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Geschichte der Psychologie - Strömungen, Schulen, Entwicklungen

Helmut E. Lück, Susanne Guski-Leinwand, Bernd Leplow, Maria von Salisch

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2014

ISBN 9783170261433 , 272 Seiten

7. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR

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2         Strömungen und Entwicklungen im 19. Jahrhundert


Schon mehrfach wurde gesagt, dass es nicht die Psychologie, sondern verschiedene psychologische Richtungen, Strömungen, Orientierungen als sogenannte Schulen gab. Für Laien und Studienanfänger ist dies verwirrend. Umso wichtiger ist die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Richtungen. Hierdurch wird einerseits die Fähigkeit erworben, psychologische Literatur angemessen zu bewerten; andererseits dient die Beschäftigung mit Strömungen und Richtungen dazu, ein eigenes differenziertes Psychologieverständnis zu entwickeln.

Wissenschaftliche Richtungen und Schulen sind nie aus heiterem Himmel entstanden, selten durch einen einfallsreichen Forscher, aber fast immer durch die Auseinandersetzung mit früheren, als unvollkommen erkannten Positionen. Gerade in dieser Auseinandersetzung mit älteren, als falsch oder unzureichend erachteten Auffassungen ist die Psychologie – wie jede andere Wissenschaft – gewachsen und gereift. In den folgenden Abschnitten möchten wir daher besonders die kontroversen Positionen darstellen, um den Prozess der Auseinandersetzung und Reifung sowie deren Rolle für die Psychologie (Benetka, 2002) nachvollziehbar zu machen.

Das 19. Jahrhundert ist durch eine Vielzahl von geistigen und gesellschaftlichen Strömungen gekennzeichnet, von denen hier nur einige skizziert werden sollen, die für die Entwicklung der Psychologie relevant wurden.

2.1        Positivismus und naiver Empirismus


Die wissenschaftstheoretische Position des Positivismus geht wesentlich auf den englischen Aufklärer David Hume (1711–1776) zurück. Zur Form einer philosophischen Richtung findet der Positivismus jedoch erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch die französischen Philosophen Auguste Comte (1798–1857) und Hyppolite Taine (1828–1893), in England durch John Stuart Mill (1806–1873) und Herbert Spencer (1820–1903), im deutschen Sprachbereich durch Ludwig Feuerbach (1804–1872), Ernst Mach (1838–1916), Hans Vaihinger (1852–1933) und andere. Comte, der auch als Begründer der Soziologie gilt, forderte, von dem Gegebenen, vom Tatsächlichen, eben vom »Positiven« auszugehen. Nach der Auffassung von Comte verläuft die Entwicklung der Menschheit in drei Phasen (Stadien): Dem theologischen Stadium folgt ein metaphysischer bzw. abstrakter Zustand, welcher wiederum durch einen wissenschaftlichen, positivistischen Zustand überwunden wird. Erst im positivistischen Stadium hat die Menschheit den religiösen und metaphysischen Aberglauben überwunden. Dieses sog. Dreistadiengesetz gilt nach Comte nicht nur für jede einzelne Wissenschaft, sondern auch für das Individuum.

Im sog. englischen Positivismus wurden die Thesen von Comte durch John Stuart Mill (1806–1873) und Herbert Spencer (1820–1903) ausgebaut. Diese englische Richtung des Positivismus wird auch als »naiver Empirismus « bezeichnet, da hier die Auffassung bestimmend ist, der Forscher könne »wahre« Erkenntnisse über die Natur gewinnen, indem er über Beobachtung und Experiment Gesetzmäßigkeiten erkennt, die im Idealfall Naturgesetze sind. Diese Auffassung – gepaart mit einem beträchtlichen Fortschrittsglauben – war für Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts typisch.

Heute sind uns die Mängel des naiven Empirismus als wissenschaftstheoretische Grundlage empirischer Psychologie klar. Aber: Der Empirismus des 19. Jahrhunderts hatte seine Begründung in den Erfolgen, die die Naturwissenschaften aufzuweisen hatten. Biologie, Chemie und insbesondere Medizin machten große Fortschritte. Die Pflanzenphysiologie gestattete die Entwicklung wirksamer chemischer Düngemittel, Krankheitserreger wurden entdeckt und konnten bekämpft werden usw. Wer mochte da an weiteren Fortschritten der Naturwissenschaften zweifeln?

