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Blutschuld - Inspector Rebus 6 - Kriminalroman

Ian Rankin

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641113957 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


Es war wahrscheinlich die schlimmste Samstagnacht des Jahres, ein Grund, warum Inspector John Rebus die Schicht übernommen hatte. Gott war in seinem Himmel und hielt sich fein raus. Am Nachmittag hatte es ein Lokalderby gegeben, Hibs gegen Hearts im Stadion an der Easter Road. Auf dem Weg zurück ins West End und weiter hatten Fans im Stadtzentrum Zwischenstation gemacht, um sich voll laufen zu lassen und ein paar optische und akustische Eindrücke des Festivals mitzunehmen.

Das Edinburgh Festival war Rebus’ Albtraum. Jahrelang hatte er dagegen angekämpft, hatte versucht, ihm zu entgehen, hatte es verflucht, war in seinen Sog geraten. Es gab Leute, die meinten, das Festival sei irgendwie untypisch für Edinburgh, eine Stadt, die den größten Teil des Jahres verschlafen, bieder, maßvoll wirkte. Doch das stimmte nicht: In Edinburghs Geschichte gab es genügend Ausschweifungen und Rebellionen. Aber das Festival, und besonders dessen alternative Parallelveranstaltung, der »Festival Fringe«, war anders. Beide lebten vom Tourismus, und wo es Touristen gab, gab’s Ärger. Taschendiebe und Einbrecher strömten in die Stadt wie zu einem Kongress, während all die Fußballfans, die normalerweise einen großen Bogen um die Stadtmitte machten, plötzlich zu deren erklärten Liebhabern wurden und den fremden Eindringlingen, die an den Tischen kurzlebiger Straßencafés entlang der High Street saßen, herausfordernde Blicke und Bemerkungen zuwarfen.

Heute Nacht konnte es durchaus zum großen Knall kommen.

»Da draußen ist die Hölle los«, hatte ein Constable schon gemeint, als er zu einer Pause in die Kantine gekommen war. Rebus glaubte ihm das aufs Wort. Die Zellen füllten sich ebenso stetig wie die Eingangskörbe des CID. Eine Frau hatte die Finger ihres betrunkenen Ehemanns durch den Fleischwolf gedreht. Irgendjemand versiegelte die Ausgabeklappen von Geldautomaten mit Sekundenkleber und meißelte sie später wieder auf, um die angesammelten Geldscheine herauszuholen. In der Gegend der Princes Street waren mehrere Handtaschen gestohlen worden. Und die Dosen-Gang war wieder unterwegs.

Die Dosen-Gang hatte eine simple Strategie. Ihre Mitglieder blieben an Bushaltestellen stehen und boten einem der Wartenden einen Schluck aus ihrer Dose an. Sie waren einschüchternde Gestalten, und das Opfer nahm das Angebotene an, ohne zu wissen, dass das Bier oder die Cola zerstoßene Mogadon-Tabletten oder einen anderen ähnlich schnell wirkenden Tranquilizer enthielt. Sobald das Opfer umkippte, nahm ihm die Gang Geld und Wertsachen ab. Man wachte mit einem matschigen Kopf oder, im schlimmsten Fall, mit ausgepumptem Magen wieder auf. Und auf alle Fälle mit leeren Taschen.

Mittlerweile war eine weitere telefonische Bombendrohung eingegangen, diesmal nicht bei Lowland Radio, sondern bei der Zeitung. Rebus war zur Redaktion gefahren, um die Aussage des Journalisten aufzunehmen, der mit dem anonymen Anrufer gesprochen hatte. Der Raum glich einem Irrenhaus voll von Festival- und Fringe-Kritikern, die an ihren Rezensionen schrieben. Der Journalist hatte von seinen Notizen abgelesen.

