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Sommer unter schwarzen Flügeln

Peer Martin

 

Verlag Verlag Friedrich Oetinger, 2015

ISBN 9783862748297 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1


Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist in Deutschland ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht.

(Wikipedia, Asyl)

 

 

Wir sind nicht das Sozialamt der Welt. Zuwanderung löst keine Probleme, sie schafft welche. Schluss mit Multikulti.

(Aufschrift auf einem NPD-Plakat an einer Bushaltestelle)

Grün.

Grün ist die Farbe der Hoffnung.

Was für ein abgenutzter Satz das war.

Sie fuhr mit dem Zeigefinger über das zarte Hellgrün der Knospe. In Tagen, vielleicht in Stunden schon, würde sie sich entrollen, ein Blatt werden …

Sie zog die Hand zurück.

Seltsam. Heute war etwas anders. Sie war schon vier Mal hier gewesen, und immer waren die Ranken an dem alten Haus grün gewesen, grün und schön. Aber heute spürte sie eine verborgene Kälte, und es war, als glitte ein unsichtbarer Schatten über das Grün.

Sie schüttelte unwillig den Kopf. Es musste Einbildung sein. Sie hatte die Schatten hinter sich gelassen.

Grün.

Grün war die Farbe des Islam.

Grün war die Farbe der Sterne auf den Flaggen, die die Luft über den Köpfen der Menge füllten … Sch, sch, keine Geschichten! Keine Erinnerungen!

Frau Silbermann wollte, dass Nuri erzählte. Sie glaubte, dass das Erzählen heilen konnte. Sie behauptete natürlich, sie wollte nur ihr Arabisch verbessern.

Nuri hatte sie beim Wort genommen und arabisch mit ihr gesprochen, ein Arabisch voller Wüstensonne und plätschernder Brunnen in gekachelten Innenhöfen. Ein Arabisch ohne Worte, aus denen das Blut tropfte. Ohne Worte, die schrien.

Ein Arabisch, in dem sie Nura hieß und nicht Nuri. Sie hatten sie im Camp in Hamburg so genannt. Einer der Ärzte hatte damit angefangen, ein alter Mann mit einem freundlichen Augenzwinkern, und sie hatte ihm erklärt, dass das i im Arabischen eine männliche Endung war.

»Aber jetzt bist du in Deutschland«, hatte er gesagt, »und hier ist das i eine Koseform.«

Das Camp lag hinter ihr, die Baracken, die zu vielen Leute auf zu wenig Raum, die schönen Worte, die die Deutschen für Dinge wie Camps hatten. Aber der Name Nuri war hängen geblieben. Das Augenzwinkern des alten Arztes schwang darin mit.

Sie sah an dem Haus empor.

Unter dem alten Schindeldach flogen Schwalben ein und aus. Der Garten quoll über den Zaun, und in der Ferne hörte man, ganz leise, das Meer. Der Vorort, in dem das Haus stand, war wunderschön. Alles war wunderschön.

Warum war sie plötzlich nervös?

Nuri zog ihr Kopftuch zurecht und trat durch Frau Silbermanns Gartentor. Durch die nie verschlossene Haustür. In den Flur. Sie streifte ihre Schuhe ab und lauschte. Aus dem zweiten Stock drangen Kinderstimmen. Frau Silbermann gab Nachhilfeunterricht. Unentgeltlich. Sie teilte ihre Zeit in Dreiviertelstunden ein, als wäre sie noch immer Lehrerin, obwohl sie alt war, alt wie das Haus, alt wie der untere Balkon mit den morschen Bodenbrettern, alt wie die dicksten Strünke des wilden Weins und der Welt.

Nuri ging die schmale Wendeltreppe hinauf, vorbei an Nischen voller Reiseandenken: Teekannen, Porzellanelefanten, Gebetsmühlen, Versteinerungen … Sie würde in dem Zimmer warten, in dem sie immer wartete, dem Zimmer mit der Tür zum Balkon und dem warnenden Pappschild.

NUR BIS HIER UND NICHT WEITER! EINSTURZGEFAHR.

Es gab auch ein Absperrband. Die Balkontür ließ sich nicht mehr abschließen.

Das Zimmer war schön, voller Teppiche, voller Farben, voller Bücher, voller Licht. Das Licht wurde von den Ranken draußen gefiltert, und es war grün.

Grün.

Grün war die Farbe der Felder …

Aber sie hatten die Felder angezündet.

Nuri setzte sich aufs Sofa und schloss die Augen. Sie verbot sich, an das zu denken, was gewesen war. Dann hörte sie Schritte auf der Treppe, und sie öffnete die Augen und saß reglos, angespannt, wie eine, die noch immer auf der Flucht ist.

Jemand kam näher. Jemand ging jetzt durch den Warteraum. Er hatte vergessen, seine Schuhe auszuziehen, schwarze Stiefel mit weißen Schnürsenkeln, zu warm für das Wetter. Er hielt eine Zigarette zwischen den Fingern. Sein Pullover war schwarz, auch er zu warm für das Wetter. Auf dem Rücken strahlte eine weiße Sonne mit zackigen Flammen, wie Blitze. Sein Haar war hell wie das Feuer auf den Feldern.

Er ging direkt auf die Balkontür zu, mit einem irgendwie verächtlichen Kopfschütteln, stieg über das Absperrband, öffnete die Tür und trat hinaus. Es ging alles viel zu schnell, er hatte sie nicht einmal gesehen. In der Luft schwebte ein Knirschen. Oder war es das Rauschen der Schattenflügel, das sie so gut kannte?