2.2        Evolutionstheorie


Immer wieder ist die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) in ihrer Bedeutsamkeit für den wissenschaftlichen Fortschritt mit dem astronomischen Weltbild von Nikolaus Kopernikus (1473–1543) verglichen worden. In beiden Fällen wurde das bis dahin gültige Weltbild (fast wörtlich) auf den Kopf gestellt. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt des Kosmos – wie konnte sie dann noch Mittelpunkt göttlicher Schöpfung sein? Nun sollte der Mensch nichts anderes als das Ergebnis eines langen Evolutionsprozesses sein? War die Schöpfungsgeschichte (Genesis) nur ein Märchen? In beiden Fällen reagierten die amtlichen Vertreter des Christentums ähnlich, nämlich mit Abwehr, Verbot (Index) und schließlich mit einer Art Rückzugsgefecht oder Stillhalteabkommen.

Charles Darwin wurde 1809 in Shrewsbury als Sohn eines Arztes geboren. Er studierte einige Semester Medizin, dann Theologie und erhielt – stets an Naturkunde interessiert – das Angebot zur Teilnahme an einer größeren Expedition nach Südamerika, die fünf Jahre dauern sollte. Darwins Theorie über die Entwicklung der Arten sowie seine Abstammung arbeitete er auf seinem Landsitz Down bei Beckenham (Grafschaft Kent) aus. Dort starb er 1882.

Charles Darwin hat die Explosivkraft seiner Gedanken und Argumente gespürt, hatte er doch selbst einige Semester Theologie studiert. Seine publizistischen Aktivitäten, seine Argumente und sein gesamtes Verhalten waren durch Vorsicht und Zurückhaltung gekennzeichnet. Dies verlieh ihnen vielleicht eine besonders starke Wirkung.

Ständig weisen Lebewesen einer Art und Gattung aus unterschiedlichen Gründen kleinere Unterschiede auf. Das eine ist kräftiger, das andere hat eine etwas abweichende Farbe usw. Im Kampf ums Dasein (»struggle for life«) siegt das Lebewesen, das besser ausgerüstet ist; jenes, das besser getarnt ist, das das Futter besser findet, das im Kampf mit Artgenossen überlegen ist (»survival of the fittest«). Da dieses Lebewesen mit größerer Wahrscheinlichkeit an der Arterhaltung durch Vermehrung beteiligt ist, findet eine natürliche Auslese (Selektion) statt.

Der Einfluss der Darwin’schen Evolutionstheorie auf die Humanwissenschaften war beträchtlich. Englische Evolutionisten wie Sir Edward Burnett Tylor (1832–1917) oder James G. Frazer (1854–1941) waren der Auffassung, dass sich »Primitive« auf einer niedrigeren Evolutionsstufe befänden und Europäern in der intellektuellen Entwicklung unterlegen seien. Auch Sir Francis Galton (1822–1911) lieferte für eine solche Auffassung Argumente, da er durch empirische Untersuchungen Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten verschiedener Rassen fand. (Sehr viel später sollte sich zeigen, dass auch die psychologischen Verfahren, mit denen Intelligenzunterschiede erfasst werden, stark kulturgebunden sind, so dass es völlig kulturunabhängige Tests, mit denen solche Vergleiche angestellt werden könnten, nicht gibt.) Nicht unmittelbar, aber doch mittelbar findet man den Einfluss von Darwin in den psychologischen Theorien vieler Autoren, so z. B. bei Sigmund Freud. Einflüsse von Darwin, die sich hier oder in anderen psychologischen Theorien finden, sind Übernahmen von Teilaspekten oder -aussagen aus der Evolutionstheorie Darwins, welche auf psychische oder interindividuelle Ereignisse bezogen, d. h. übertragen wurden. Einen solchen Transfer bzw. die übermäßige Betonung von Einzelaspekten aus Darwins Theorie nennt man Darwinismus (Francis, 1981). Wie jeder »-ismus« wird damit immer eine überzogene Anwendung oder Überbetonung bezeichnet. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass mit der Evolutionstheorie vor allem auch die Entstehung von Gemeinschaft erklärt werden sollte (Bieri, 2010, S. 47 ff.). Überzogene Anwendungen in diesen Aspekten führen zu Ansätzen verschiedener Sozialdarwinismen, von denen auch die Psychologie in manchen Teilen nicht frei ist, was im Weiteren noch näher erläutert wird.

2.3        Völkerkunde und Völkerpsychologie


Wie erwähnt, war auch die Völkerpsychologie im Verlauf des 20. Jahrhunderts von darwinistischen Einflüssen betroffen. Dies hat u. a. auch mit den Entwicklungen in der Völkerkunde zu tun: Völkerpsychologie und Ethnologie waren eng miteinander verbunden (vgl. Wolfradt, 2011). Somit soll zuerst ein kurzer Überblick über beide Gebiete gegeben werden.

Praktisch begann die europäische Expansion durch Kolonialisierung mit den großen Entdeckungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. Jedoch setzte unter den europäischen Großmächten erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten...