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Die Sünden der Väter - Inspector Rebus 9 - Kriminalroman

Ian Rankin

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641160555 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


John Rebus küsste seine Tochter.

»Soll ich dich bestimmt nicht fahren?«

Samantha schüttelte den Kopf. »Nach der Pizza brauch ich dringend etwas Bewegung.«

Rebus steckte die Hände in die Taschen, spürte unter seinem Taschentuch zusammengefaltete Banknoten. Er spielte mit dem Gedanken, ihr etwas Geld anzubieten – das tat man doch als Vater so, nicht? –, aber sie hätte bloß gelacht. Sie war vierundzwanzig und unabhängig; sie brauchte diese Geste nicht und hätte das Geld ganz gewiss nicht angenommen. Sie wollte sogar die Pizza bezahlen, mit dem Argument, sie habe die Hälfte aufgegessen, während er nur an einem einzigen Stück geknabbert habe. Die Reste befanden sich in einer Pappschachtel unter ihrem Arm.

»Tschüs, Dad.« Sie gab ihm ein Küsschen auf die Wange.

»Nächste Woche?«

»Ich ruf dich an. Vielleicht könnten wir mal zu dritt …?« Der Dritte wäre Ned Farlowe gewesen, ihr Freund. Sie ging rückwärts, während sie sprach. Ein letztes Winken, dann wandte sie sich von ihm ab. Sie überquerte die Straße, ohne sich noch einmal umzusehen. Aber auf der anderen Seite angelangt, drehte sie sich halb um, sah, dass er sie beobachtete, und winkte ihm kurz zu. Ein junger Mann stieß um ein Haar mit ihr zusammen. Er starrte auf den Bürgersteig, um seinen Hals schlängelte sich das dünne schwarze Kabel eines Kopfhörers. Dreh dich um und sieh sie dir an, befahl Rebus. Ist sie nicht unglaublich? Aber der Jüngling schlurfte einfach weiter, ohne sie oder die Welt wahrzunehmen.

Und dann war sie um die Ecke verschwunden. Rebus konnte sie jetzt nur noch in seiner Vorstellung sehen: wie sie sich vergewisserte, dass ihr die Pizzaschachtel nicht unter dem Arm wegrutschte; beim Gehen stur geradeaus blickte; sich mit dem Daumen hinter dem rechten Ohr rieb, wo sie sich erst kürzlich zum dritten Mal hatte piercen lassen. Er wusste, dass ihre Nase sich kräuseln würde, wenn ihr etwas Komisches durch den Kopf ging. Er wusste, dass sie sich, wenn sie sich konzentrieren wollte, manchmal die eine Ecke des Revers ihrer Jacke in den Mund steckte. Er wusste, dass sie ein Armband aus geflochtenem Leder, drei Silberringe, eine billige Uhr mit schwarzem Plastikarmband und indigoblauem Ziffernblatt trug. Er wusste, dass ihre Haare naturbraun waren. Er wusste, dass sie auf dem Weg zu einer Guy-Fawkes-Party war, aber nicht vorhatte, lange zu bleiben.

 

Er wusste nicht annähernd genug über sie, was auch der Grund dafür war, dass er sich mit ihr zum Essen verabredet hatte. Es war eine komplizierte Angelegenheit gewesen: wiederholte Umdisponierungen, Absagen in letzter Minute. Manchmal hatte es an ihr gelegen, häufiger an ihm. An dem Abend hätte er eigentlich auch woanders sein müssen. Er strich mit den Händen vorn über das Jackett, spürte die Ausbeulung in seiner inneren Brusttasche, seine private kleine Zeitbombe. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es fast neun war. Er konnte fahren oder auch laufen – er hatte es nicht weit.

Er entschied sich fürs Fahren.

Feuerwerksnacht in Edinburgh, Wälle von zusammengewehtem Laub entlang der Bürgersteige. Nicht mehr lang, und er würde morgens den Raureif von seiner Windschutzscheibe kratzen müssen und dabei die Kälte wie Messerstiche in den Nieren spüren. Der Südteil der Stadt schien den ersten Frost eher abzubekommen als der Norden. Rebus wohnte und arbeitete natürlich im Südteil. Nach einem kurzen Auswärtsspiel in Craigmillar war er jetzt wieder im Revier St. Leonard’s. Er hätte jetzt auf die Wache fahren können – schließlich war seine Schicht noch nicht zu Ende –, aber er hatte anderes vor. Auf dem Weg zu seinem Auto kam er an drei Pubs vorbei. Plaudereien am Tresen, Zigarettenrauch und Gelächter, eine Luft zum Schneiden, heiß und alkoholgeschwängert: Er kannte das alles besser als seine eigene Tochter. Zwei von den drei Bars verfügten über einen »Türsteher«. Neuerdings sagte man dazu offenbar nicht mehr Rausschmeißer. Sie waren Türsteher oder, vornehm, »Front of House Manager«, Schränke von Kerlen, kurz geschoren und noch kürzer angebunden. Einer von ihnen trug einen Kilt. Sein Gesicht bestand aus Narbengewebe und Bulldoggenfalten, die Kopfschwarte war bis auf die Lederhaut kahl rasiert. Rebus glaubte sich zu erinnern, dass er Wattie oder Wallie hieß. Er war einer von Telfords Männern. Vielleicht waren sie das alle. Ein Stück weiter, Graffiti an der Wand: Hilft uns denn keiner? Vier Worte, die sich über die ganze Stadt ausbreiteten.

