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Die Tatarenwüste

Dino Buzzati

 

Verlag Die Andere Bibliothek, 2014

ISBN 9783847753339 , 250 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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14,99 EUR


 

1


Nach seiner Ernennung zum Offizier verließ Giovanni Drogo an einem Morgen im September die Stadt, um sich nach der Festung Bastiani, seinem ersten Bestimmungsort, zu begeben.

Es war noch finster, als er sich wecken ließ und zum erstenmal seine Leutnantsuniform anlegte. Als er fertig war, betrachtete er sich beim Schein einer Petroleumlampe im Spiegel, doch die erhoffte fröhliche Laune wollte sich nicht einstellen. Im Haus war alles still, nur aus dem Zimmer nebenan drangen leise Geräusche zu ihm herüber: Giovannis Mutter stand soeben auf, um ihn zu verabschieden.

Das also war der Tag, den er seit Jahren herbeisehnte, der Beginn seines wirklichen Lebens! Er gedachte der freudlosen Zeiten auf der Militärakademie. Er erinnerte sich der trübseligen Abende, die er über seinen Büchern verbracht hatte, während unten auf der Straße freie und wohl auch glückliche Menschen vorübergingen, er sah sich von neuem in winterlich-eisigen Schlafsälen erwachen, auf denen der Alpdruck zahlloser Strafen lastete, und er dachte daran, mit welcher Ungeduld er die Tage gezählt hatte, einen nach dem anderen – diese Tage, die nie zu enden schienen.

Jetzt war er endlich Offizier, jetzt brauchte er sich nicht länger mit Büchern abzuquälen, brauchte nicht mehr vor der Stimme des Feldwebels zu zittern. Das alles war vorbei. Jene Tage, die ihm so hassenswert erschienen waren, hatten sich selbst für immer aufgezehrt, waren zu Monaten und Jahren geworden, die niemals wiederkehren würden. Ja, er war jetzt Offizier und würde Geld haben, und vielleicht würden ihm die Blicke schöner Frauen folgen. Aber im Grunde – ganz unvermittelt kam ihm der Gedanke – war für ihn, Giovanni Drogo, die schönste Zeit der ersten Jugend schon vorbei. Und wie er so in den Spiegel starrte, gewahrte er auf seinem Gesicht, das zu lieben er sich stets vergebens bemüht hatte, ein kümmerliches Lächeln.

Unsinnig das alles: Warum gelang ihm nicht das gebührend sorglose Lachen, während er sich von der Mutter verabschiedete? Warum konnte er ihre letzten guten Ratschläge kaum beachten und nur den Klang ihrer so vertrauten, guten Stimme vernehmen? Warum irrte er nervös im Zimmer umher und suchte vergeblich die Uhr, die Reitpeitsche, die Mütze, während sich doch alles am richtigen Ort befand? Schließlich zog er ja nicht in den Krieg! Dutzende von Leutnants, seine bisherigen Kameraden, verließen gleich ihm zu dieser Stunde fröhlich lachend ihr Elternhaus, als ginge es zu einem Fest. Warum brachte er nur leere, sinnlose Phrasen über die Lippen, statt der Mutter zärtlich und beruhigend zuzusprechen? Das schmerzliche Gefühl, das jeden befällt, der zum erstenmal aus dem elterlichen Haus, der Geburtsstätte seiner Hoffnungen, auszieht, die Ängste, wie jeder Wechsel sie verursacht, die Rührung beim Abschied von der Mutter – das alles erfüllte seine Seele. Außerdem war da aber ein beharrlich bohrendes Gefühl, für das er keinen Namen fand: eine unbestimmte Vorahnung schicksalhafter Dinge, als sollte er eine Reise antreten, von der es keine Heimkehr gab.

