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The Drop - Bargeld

Dennis Lehane

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604511 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR


 

[7] 1

Tierrettung

Bob fand den Hund zwei Tage nach Weihnachten. Das Viertel lag still in der Kälte, verkatert und aufgebläht. Er kam gerade von seiner üblichen Vier-bis-zwei-Schicht in Cousin Marvs Kneipe in den Flats, wo er seit fast zwei Jahrzehnten als Barkeeper arbeitete. An diesem Abend war nicht viel los gewesen. Millie saß wie immer auf dem Barhocker in der Ecke, nippte von Zeit zu Zeit an ihrem Tom Collins, sprach gelegentlich im Flüsterton mit sich selbst oder tat so, als ob sie fernsehen würde – Hauptsache, sie musste nicht in das Altersheim an der Edison Green zurück. Cousin Marv kam auch vorbei und lungerte eine Weile herum. Er behauptete, die Einnahmen mit der Kasse abgleichen zu wollen, aber die meiste Zeit saß er hinten, las das Rennprogramm und tippte SMS an seine Schwester Dottie.

Sie hätten vermutlich früh dichtgemacht, wären da nicht die Freunde von Richie Whelan gewesen, die das Millie gegenüberliegende Ende des Tresens in Beschlag genommen hatten und den ganzen Abend Trinksprüche auf ihren seit langem vermissten und wahrscheinlich toten Freund ausbrachten.

Auf den Tag genau zehn Jahre zuvor hatte Richie Whelan Cousin Marvs Kneipe verlassen, entweder um Gras [8] aufzutreiben oder ein paar Quaaludes (das war unter seinen Freunden Gegenstand mancher Debatte), und war nie wieder gesehen worden. Zu den Hinterbliebenen zählten neben seiner Freundin eine kleine Tochter, um die er sich nie gekümmert hatte und die bei ihrer Mutter in New Hampshire lebte, und ein Auto, das in der Werkstatt auf einen neuen Spoiler wartete. Deshalb waren sich auch alle so sicher, dass er tot war: Richie hätte dieses Auto nie zurückgelassen; er liebte den verdammten Wagen.

Sehr wenige Menschen nannten Richie bei seinem richtigen Vornamen. Alle kannten ihn als »Glory Days«, weil er andauernd von den ruhmreichen Tagen erzählte, in denen er als Quarterback für die East Buckingham High gespielt hatte. Er hatte die Mannschaft zu dem Rekordergebnis von 7 : 6 geführt, was kaum erwähnenswert schien, bis man sich ihre Ergebnisse zuvor und seitdem anschaute.

Und so versammelten sich in jener Nacht die Kumpel des seit langem vermissten und wahrscheinlich toten »Glory Days« in Cousin Marvs Kneipe – Sully, Donnie, Paul, Stevie, Sean und Jimmy – und schauten sich im Fernsehen an, wie die Celts von den Heat über das Spielfeld gescheucht wurden. Bob brachte ihnen gerade ungefragt die fünfte Runde – sie ging aufs Haus –, als in dem Spiel etwas geschah, das alle dazu brachte, die Arme in die Höhe zu werfen und laut aufzustöhnen oder zu rufen.

»Scheiße noch mal, ihr seid zu alt«, brüllte Sean in Richtung Bildschirm.

Paul sagte: »So alt sind die gar nicht.«

»Rondo hat LeBron gerade mit seinem beschissenen Rollator geblockt«, sagte Sean. »Und wie heißt dieses [9] Arschloch da, Bogans? Der hat doch einen Werbevertrag für Erwachsenenwindeln.«

Bob stellte die Drinks vor Jimmy ab, dem Schulbusfahrer.

»Hast du dazu auch ’ne Meinung?«, fragte Jimmy ihn.

Bob spürte, dass er errötete, wie oft, wenn Menschen ihn so direkt ansahen, dass er sich genötigt fühlte, ihren Blick zu erwidern. »Ich interessiere mich nicht so für Basketball.«

Sully, der in einer Zahlstelle an der Interstate 90 arbeitete, sagte: »Interessiert dich überhaupt irgendwas, Bob? Liest du gern? Schaust du dir The Bachelorette an?«

Die Jungs grinsten und glucksten, und Bob lächelte entschuldigend.

»Die Drinks gehen aufs Haus«, sagte er.

Er ging weg und ignorierte das Gequatsche hinter seinem Rücken.

Paul sagte: »Ich hab schon Tussis gesehen – echt geile Bräute –, die haben den Typen anzubaggern versucht. Keine Reaktion.«

»Vielleicht steht er auf Männer«, sagte Sully.

»Der Typ steht auf gar nichts.«

Sean erinnerte sich an seine Manieren, hob das Glas und prostete erst Bob und dann Cousin Marv zu. »Danke, Jungs.«

Marv, der jetzt hinter dem Tresen stand und eine Zeitung vor sich ausgebreitet hatte, lächelte und hob bestätigend sein Glas, ehe er sich wieder seiner Lektüre zuwandte.

Die anderen Jungs stießen beherzt an.

Sean sagte: »Bringt jemand einen Trinkspruch auf den alten Knaben aus?«

[10] Sully sagte: »Auf Richie ›Glory Days‹ Whelan, Abschlussklasse ’92 der East Bucky High und ein witziger Scheißkerl. Er ruhe in Frieden.«

Die anderen murmelten zustimmend und tranken, und Marv ging zu Bob hinüber, der gerade schmutzige Gläser in die Spüle stellte. Marv faltete seine Zeitung zusammen und musterte die Männer.

»Du gibst ihnen einen aus?«, fragte er Bob.