Sein Haar war hell, sein Pullover war schwarz, seine Stiefel …

Nuri machte einen Satz und packte ihn, er fiel, aber sie hielt ihn fest, und die morschen Bretter splitterten unter ihnen. Für einen kurzen Augenblick befanden sie sich in dem Haus, das die Bomben getroffen hatten. Sie warf sich nach hinten, ihre Hand in den schwarzen Pulloverstoff gekrallt.

Zu warm.

Dann war der Augenblick vorüber, und sie lagen keuchend auf dem Boden, halb in der Tür, vor der die Bretter eingebrochen waren wie das dünne Eis auf einem Bergbach, zwischen Aprikosenbäumen. Und Nuri murmelte: »Zu warm«, aber er verstand sie nicht.

»Was?«, fragte er.

Und das war der Tag, an dem alles begann.

 

Grün.

Grün ist die Farbe des Lebens.

Was für ein wunderbarer Satz das war.

Die Farbe des Laubs im deutschen Wald. Die Farbe wogender Felder unter dem Wind. Irgendwann würde all dies zurückkommen, die Zeit des Waldes und der Arbeiter auf den Feldern. Es würde wieder sein wie damals, als alle stolz gewesen waren auf das Werk ihrer Hände.

Er hatte den Tag im Wald verbracht, mit dem Rad war es nur eine halbe Stunde da hinaus. Natürlich hätte er in der Berufsschule sein müssen, aber wer war schon in der Berufsschule. Berufsschule war auch ein falscher Name. Es war gar keine, sie nannten es nur so. Es war ein Auffangbecken für gescheiterte Typen. Man saß seine Zeit ab. Seit Ende Februar war er achtzehn, er musste nur dieses Halbjahr fertig machen, danach konnten sie ihm sowieso nichts mehr. Dann war er raus aus dem Laden.

Im Wald hatte er ein Baumhaus. Es klang kindisch, aber es war ein richtiges Haus. Er hatte jeden Nagel selbst eingehauen, jede Schraube eingedreht. Eine Eiche übrigens; es war in einer Eiche. Die Adler flogen darüber, und er sah sie an und wusste, dass die Stunde des Adlers kommen würde – des deutschen Adlers, der das Land zurückverlangte. Er, Calvin Lüttke, würde dabei sein, wenn der Kampf um das Land gekämpft wurde.

Grün.

Grün war die Farbe der Erneuerung. Doch das Grün der Ranken an dem alten Haus war ein anderes, ein irgendwie undeutsches und unordentliches Grün. Das Haus war groß und eigentlich schön, man hätte die Ranken entfernen sollen. Er sah daran empor und dachte an die tristen grauen Neubaublöcke des Vorstadtviertels. In den winzigen Wohnungen dort wucherte nur der Schimmel an den Wänden. Wenn die Zeit kam und der deutsche Adler kämpfte, würden Leute wie diese Frau Silbermann keine Backsteinhäuser mit Gärten mehr besitzen.

Er hoffte wirklich, die Kleinen waren fertig mit dem Nachhilfequatsch, wenn er ankam, damit er gleich wieder mit ihnen abhauen konnte. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, schüttelte eine heraus und schob sie zwischen die Lippen. Am Gartenzaun lehnte ein Nachbar und musterte ihn: den schwarzen Kapuzenpulli mit dem weißen Aufdruck, die schwarze Jeans, die Springer. Sein Blick glitt zu Calvins Gesicht, der Mann registrierte das blonde Haar, die Sommersprossen, die grünen Augen – die Zigarette. Calvin wollte etwas zu ihm rüberrufen. Darf man jetzt auf der Straße nicht mehr rauchen? Sie haben mir gar nichts zu befehlen, ich bin achtzehn!

Er hasste die Sommersprossen, er hatte sie auch am Hals und auf den Armen, sie sahen so kindlich aus. Er hasste auch seine Statur, er war zu schlaksig, noch immer. Von der Zigarette glitt der Blick des Mannes wieder nach unten zu dem Aufdruck auf Calvins Pullover. Die schwarze Sonne. Ein Kreis aus S-Runen.

Er sagte nichts, erwiderte nur den Blick des Mannes.

Hey. Ich hab keine Angst vor Ihrer blöden Fresse. Starren Sie ruhig.

Dann drückte er die Klinke von Frau Silbermanns Haustür herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Was für ein Vertrauen diese Menschen in die Welt hatten!

Er war noch nie drin gewesen. Benji hatte gesagt, im zweiten Stock gäbe es eine Art Warteraum, und man konnte ja hoffen, dass das Rauchen dort erlaubt war. Nein, eigentlich hoffte er, dass es verboten war. Er musste irgendetwas Verbotenes tun; es war die einzige Möglichkeit, seine Wut auf Frau Silbermann und dieses ganze verdammte Rosen-Nelken-Hollerbusch-Viertel zu zeigen.

Hinter der Tür stand ein Sammelsurium an Schuhen. Er fand Benjis und Toms Schuhe darunter, Kinderschuhe. Er würde seine Stiefel nicht ausziehen, das wäre wie eine Geste der Demut.

An der Wand im Flur hingen Teppiche, die nicht in dieses Land gehörten. Orientalisch. Was für ein Wort. Die Treppe wurde gesäumt von Regalbrettern voller Andenken an Reisen: ein unübersichtliches Durcheinander aus winzigen Statuen und Glocken und Teekannen – und all diese Dinge machten sich lustig über Calvin.

Du weißt ja nichts, flüsterten sie, nichts von der Welt! Du warst noch nie weiter als bis zur polnischen Grenze! Die Erde könnte...