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Monika Feth

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2002

ISBN 9783894807016 , 256 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

  • Du gibst das Leben - Das sich wirklich lohnt
    Der Bankräuber - Die wahre Geschichte des Farzad R.
    Den Himmel gibt's echt - Die erstaunlichen Erlebnisse eines Jungen zwischen Leben und Tod
    Der Geschmack des Wassers - Der Hexenprozess von Dillenburg
    Zeit der Vergebung
    Die Zehn Gebote - Anspruch und Herausforderung
    Hurentaten - Die Erlebnisse eines Wiener Mädchen
    Mein Herz kennt die Antwort
  • Bleib cool, Papa - Guter Rat für viel beschäftigte Väter
    Atem und Bewegung - Theorie und 111 Übungen
    Der Atem - Quelle von Entspannung und Vitalität
    Die Sünderin von Siena - Roman
    Mädchenmörder - Ein Liebesroman
    Die 5. Plage - Women's Murder Club - - Thriller
    Elfenkind - Ein Vampir auf der Suche nach der Wahrheit. Und ein Elfenkind, das den Schlüssel zu allem in sich trägt ...
    Alphavampir (Alpha Band 2) - Fortsetzung der Paranormal Romance um eine Gruppe Gestaltwandler
 

 

Die Stille war schrecklich. Sie schien von dem Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel und sich bunt auf dem hellen Granitboden brach, noch verstärkt zu werden. Keine Bewegung. Kein Laut. Nur die schwere, lastende Stille, die sich über den Raum gelegt hatte wie eine unsichtbare Decke.
Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Jana hielt die Luft an. So musste es sein, wenn man aus einem Boot fiel und lautlos niedersank, über sich das Licht und unten die dunkle Tiefe.
Sie erlebte es immer wieder in ihren Träumen. Musste es immer wieder erklären. Obwohl sie lieber nicht darüber geredet hätte. Alles wollten sie wissen. Was war das Besondere an diesem Traum? Was quälte sie darin am meisten?
Und Jana musste Antworten finden.
Nicht das Fallen, nicht das Niedersinken machte ihr in diesen Träumen zu schaffen. Was sie vor allem entsetzte, war die furchtbare Stille.
Aber das hier war kein Traum, es war die Wirklichkeit. Aus den Augenwinkeln beobachtete Jana die anderen. Alle hatten den Kopf gesenkt, genau wie sie. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, genau wie ihre.
Nur eine hatte die Arme erhoben. La Lune.
Vor ihr kniete Mara in ihrem schlichten blauen Gewand, die Hände auf dem Boden, ein Opferlamm. Sie kniete reglos und wartete. Und alle warteten mit ihr.