Sein Freund Francesco Vescovi ritt mit ihm eine Strecke des Weges. Der Hufschlag der beiden Pferde hallte durch die menschenleeren Gassen. Es dämmerte. Noch lag die Stadt in tiefem Schlaf, nur da und dort öffneten sich in den obersten Stockwerken die Fensterläden, zeigten sich müde Gesichter, starrten teilnahmslose Augen sekundenlang nach dem Wunder des Sonnenaufgangs.

Die beiden Freunde schwiegen. Drogo versuchte sich vorzustellen, wie die Festung Bastiani wohl aussehen mochte, doch es gelang ihm nicht. Er wußte weder genau, wo diese Festung lag, noch, wie weit es bis dorthin war. Wenige Stunden, hatten die einen gesagt, einen Tagesritt, die anderen. Doch von denen, die er danach gefragt hatte, war keiner je selbst dort gewesen.

Als sie das Stadttor erreichten, begann Vescovi so lebhaft von allerlei Belanglosigkeiten zu reden, als habe Drogo bloß einen Spazierritt vor. Dann mit einem Mal sagte er: »Siehst du die grüne Bergkuppe dort? Ja, ganz recht, die meine ich. Und siehst du die Mauern dort oben? Das alles gehört bereits zu der Festung. Ein vorgeschobenes Reduit. Ich kam vor zwei Jahren einmal dort vorüber, als ich mit meinem Onkel auf die Jagd ging.«

Sie hatten jetzt die Stadt hinter sich gelassen. Maisfelder, Wiesen und herbstlich rote Wälder begannen sich vor ihnen auszubreiten. Seite an Seite ritten die beiden auf der weißen, sonnenbeschienenen Straße dahin. Giovanni und Francesco waren Freunde. Sie hatten lange Jahre zusammen gelebt, gemeinsame Interessen gehabt und die gleichen Freundschaften gepflegt. Tag für Tag hatten sie zusammengesteckt. Dann hatte Vescovi Fett angesetzt, und er, Drogo, der neuernannte Offizier, hatte nun plötzlich das Gefühl, als habe er den anderen bereits weit hinter sich gelassen. Dieses bequeme, elegante Leben ging ihn nichts mehr an; auf ihn warteten ernsthafte, unbekannte Dinge. Selbst die beiden Pferde trabten, wie ihm schien, nicht mehr im gleichen Schritt. Klang nicht der Hufschlag des seinen bereits weniger lebhaft, weniger flott? Klang darin nicht schon ein Unterton von Angst und Mühsal mit, als ahnte sogar das Tier die große bevorstehende Veränderung?

Jetzt hatten sie eine Anhöhe erreicht. Drogo wandte sich um und blickte auf die Stadt hinunter, die nun im Gegenlicht zu seinen Füßen lag. Morgendliche Rauchwolken standen über den Dächern. In der Ferne konnte er sein Haus sehen und sogar das Fenster seines Zimmers erkennen. Sicherlich stand es jetzt weit offen, während die Frauen Ordnung machten: Sie zogen die Betten ab und räumten, was herumlag, in die Schränke. Dann würden sie die Fensterläden schließen, und von da an würde während langer Monate nur der geduldige Staub und an sonnigen Tagen vielleicht ein dünner Lichtstrahl in diesen Raum eindringen. Versperrt und verdunkelt, so sah Drogo in diesem Augenblick die kleine Welt seiner Kindheit. Er wußte: Die Mutter würde sie für ihn hüten, auf daß er sie bei seiner Rückkehr unverändert wiederfände, auf daß er schließlich, nach langer Abwesenheit, in ihr von neuem zum Knaben werden könne. Gewiß glaubte sie, einen für immer entschwundenen Glückszustand bewahren und die Flucht der Zeit aufhalten zu können, und daß es genüge, bei der Heimkehr des Sohnes Türen und Fenster zu öffnen, damit alles wieder so werde wie einst.