»Sie trinken auf einen toten Freund.«

»Wie lange ist der Bursche schon tot? Zehn Jahre?« Marv zog sich kopfschüttelnd den kurzen Ledermantel an, den er dauernd trug. Der Mantel war angesagt gewesen, als die beiden Flugzeuge in die Twin Towers krachten, und er war schon wieder out, als die Türme in sich zusammenfielen. »Es muss auch mal weitergehen im Leben, man kann nicht ewig Gratisdrinks aus einer Leiche schlagen.«

Bob spülte ein Glas aus, ehe er es in die Spülmaschine stellte, und schwieg.

Cousin Marv zog Handschuhe und Schal an. Er warf einen Blick in Millies Richtung. »Wo wir gerade dabei sind: Wir können sie nicht weiter die ganze Nacht lang auf ihrem Schemel reiten lassen, ohne dass sie ihre Drinks bezahlt.«

Bob stellte ein weiteres Glas auf der oberen Ablage ab. »Sie trinkt doch nicht viel.«

Marv beugte sich ganz nah zu ihm vor. »Wann hast du ihr zuletzt einen Drink berechnet? Und nach Mitternacht lässt du sie hier rauchen – glaub bloß nicht, dass ich das nicht wüsste. Das hier ist keine Suppenküche, sondern eine Bar. Entweder zahlt sie heute ihre gesamten Rückstände, oder sie kann erst wiederkommen, wenn sie es getan hat.«

[11] Bob sah ihn an; er sprach leise. »Das sind mindestens hundert Dollar.«

»Hundertvierzig, um genau zu sein.« Marv machte sich auf den Weg nach draußen, in der Tür blieb er stehen. Er zeigte auf den Weihnachtsschmuck in den Fenstern und über dem Tresen. »Ach, und Bob? Häng den Weihnachtsscheiß ab. Wir haben den siebenundzwanzigsten.«

Bob fragte: »Und was ist mit den Heiligen Drei Königen?«

Marv starrte ihn eine Weile wortlos an. »Da fällt mir echt nichts mehr ein«, sagte er und ging.

Nachdem das Spiel zu einem kläglichen Ende gekommen war und die Celtics den Gnadentod von Verwandten gestorben waren, denen sich niemand besonders nahefühlt, zogen Richie Whelans Freunde endlich ab und ließen Bob und die alte Millie allein zurück.

Während Bob den Besen durch die Kneipe schob, hustete Millie sich die Seele aus dem Leib: ein scheinbar nicht enden wollender Raucherhusten mit gewaltiger Schleimproduktion. Gerade, als ihr Erstickungstod unmittelbar bevorzustehen schien, hörte sie auf.

Bob legte auf seiner Besenrunde einen Halt neben ihr ein. »Alles in Ordnung?«

Millie winkte ab. »Alles bestens. Ich nehm noch einen.«

Bob ging um den Tresen herum. Weil er ihr nicht in die Augen sehen konnte, schaute er betreten auf den schwarzen Bodenbelag aus Gummi. »Tut mir leid, aber den muss ich dir berechnen. Ach, und Mill?« – Bob hätte sich am liebsten den Kopf weggeschossen, so peinlich war ihm die Situation – »Du musst deine Rechnung bezahlen.«

[12] »Oh.«

Bob schaute noch immer zu Boden. »Ja.«

Millie machte sich an der Sporttasche zu schaffen, die sie jeden Abend mitbrachte. »Klar doch, klar. Musst ja korrekt abrechnen. Klar.«

Die Sporttasche war alt, der seitliche Schriftzug verblichen. Sie kramte darin herum. Dann legte sie einen Dollarschein und zweiundsechzig Cent auf den Tresen. Kramte noch ein bisschen herum und brachte einen antiken Bilderrahmen ohne Bild zum Vorschein. Sie legte ihn auf den Tresen.

»Das ist Sterlingsilber von Water Street Jewelers«, sagte Millie. »Robert F. Kennedy hat da eine Armbanduhr für Ethel gekauft, Bob. Der ist was wert.«

Bob fragte: »Du hast kein Foto drin?«

Millie schaute auf die Uhr über dem Tresen. »Ist ausgeblichen.«

»Eins von dir?«, fragte Bob.

Millie nickte. »Mit den Kindern.«

Sie wühlte noch einmal in der Sporttasche. Bob stellte einen Aschenbecher vor sie hin. Sie sah zu ihm hoch. Er hätte gern ihre Hand getätschelt – eine tröstliche Geste à la »Du bist nicht allein« –, aber solche Gesten überließ man besser anderen Menschen. Menschen in Filmen zum Beispiel. Jedes Mal, wenn Bob so etwas versuchte, wirkte es peinlich.

Also drehte er sich um und machte ihr noch einen Drink.

Er brachte ihr das Glas. Nahm den Dollar vom Tresen und wandte sich wieder der Kasse zu.

Millie sagte: »Nein, nimm den…«

[13] Bob warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Schon gut.«

Bob kaufte seine Kleidung bei Target – ungefähr alle zwei Jahre neue T-Shirts, Jeans und Flanellhemden. Er fuhr einen Chevrolet Impala, seit sein Vater ihm im Jahr 1983 die Schlüssel dazu gegeben hatte, und weil er nie irgendwohin fuhr, kratzte der Tacho nicht einmal annähernd an der Hunderttausender-Marke. Sein Haus war bezahlt und die Grundsteuer ein Witz, denn mal ehrlich: Wer wollte in dieser Gegend leben? Wenn Bob also etwas hatte, das ihm kaum einer zugetraut hätte, dann war es genügend Geld. Er legte den Dollarschein in die Schublade. Griff in seine Hosentasche, zog ein Bündel Geldscheine hervor und schälte sieben Zwanziger...