Marlon trieb den Pfahl mit wenigen kräftigen Schlägen in den Boden. Der Regen der vergangenen Tage hatte die Erde aufgeweicht, das erleichterte ihm die Arbeit. Sein Vater saß auf dem Traktor. Er hatte sich halb umgedreht, den rechten Arm über der Lehne des Fahrersitzes, und sah seinem Sohn zu.
Seit einiger Zeit hatte er Probleme mit dem Rücken und konnte nicht mehr so gut arbeiten wie früher. Aber er hielt nicht viel von Ärzten und ging erst hin, wenn er, wie seine Frau es ausdrückte, den Kopf unterm Arm trug. Solange er noch kriechen konnte, würde er keinen Fuß in die Praxis von Doktor Jahn setzen.
Sie hatten erst etwa vierzig Meter geschafft. An die zweihundert lagen noch vor ihnen. Und nirgendwo Schatten, überall pralle Sonne.
Im letzten Sommer hatten sie den Zaun immer wieder flicken müssen, notdürftig, weil kein Geld für einen neuen da war. Beinah jede Woche hatten sie nach Kühen suchen müssen, die ausgerissen waren und sich dann verlaufen hatten. Dabei wuchs ihnen die Arbeit sowieso schon über den Kopf. Auf solche Zwischenfälle konnten sie verzichten.
Die meisten der alten Pfähle waren morsch gewesen. Sie hatten sie entfernt und beim Hof gelagert. Immerhin konnten sie sie wenigstens noch als Brennholz benutzen. Das Holz war teuer geworden. Das ganze Leben war teuer geworden. Man sah es an dem erbärmlichen Zustand des Hauses. Feuchte Wände, ein schadhaftes Dach und tausend andere Stellen, die dringend renoviert werden mussten.
Marlon liebte körperliche Arbeit. Sie war ein guter Ausgleich zu den Stunden in der Schule und zu Hause am Schreibtisch und tat ihm gut. Sein Körper war daran gewöhnt. Es machte ihm nicht viel aus, dass solche Arbeit nicht mehr sehr angesehen war. Bauern wurden immer gebraucht. Ohne Getreide kein Brot und kein Kuchen. Die Menschen tranken weiterhin Milch, aßen Eier, Fleisch und Gemüse. Und trotzdem sahen sie verächtlich auf die Bauern herab, die ihre Grundnahrungsmittel produzierten.
Marlon war bis an den Traktor herangekommen und sein Vater wartete, bis er eine Reihe neuer Pfähle vom Anhänger abgeladen hatte, dann tuckerte er mit dem Traktor ein paar Meter weiter.
Sie unterhielten sich kaum. Hin und wieder ein Wort, knapp, nur das Notwendigste. Marlon war es recht. Er misstraute den Plapperern, die das Herz auf der Zunge trugen. Bei Licht besehen, verloren viele Worte an Gewicht.
Der Schweiß lief ihm über Stirn, Schläfen und Kinn, tropfte auf seine Stiefel. Das Hemd klebte ihm am Körper. Fliegen umsurrten seinen Kopf. Er schlug nach ihnen, vertrieb sie alle paar Sekunden. Ohne Erfolg. Von Jahr zu Jahr wurden sie aggressiver. Neuerdings gab es welche, die richtig bissen. Die Bisse - oder waren es Stiche? - schwollen übel an. Tagelang war die Haut heiß und gerötet und nicht einmal Essigumschläge verschafften Erleichterung. Selbst Marlon, der nicht zu Allergien neigte, hatte nach einem solchen Biss unterhalb des Knöchels neulich einen Tag lang mit hohem Fieber im Bett gelegen.
Er nahm die Kappe ab, wedelte sich ein wenig Luft zu und setzte sie wieder auf. Noch eine Stunde, dann würden sie zum Kaffeetrinken fahren. Seine Mutter hatte Rosinenbrot gebacken. Schon am Morgen war der Duft durch das Haus gezogen. Die Mutter machte nahezu alles selbst, um zu sparen. Und das Ersparte ging sofort wieder drauf. Heute war es der neue Zaun, morgen ein Ersatzteil für eine der Maschinen. Sie konnten die Löcher gar nicht so schnell stopfen, wie sie entstanden.
Marlon holte aus und schlug, holte aus und schlug. Pfahl für Pfahl trieb er in die Erde. Wenn er Glück hatte, würde es heute vielleicht noch für ein, zwei Stunden am Schreibtisch reichen.
Er hatte große Pläne, aber die konnte er nur in die Tat umsetzen, wenn er dafür lernte. Mehr als die andern, denn er hatte weniger Zeit.
Und plötzlich hatte er es eilig, mit der Arbeit voranzukommen. Er steigerte sein Tempo, holte mit dem Hammer aus und schlug und schlug, bis er die Muskeln in seinen Armen nicht mehr spürte.