Hier, auf der Anhöhe, verabschiedete sich Vescovi, der Freund, auf das herzlichste, und Drogo ritt allein die Straße weiter, den Bergen entgegen. Die Sonne stand hoch am Himmel, als er den Eingang des Tales erreichte, das zu der Festung emporführen mußte. Zu seiner Rechten, in schwindelnder Höhe, war das Reduit zu sehen, von dem Vescovi gesprochen hatte. Ihm schien, als könne es bis dahin nicht mehr allzu weit sein. Da er rasch ans Ziel gelangen wollte, verzichtete er auf eine Mittagsrast und trieb sein Pferd vorwärts. Die Straße begann anzusteigen und verlief jetzt zwischen glatten Felswänden. Immer seltener traf Drogo auf andere Menschen. Als er einem Fuhrmann begegnete, fragte er diesen, wie weit es noch bis zur Festung sei.

»Zur Festung?« entgegnete der Mann. »Welche Festung?«

»Zur Festung Bastiani«, antwortete Drogo.

»In dieser Gegend gibt es keine Festungen«, sagte der andere. »Von Festungen hab’ ich noch nie etwas gehört.«

Offenbar war der Mann schlecht unterrichtet. Drogo gab seinem Pferd von neuem die Sporen und fühlte dabei, wie eine Unruhe langsam in ihm aufzusteigen begann. Und in dem Maße, wie der Nachmittag voranschritt, nahm diese Unruhe immer mehr zu. Suchend blickte er zu den Felsen empor und hoffte vergeblich, die Festung zu entdecken, die er sich wie ein altes Kastell mit schwindelerregend steil aufragenden Mauern ausmalte. Doch es verging eine Stunde um die andere, und allmählich beschlich ihn der Verdacht, Francesco habe ihm einen falschen Weg gewiesen; mußte er doch das Reduit bereits weit hinter sich gelassen haben. Der Abend war nicht mehr fern.

So ziehen sie dahin, Giovanni Drogo und sein Pferd – winzig gegen die Flanken der Berge, die immer höher und gezackter aufwachsen. Er reitet und reitet, immer höher hinauf, um noch vor Einbruch der Dunkelheit bei der Festung einzutreffen; doch schneller als er steigen aus der Tiefe, in der der Wildbach donnert, die Schatten herauf. Jetzt haben sie am gegenüberliegenden Hang der Schlucht dieselbe Höhe erreicht wie der Reiter und sein Pferd. Einen Augenblick scheinen sie innezuhalten, um Drogo nicht allzusehr zu entmutigen; dann aber gleiten sie weiter empor über Felsen und Geröll, bis sie den Reiter tief unter sich zurücklassen.

Das ganze Tal war bereits mit violetten Schatten angefüllt, und nur die nackten Felsränder droben lagen noch im Sonnenlicht, als Giovanni unvermittelt ein kriegerisch anmutendes Bauwerk vor sich auftauchen sah – schwarz und riesenhaft gegen den klaren Abendhimmel, uralt und verlassen.

Er spürte, wie sein Herz zu pochen begann. Das mußte sie sein, die Festung. Doch alles, das Mauerwerk wie die Landschaft ringsum, atmete Ungastlichkeit und Düsternis.

Vergebens suchte er nach einem Eingang. Obwohl es bereits nahezu finster war, schimmerte nirgends Licht hinter den Fenstern, war nicht das Lämpchen einer einzigen Wache auf dem Mauerkranz zu erblicken. Nur eine Fledermaus flatterte vor einer weißen Wolke herum. Schließlich versuchte Drogo zu rufen: »Hallo! Ist denn hier niemand?«

Aus dem geballten Schatten zu Füßen des Gemäuers löste sich die Gestalt eines Mannes. Es schien ein Landstreicher zu sein, irgendein armer Teufel, graubärtig, mit einem kleinen Sack in der Hand. Er war nicht richtig auszumachen, nur das Weiß seiner Augäpfel schimmerte im Halbdunkel. Drogo sah ihn beinahe mit...