerischen Einheit bündelten:

•dem Glauben an den Fortschritt,

•dem Glauben an die Wissenschaft,

•dem Glauben an die Technik.

Die Suggestion der «in sich geschlossenen», «harmonischen» und «einheitlichen» Weltanschauung, von der Lenin in der kleinen Programmschrift «Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus»15 spricht, tat ein Übriges, meine Realitätswahrnehmung zu beeinträchtigen und meine politische Urteilskraft zu trüben.

Karlheinz Deschner war der Erste, der meinen marxistischen Atheismus als «gläubigen Unglauben»16 kritisierte – eine Einschätzung, die mich damals ärgerte, die ich aber inzwischen als berechtigt akzeptiere. Heute weiß ich: Die Absage an die eine Religion – verstehe sie sich noch so undogmatisch atheistisch – immunisiert nicht notwendig gegen andere Religionen. Niemand ist ein für allemal der Religion enthoben, sondern kann ihr immer erneut – in der einen oder anderen Gestalt – verfallen. Geistige Freiheit ist kein einmal erworbener Besitz, sondern eine ständige, anspruchsvolle Aufgabe, die Kraft und Selbstkritik abverlangt.

Wie stark sich die mentale Struktur der Gläubigkeit aus meiner christlich-theologischen Zeit in meine marxistische Phase hinüber durchgehalten hat, irritiert mich. Es entbehrt nicht der Komik, dass die klassischen Glaubensdefinitionen des Neuen Testamentes als Deutungsmuster dienen können für die Bereitschaft, sich täuschen zu lassen und in utopische Illusionen zu fliehen.

Wie heißt es im Hebräerbrief? «Es ist aber...