In dem Moment, als Jana meinte, es keine Sekunde länger aushalten zu können, genau in diesem Augenblick senkte La Lune die Arme und legte Mara die Hände auf die Schultern.
Zitterte Mara? Schwankte sie nicht sogar ein wenig?
»Du bist in die Irre gegangen«, sagte La Lune sanft.
Der Klang ihrer Stimme war das Zeichen.
Jana hob den Kopf. Vor, neben und hinter ihr hoben sich die anderen Köpfe. Nur Mara blieb in der Stellung, in der sie sich befand.
»Du hast dich von unseren Gesetzen entfernt«, sagte La Lune.
Jana war froh, dass die Stille durchbrochen wurde. Gleichzeitig empfand sie ein tiefes Gefühl der Scham, denn La Lune würde Mara bestrafen. Es gab keinen Grund, froh zu sein, wahrhaftig nicht.
Das Ausmaß der Strafe hing von vielen Dingen ab. Vom Gesetzbuch. Vom Stand der Gestirne. Von der Stimmung La Lunes. Und von der Stimmung der Mitglieder des engsten Kreises.
La Lune hatte sich mit ihnen beraten. Diese Beratungen fanden meistens in der Nacht statt. La Lune hieß nicht umsonst La Lune. Der Mond war die Quelle ihrer Weisheit, ihrer Inspiration.
»Bist du dir dessen bewusst?«, fragte La Lune.
Mara durfte sich jetzt aufrichten, durfte La Lune ansehen und ihr antworten. Aber sie durfte sich nicht erheben, noch nicht.
»Ja«, sagte sie.
Sie sagte es leise, flüsterte es beinah.
La Lune runzelte die Stirn, aber nur kurz, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, dieses verständnisvolle, gütige Lächeln, für das man sie einfach lieben musste. Ein Lächeln, von dem man sich, nachdem es einmal einem selbst gegolten hatte, wünschte, es würde niemals mehr aufhören.
Mara begann zu weinen. Man konnte ihre Tränen nicht sehen, weil sie der Versammlung den Rücken zugewandt hatte. Aber Jana wusste, dass Mara weinte. Sie waren Freundinnen. Niemanden kannte Jana besser als Mara. Es war, als könnte sie Maras Tränen in der Kehle spüren.
Sie widerstand dem Impuls, zu ihr zu laufen und sie in die Arme zu nehmen. Das würde nur die eigene Bestrafung nach sich ziehen. Niemandem wäre damit geholfen, schon gar nicht Mara. Im Gegenteil - ihre Strafe würde nur umso härter ausfallen.
»Was muss ein Kind des Mondes tun, das sich von den Gesetzen entfernt hat?«, fragte La Lune mit ihrem verstehenden Lächeln.
Sie sah wunderschön aus. Die Sonne spielte auf ihrem schwarzen Haar und ihrem ebenmäßigen Gesicht. Das weiße Gewand floss an ihrem Körper herab. Auf dem Ring an ihrer linken Hand glomm der große Mondstein.
»Bereuen«, sagte Mara.
»Und was ermöglicht die Reue?«, fragte La Lune.
»Die Bestrafung«, sagte Mara.
Es lief Jana kalt über den Rücken. Das war nicht Maras Stimme. Das war die Stimme einer Schlafwandlerin, schleppend, fern, gar nicht bei sich.
Die Mitglieder des engsten Kreises erhoben sich, traten auf La Lune zu und bildeten einen Halbkreis um sie. Auch sie trugen weiße Gewänder. Das Gewand La Lunes jedoch war von Goldfäden durchwirkt, das der Mitglieder des engsten Kreises von Silberfäden.
»Ich werde dir jetzt deine Strafe verkünden«, sagte La Lune. »Bist du bereit?«
»Ja«, sagte Mara mit dieser sonderbar fremden Stimme.
»Du wirst für dreißig Tage ins Strafhaus verbannt«, sagte La Lune. »Nutze die Zeit.«
Mara sackte in sich zusammen. Jetzt konnte man hören, dass sie weinte.
Jana spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie atmete flach, ihre Fingernägel gruben sich in ihre Oberarme. Dreißig Tage! Ein ganzer Monat!
Man konnte eine Welle der Unruhe spüren.
Das Ritual war noch nicht zu Ende. Mara musste sich für die Strafe bedanken.
La Lune sah auf sie hinab. In ihr Lächeln hatte sich Traurigkeit gemischt. Es fiel ihr nicht leicht zu strafen, das sagte sie immer wieder. Jedes Mal sei es, als schnitte ihr etwas ins Herz.
Mara richtete sich auf.
»Ich danke dir, La Lune, und der Mondheit«, sagte sie.
Zwei Gesetzesfrauen traten an sie heran, fassten sie an den Armen und führten sie hinaus. Ihre roten Gewänder glühten im Sonnenlicht.

Als sie Mara hinausführten, suchte sie meinen Blick. Ihre Augen waren voller Tränen. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich gesehen hat.
Hätte ich ihr nur ein Wort sagen können!
Dreißig Tage ohne Mara. Dreißig Tage ohne die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen.
La Lune ist die Güte.
La Lune ist das Verständnis.
La Lune ist unser Leben.
Ich darf nicht zweifeln.