 

Rebus parkte und bog um die Ecke in die Flint Street. Auf Erdgeschossniveau war mit Ausnahme eines Cafés und einer Spielhalle alles dunkel. Es gab eine einzige Straßenlaterne, und deren Birne war kaputt. Die Polizei hatte die Stadtverwaltung gebeten, sich mit dem Auswechseln ruhig Zeit zu lassen – das Observierungsteam konnte jede Hilfe gebrauchen, die es bekam. In den Wohnungen oberhalb der Geschäfte brannten hier und da ein paar Lichter. Am Straßenrand parkten drei Autos, aber nur in einem davon saßen Leute. Rebus öffnete die hintere Tür und stieg ein.

Auf dem Fahrersitz saß ein Mann, neben ihm eine Frau. Sie sahen beide durchgefroren und angeödet aus. Die Frau war Detective Constable Siobhan Clarke, Rebus’ langjährige Mitarbeiterin in St. Leonard’s, bis sie kürzlich dem Scottish Crime Squad zugeteilt worden war. Der Mann, ein Detective Sergeant namens Claverhouse, gehörte zum festen Beamtenstamm des Crime Squad. Die beiden waren Teil des Teams, das Tommy Telford und alles, was er tat, rund um die Uhr im Auge behalten sollte. Ihre hängenden Schultern und bleichen Gesichter verrieten nicht nur Langeweile, sondern auch das Wissen darum, dass die ganze Observierung sinnlos war.

Sie war deswegen sinnlos, weil die Straße Telford gehörte. Niemand parkte hier, ohne dass er wusste, wer es war und was er wollte. Die zwei anderen Autos, die am Straßenrand standen, waren Range Rover von Telfords Gang. Alles, was kein Range Rover war, sprang sofort ins Auge. Das Crime Squad hatte für solche Überwachungsaktionen einen speziell umgebauten Lieferwagen, aber der nützte in der Flint Street nichts. Jeder Lieferwagen, der hier länger als fünf Minuten parkte, kam in den Genuss der persönlichen Aufmerksamkeit zweier von Telfords Männern. Sie waren darauf getrimmt, gleichzeitig zuvorkommend und einschüchternd zu wirken.

»Von wegen verdeckte Überwachung«, knurrte Claverhouse. »Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller, und es gibt nichts zu überwachen.« Er riss die Verpackung eines Snickersriegels mit den Zähnen auf und bot Siobhan Clarke den ersten Bissen an. Sie schüttelte den Kopf.

»Ein Jammer mit den Wohnungen«, sagte sie, während sie durch die Windschutzscheibe nach oben spähte. »Die wären ideal.«

»Bloß dass die alle Telford gehören«, meinte Claverhouse, den Mund voller Schokolade.

»Sind die alle vermietet?«, fragte Rebus. Er war erst seit einer Minute im Wagen und hatte schon eiskalte Füße.

»Ein paar stehen leer«, antwortete Clarke. »Telford benutzt sie als Warenlager.«

»Aber keine Sau kommt unbemerkt durch die Haustür«, fügte Claverhouse hinzu. »Wir haben’s mit Stromablesern und Klempnern probiert, aber keiner hat’s hineingeschafft.«

»Wer hat den Klempner gespielt?«, fragte Rebus.

»Ormiston. Warum?«

Rebus zuckte nur die Achseln. »Ich bräuchte jemanden, der mir einen tropfenden Wasserhahn repariert.«

Claverhouse lächelte. Er war lang und mager, hatte riesige dunkle Tränensäcke unter den Augen und helles, schütter werdendes Haar. Wegen seiner langsamen Bewegungen und schleppenden Sprechweise unterschätzten ihn die Leute häufig. Gelegentlich mussten sie feststellen, dass er seinen Spitznamen »Bloody« Claverhouse durchaus zu Recht trug.

Clarke sah auf die Uhr. »Neunzig Minuten bis zur Ablösung.«

»Heizung könnte nicht schaden«, schlug Rebus vor. Claverhouse drehte sich zu ihm um.

»Sag ich ihr doch die ganze Zeit, aber sie will nichts davon wissen.«

»Warum nicht?« Er sah Clarkes Augen im Rückspiegel. Sie lächelte.

»Weil wir dazu«, erwiderte Claverhouse, »den Motor laufen lassen müssten, und den Motor laufen zu lassen, wenn wir nirgendwo hinwollen, ist eine Verschwendung. Treibhauseffekt, oder was weiß ich.«

»Das stimmt«, sagte Clarke.

Rebus zwinkerte ihrem Spiegelbild zu. Es sah ganz danach aus, als hätte Claverhouse sie akzeptiert, was bedeutete, dass das ganze Fettes-Team sie akzeptiert hatte. Rebus, der ewige Außenseiter, beneidete sie um ihre Anpassungsfähigkeit.

»Ist doch sowieso alles für die Katz«, fuhr Claverhouse fort. »Der Scheißkerl weiß, dass wir hier sind. Der Lieferwagen war nach zwanzig Minuten aufgeflogen. Ormiston ist mit der Klempnermasche nicht mal bis in den Hausflur gekommen, und jetzt sitzen wir hier, außer uns keine Sau weit und breit. Wir würden nicht mehr auffallen, wenn wir mitten auf der Straße einen Highland-Schwerttanz aufführten.«

»Sichtbare Präsenz als Abschreckungsmittel«, sagte Rebus.

»Klar doch, noch so’n paar Nächte, und Tommy wird aus lauter Angst zum braven Bürger.« Claverhouse versuchte, eine bequemere Sitzhaltung zu finden. »Was von Candice gehört?«

Sammy hatte ihrem Vater die gleiche Frage gestellt. Rebus schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie noch immer, dass Tarawicz sie sich geschnappt hat? Könnte sie nicht doch einfach abgehauen...