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Reisen zum Ende der Welt - Gespräche mit Sterbenden

Jörg M. Pönnighaus

 

Verlag Athena Verlag, 2014

ISBN 9783898968638 , 132 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Der Schmied


Montag, 23. November 2009

»Warum sind Sie denn nicht ein wenig früher gekommen«, fragte ich Herrn Keil, während die Lokalanästhesielösung einlief, »ich meine, dass Sie da schon eine Metastase am Hals haben, das ist doch offensichtlich und das muss doch auch Ihnen klar sein.«

»Ja, das wird schon eine Metastase sein. Aber ich bin halt ein Feigling, darum bin ich nicht eher gekommen.«

»Und warum hat Ihre Frau Sie nicht früher geschickt?«

»Die ist schon mit 54 gestorben. An Leukämie. Sie war noch in der Charité in Berlin, aber die konnten ihr auch nicht helfen.«

»Haben Sie Kinder?«

»Ja, zwei. Einen Jungen und ein Mädchen.«

»Und warum haben die Sie nicht früher geschickt?«

»Die wussten da ja nichts von!« Herr Keil lachte.

Herr Keil war Schmied gewesen. Jetzt war er 81. Seit 1640 waren sie Schmiede gewesen in seiner Familie, hatte er mir stolz erzählt.

»Und haben Sie Enkel?«

»Ja vier Enkel habe ich. Und drei von ihnen haben studiert und einer ist bei der Polizei. Und sie sind alle vier ganz lieb. Aus allen ist was geworden!«

»Dann können Sie ja in Frieden sterben!«

»Ja, das kann ich. Und das kann nicht jeder von sich sagen, dass er in Frieden sterben kann!«

Das walnussgroße blutende Melanom im Nacken von Herrn Keil war rasch weggeschnitten. Aber sicher hatte Herr Keil schon viele Metastasen, nicht nur die am Hals.

Ich ging zurück ins Zimmer 12, wo Herr Keil lag.

»So jetzt habe ich Zeit für Sie«, sagte ich, »ich habe eben den Befund gelesen von dem CT gestern, und jetzt macht es Sinn zu reden.« Ich schob dem Sohn von Herrn Keil den noch freien Stuhl zu, setzte mich selbst auf den kleinen Tisch.

Herr Keil ist ein großer, massiger Mann.

»Ich denke, wir sollten ganz offen miteinander reden …«

Die beiden nickten.

»… Es ist nun einmal so, dass Ihr Vater«, wandte ich mich an den Sohn, »mit einem weit fortgeschrittenen Melanom zu uns gekommen ist. Warum er so lange gewartet hat, sei jetzt dahingestellt. Und so weit man so etwas vorhersagen kann, wird er an diesem Melanom sterben.«

Herr Keil nickte.

»Nun sind aber gestern bei der Durchuntersuchung merkwürdigerweise noch keine Metastasen gefunden worden, obwohl längst welche da sein müssten … Und da ist nun die Frage, was wir mit der Metastase am Hals machen sollen. (Im CT Befund hatte ich gelesen, dass sie bis tief in die Muskulatur eingewachsen sei). Da gibt es nun zwei Möglichkeiten. Sie können in die Hals Nasen Ohren Klinik gehen und sich dort den ganzen Hals ausräumen lassen. Neck dissection nennt man so etwas. Dabei wird alles an Lymphknoten und Gewebe entfernt, was nicht lebenswichtig ist und was nicht niet- und nagelfest ist.

Oder wir schneiden Ihnen nur die Metastase heraus.

Na ja, und letztlich können Sie natürlich auch noch entscheiden, sich gar nichts mehr machen zu lassen und in Ruhe zu Hause zu sterben.«

»Und die Metastase, die schneiden Sie selbst raus«, fragte Herr Keil.

»Ja, das würde ich selbst machen. Heute Nachmittag.«

»Dann lasse ich mir nur die Metastase rausschneiden, wenn Sie das selbst machen. Zu Ihnen habe ich Vertrauen!«

»Na ja, und dann müssen wir noch darüber reden, ob Sie sich anschließend eine immunstimulierende Behandlung machen lassen wollen …«

Sonntag, 27. Mai 2012

Herr Keil lag gelblich blass im Bett am Fenster. Seit ich ihn Weihnachten 2009 daheim besucht hatte, hatte er deutlich an Gewicht verloren. Er lag hier im Krankenhaus in Naila wegen offener Beine. Schläuche, die da rumhingen, zeigten mir, dass er mit einer Vakuumversiegelung der Unterschenkel behandelt wurde, die der Studienlage nach (und auch meiner Erfahrung nach) nicht viel bringt bei offenen Beinen. Chirurgen glauben trotzdem an diese Behandlung …

Herr Keil freute sich offensichtlich, dass ich mit Lottchen gekommen war, um ihn zu besuchen. Den Blumenstrauß, den Lottchen gepflückt hatte und die Schachtel Kekse, die ich mitgebracht hatte, beachtete er freilich nicht weiter. Das war ja auch unwichtig. Wir rückten uns Stühle an sein Bett. Es war ein Vierbettzimmer, ein Bett war frei, in einem lag jemand, der röchelte und schnarchte und im vierten Bett lag diagonal ein Behinderter, vermutlich mit einem gebrochenem Unterschenkel oder dergleichen.

Herr Keil bat mich, für ihn Telefonnummern zu wählen. Irgendwann ging schließlich jemand ans Telefon, eine Kerstin, vermutlich eine Enkelin. Herr Keil sagte ihr, sie solle seiner Tochter Diana bestellen, dass sie kommen solle, der Doktor aus Plauen sei da. Warum sie kommen sollte, war mir nicht klar.