Die Gesetzesfrauen sprachen kein Wort, auf dem ganzen Weg nicht. Sie hatten Mara losgelassen, gingen jedoch dicht neben ihr, Karen rechts, Elsbeth links. Ein Fluchtversuch war undenkbar.
Wohin hätte Mara auch fliehen können? Beinah das ganze Dorf gehörte den Kindern des Mondes und in den wenigen Häusern, die noch von den ursprünglichen Dorfbewohnern bewohnt wurden, wäre sie nicht willkommen gewesen.
Jeder, der versucht hatte, die Gemeinschaft zu verlassen, war wieder zurückgebracht worden. Die Strafe, die auf einen Fluchtversuch folgte, war wesentlich härter als das Strafhaus. Mara hatte welche nach ihrer Bestrafung gesehen. Gebrochene Menschen. Sie hatte sie nicht wieder erkannt.
Vorm Kinderhaus spielten die Kinder, ein fröhliches Gewimmel von orangefarbenen Hosen, Röcken und Pullis. Die Kinderfrauen saßen im Schatten eines Kastanienbaums und beaufsichtigten ihre Schützlinge.
Die Kinder sind unser kostbarster Besitz. Die Kinder sind unsere Zukunft. Die Kinder sind die Strahlen des Mondes.
Auch Mara war einmal ein Kind gewesen. Sie hatte nur wenige Erinnerungen daran. Erinnerungen führten fort von der Gegenwart. Sie waren nicht auf die Zukunft gerichtet. Erinnerungen konnten gefährlich sein. Besonders für die Älteren. Es gab welche, die ein Leben vor La Lune gehabt hatten.
Der Weg zum Strafhaus war viel zu kurz. Die Sonne brannte von einem ganz und gar blauen Himmel. Mara hob den Kopf und sah nach oben. Wieder kamen ihr die Tränen, diesmal von der blendenden Helligkeit. Die Vögel zwitscherten. Von weitem konnte Mara ein Hämmern hören und das Tuckern eines Traktors. Sie sog die Geräusche und den Duft des Sommers in sich ein. Das würde sie nun lange nicht mehr können.


Marlons Mutter hatte das Rosinenbrot in dicke Scheiben geschnitten und sie in den Brotkorb gelegt. Sie hatte Butter, Quark und Hagebuttengelee auf den Tisch gestellt und schenkte nun den Kaffee ein.
Marlon rieb sich die schmerzenden Hände. Er hatte Handschuhe benutzt, so waren ihm wenigstens Blasen erspart geblieben. Sein Vater las Zeitung. Die Zwillinge machten sich über das Brot her. Sie pulten die Rosinen heraus, die sie seit neuestem nicht mehr mochten, schichteten sie vor ihren Tellern zu kleinen Häufchen.
Greta und Marlene waren wie eine Person mit zwei Körpern. Sie teilten alles miteinander, einschließlich ihrer Vorlieben und Abneigungen. Für Außenstehende waren sie nicht zu unterscheiden, selbst ihre Stimmen hatten denselben Klang, ein Vorteil, den sie in der Schule hemmungslos ausnutzten. Sie zogen sich nie gleich an, aber sie tauschten oft ihre Kleider untereinander aus. Und so war es mit den Jahren nicht leichter geworden, sie auseinander zu halten, eher schwerer.
Trotzdem hatte Marlon niemals Probleme damit gehabt. Er hätte nicht erklären können, wie er die beiden unterschied. Er wusste ganz einfach, wen er gerade vor sich hatte. Auch die Eltern verwechselten die Zwillinge nie. Deshalb gab es kein Versteckspiel innerhalb der Familie, keine Täuschungsmanöver.
Marlon nahm sich zuerst die Rosinen von Marlene, dann die von Greta und steckte sie in den Mund. Wie konnte man Rosinen nicht mögen?
»Ihr könntet mal ein bisschen bei der Arbeit mit anpacken«, sagte er. »Wieso renn ich mir eigentlich die Hacken ab und ihr macht euch ein gemütliches Leben?«
»Weil du der Hoferbe bist«, sagte Marlene.
»Das verpflichtet«, sagte Greta.
»Scheiß drauf«, sagte Marlon.
»Euer Bruder hat Recht«, mischte die Mutter sich ein. »Ihr könntet ruhig ein bisschen mehr Interesse für andere Dinge aufbringen als immer nur Jungs und Makeup und die neuesten Frisuren.«
Sie hatte im Garten gearbeitet. Unter ihren Fingernägeln waren schwarze Ränder. Auf ihrer Nase zeigten sich Spuren eines Sonnenbrands. Marlon betrachtete ihre kräftigen, braunen Hände und dann die Hände seiner Schwestern, hell und feingliedrig, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Zwillinge waren richtige Schmarotzer. Nahmen sich von jedem, was sie kriegen konnten, und gaben nur selten etwas zurück, hielten sich abseits, verkapselt in ihrer eingeschworenen Gemeinschaft.
»Wenn's ihm doch Spaß macht...«, sagte Marlene.
»...und uns nicht...«, ergänzte Greta.
Selbst ihre Sätze teilten sie sich mitunter. Als sie noch klein gewesen waren, hatten sie eine eigene Sprache erfunden, die sie noch ab und zu benutzten, seltsam verkürzte Sätze und kompliziert verschlüsselte Wörter, die keiner außer ihnen verstand.
Marlon nahm sich die vierte Scheibe Rosinenbrot. Er konnte essen, so viel er wollte, es setzte nicht an. Kein Wunder bei seinem Arbeitspensum. Alles, was er zu sich nahm, verwandelte sich in Muskeln. Ein Fitnessstudio hatte er nicht nötig.
»Hier steht wieder ein Artikel über die Irren drin.« Der Vater faltete verärgert die Zeitung zusammen. »Die reinste Lobeshymne. Wahrscheinlich haben sie inzwischen sogar die Leute von der Presse gekauft.«
Mit den Irren meinte er die Mitglieder der Sekte. Auch ihn hatten sie schon zu kaufen versucht. Sie wollten das Land und den Hof. Einen verführerisch hohen Preis hatten sie geboten, doch der Vater hatte ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Immer wieder machten sie Vorstöße. Aber der Vater blieb hart.
»Jeder hat seinen Preis«, hatte Heiner Eschen vom Nachbarhof neulich gesagt. Er kam abends hin und wieder vorbei, um mit dem Vater ein Bier zu trinken.
»Da würd ich meinen Arsch nicht drauf verwetten«, hatte der Vater erwidert. »Es gibt einen Preis, den kann keiner zahlen, nicht mal die da.«
So bezeichnete er sie am liebsten. Die da waren etwas ganz Unbestimmtes, etwas beruhigend Vages. Dadurch verloren sie ihre Bedrohlichkeit.
Heiner Eschen hatte das Thema gewechselt und der Vater hatte ihm ein neues Bier hingestellt.
Viele waren schwach geworden. Hatten Land verkauft, mehr Land, noch mehr Land und schließlich sogar ihren Hof. Waren in die Stadt gezogen und hatten den Kindern des Mondes im wahrsten Sinn des Wortes das Feld überlassen.
Marlon wusste, dass sein Vater nicht käuflich war. Niemals und unter keinen Umständen. Lieber würde er mitsamt seiner Familie verhungern, als denen da auch nur einen Misthaufen zu überlassen. Marlon war sich jedoch nicht sicher, ob das auch für ihn selbst galt. Hatte er einen Preis? Wenn ja, wie hoch wäre er?
Nach dem Kaffeetrinken legte sein Vater sich hin. Sein Rücken brannte, wie er sagte, und Marlon fuhr allein wieder auf die Weide hinaus, um weiter am Zaun zu arbeiten.
Von weitem sah er das Haus mit den vergitterten Fenstern und er bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut. Strafhaus nannten sie es. Niemand im Dorf wusste, was dort vor sich ging, aber jeder hatte seine Vorstellungen davon.
Das Gebäude war im Stil aller Gebäude der Kinder des Mondes gebaut, ebenerdig, mit weichen, abgerundeten Formen. Es schmiegte sich an den Hügel wie ein großes Tier, das nicht entdeckt werden will, und war in diesem kalten, milchigen Weiß verputzt, als schiene mitten am Tag der Mond mit seinem unwirklichen Licht darauf.
Die Frauen, die darin ein und aus gingen, trugen rote Gewänder, aber es war kein heiteres Rot, es war das erschreckende Rot einer frischen, klaffenden Wunde.
Plötzlich kam Marlon die Stille des Nachmittags bedrohlich vor. Er stellte sich den ersten Pfahl zurecht und holte weit mit dem Hammer aus. Brach die lähmende Stille mit seinen Schlägen auf.
Dann, irgendwann, hörte er nur noch, wie der Hammer gleichmäßig auf das Holz traf.
Plock. Plock. Plock.
Was gingen ihn diese Verrückten an?