Ich fragte Herrn Keil nach seinen Kindern. Ich hatte natürlich vergessen, wie alt sie waren und was sie machten. Seine Tochter, 1956 geboren, arbeitete in einem Behindertenheim in Hof, sein Sohn, 1953 geboren, war Schichtleiter, wie Herr Keil sich ausdrückte, in der Papierfabrik in Weissenburg.

»Wann ist Ihre Frau gestorben?«

»Sie ist 1986 gestorben, in der alten Charité in Berlin. Ja, sie hatte Leukämie. Ihr Bruder ist schon mit 42 gestorben, auch an Leukämie.«

»Ach ja. Und wann hatten Sie geheiratet?«

»1952. Sie kam aus einem Nachbardorf von Ruppertsgrün. Eigentlich sollte sie einen Müller heiraten, damit der die väterliche Mühle übernahm, aber dann haben wir halt geheiratet. Es war eine große Mühle. Ja, ja, sicher, eine Wassermühle. Wenn die Bauern kamen, um das Getreide zu bringen, haben sie immer erst die Ratten verjagt, damit die Bauern nicht die vielen Ratten gesehen haben, die da rumliefen. Ja, ich bin 1928 geboren. Ich sollte noch zu den Gebirgsjägern bei der SS, aber dann war der Krieg ja alle und das ist dann ins Wasser gefallen. Und ich bin dann in die Schmiede gegangen. Ich habe eine Ahnentafel, dass meine Vorfahren seit 1615 Schmiede sind im Dorf, in Ruppertsgrün. Ich habe dann bald die Meisterprüfung gemacht und konnte Lehrlinge ausbilden, mein Vater hatte den Meister nie gemacht. Aber dann kam die LPG, die Pferde – es gab so 80 Pferde bei den Bauern – wurden abgeschafft und als Pferdefleisch nach Italien und Frankreich verkauft und es gab keine Arbeit mehr in der Schmiede.

Da hat jemand zu mir gesagt, ich solle doch einen Lehrgang machen für Propangas. Ja, und den habe ich auch gemacht und dann ein Geschäft gehabt, um in der Gegend Herde mit Gasanschluss zu installieren.

Ja, das habe ich bis 1992 gemacht, bis ich mir den Oberschenkel gebrochen habe. Beim Apfelpflücken, da bin ich aus dem Baum gefallen.

Ich war immer sehr kirchlich. Und die Rechnungen für die Kirche, wenn ich da was repariert habe, die habe ich immer der Stasi untergeschoben …«

Herr Keil lachte.

»… Die haben das nie gemerkt. Ja, 1945 war die Kirche noch voll in Ruppertsgrün. Es war eine große Kirche, für 300 Leute oder so. Damals hatten alle Leute Hunger und Leid und sind in die Kirche gegangen, heute, bei dem Wohlstand, den wir haben, braucht niemand mehr die Kirche. Und die wenigen, die noch in die Kirche gehen, fahren mit dem Auto vor. So ist das geworden. Ich weiß noch, wie mal jemand in Uniform und mit Säbel in der Kirche gepredigt hat, aber was sollte ich mit 15 Jahren dazu sagen …«

»Fällt Ihnen das Sterben eigentlich schwer?«

»Nein, das Sterben fällt nicht schwer. Ich war so weit, dass ich aus dem Fenster springen wollte, solche Schmerzen hatte ich in den Beinen. Wie ein Vieh habe ich geschrien. Jetzt geht es mit den Schmerzen. Aber Sterben fällt nicht schwer. Ich kann in Frieden sterben, ich habe keine Feinde, ich habe, denke ich, immer nur Gutes getan. Darum hat mich auch in DDR Zeiten nie jemand angefeindet und ich bin nie belästigt worden, obwohl ich nicht in der Partei war und immer in die Kirche gegangen bin. Ich war nur einmal für eine Nacht im Gefängnis in Rudolstadt, aber da hat mich unser Bürgermeister sofort wieder rausgeholt.

Den Ortsparteivorsitzenden und andere Führer haben sie ja 1945 alle abgeholt und nach Buchenwald gesteckt, wo die meisten umgekommen sind. In dasselbe Buchenwald. Nur der Bürgermeister, der hatte sich oben in der Kirche ein kleines Zimmer eingerichtet und sich dort versteckt und ist erst wieder hervorgekommen, als die Razzien vorbei waren.«

»Und niemand hat ihn verraten?«

»Nein, niemand. Wir wussten alle im Dorf, wo er war, aber niemand hat ihn an die Russen verraten.«

»Glauben Sie denn an eine Auferstehung nach dem Tode?«

»Ich glaube, dass es ein Wesen gibt, das uns Menschen hilft. Der Rest wird sich finden. Und ich glaube auch, dass die Menschen, jeder für sich, gut sind; und dass jeder sein eigenes Leben lebt und dass man ihm da nicht reinreden soll. Ja, das glaube ich.«

Irgendwann kam seine Tochter, Diana Müller. Es war ein seltsames Verhältnis zwischen Herrn Keil und seiner Tochter. Er war so unwirsch zu ihr, obwohl er sie doch gebeten hatte zu kommen, dass es fast peinlich war, dabei zu sein. Ich sagte das auch später zu Frau Müller, als wir wegen der Visite kurz das Zimmer verließen. Die Stationsärztin und ein Oberarzt gingen die Runde.

»Heute war er ja noch nett zu mir. Er will immer, dass jemand 12 Stunden um ihn herum ist. Aber er ist wirklich hart zu mir und zur Marlene (seiner Lebensgefährtin).«

Später fragte Frau Müller das Lottchen, was sie gerne lese, und die erzählte ihr, dass sie sich sehr für Bücher über alte Zeiten interessiere.

Frau Müller hatte ein Buch...