»Er sagte bloß, wenn wir das Festival nicht abbliesen, würden wir es bereuen.«

»Klang er so, als ob er es ernst meinte?«

»O ja, absolut.«

»Und er hatte einen irischen Akzent?«

»Klang so.«

»Nicht nur nachgemacht?«

Der Reporter zuckte die Achseln. Er hatte es eilig, seine Story zu schreiben, also ließ Rebus ihn laufen. Das war der dritte Anruf im Lauf dieser Woche, jedes Mal mit der Drohung, das Festival mit einer Bombe oder sonst wie zum Platzen zu bringen. Die Polizei nahm die Drohungen ernst. Wie hätte sie es sich auch leisten können, das nicht zu tun? Bislang hatten sich die Touristen nicht abschrecken lassen, dennoch legte man den Veranstaltern dringend nahe, vor den Auftritten Sicherheitskontrollen durchzuführen.

Wieder in St. Leonard’s erstattete Rebus seinem Chief Superintendent Bericht und versuchte anschließend, etwas Papierkram aufzuarbeiten. Als bekennender Masochist mochte er die Samstagspätschicht recht gern. Sie zeigte einem die Stadt mit ihren vielen verschiedenen Gesichtern, gewährte einem einen lehrreichen Einblick in Edinburghs graue Seele. Die Sünde und das Böse waren nicht schwarz – darüber hatte er schon lange Gespräche mit einem Geistlichen geführt –, sondern von einer grauen Anonymität. Man sah sie die ganze Nacht lang, die grauen, starrenden Gesichter der Übeltäter und Unzufriedenen, der Frauenschläger und jugendlichen Messerstecher. Leer blickende Augen, ohne jedes Interesse außer an der eigenen Person. Und man betete, wenn man John Rebus war, betete darum, dass möglichst wenig Menschen je gezwungen sein würden, dieses undurchdringliche graue Namenlose aus solcher Nähe zu erleben.

Dann ging man in die Kantine und tauschte mit den Jungs ein paar Witze aus, ein Lächeln im Gesicht, auch wenn man gar nicht zuhörte.

»Hier, Inspector, kennen Sie den vom Tintenfisch mit dem Schnurrbart? Also gut, er kommt in ein Restaurant und –«

Rebus wandte sich vom Detective Constable und dessen Witz ab und seinem klingelnden Telefon zu.

»D.I. Rebus.«

Während er zuhörte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Dann legte er auf und nahm sein Jackett von der Lehne des Stuhls.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte der D.C.

»Worauf Sie Gift nehmen können, mein Junge.«

 

Die High Street war voll von Menschen, die größtenteils nur herumschlenderten und sich umschauten. Junge Leute wuselten zwischen ihnen hin und her und versuchten, sie für die Fringe-Aufführungen zu begeistern, für die sie sich jeweils stark machten. Wahrscheinlich spielten sie darin sogar die Hauptrollen. Sie schoben eifrig Flugblätter in Hände, die schon voll von ähnlichen Wischen waren.

»Nur zwei Pfund, so billig wie auf dem ganzen Fringe nicht!«

»Eine solche Show bekommen Sie sonst nirgendwo geboten!«

Es gab Jongleure und Leute mit bemalten Gesichtern und eine Flut von disharmonischen Klängen. Wo sonst auf der Welt würden Dudelsäcke, Banjos und Kazoos zu solch einer infernalisch-musikalischen Straßenschlacht aufeinander prallen?

Die Einheimischen meinten, dieses Festival sei ruhiger als das letzte. Das sagten sie seit Jahren. Rebus fragte sich, ob diese Kulturkirmes je eine Glanzzeit erlebt hatte. Für seinen Geschmack war mehr als genug los.

Trotz der warmen Nacht ließ er die Wagenfenster geschlossen. Doch er konnte nicht verhindern, dass ihm, während er im Schritttempo dahinkroch, Flugblätter unter die Scheibenwischer geschoben wurden, bis er kaum noch etwas sehen konnte. Seine strengen Blicke prallten an ungerührt lächelnden Schauspielschülergesichtern ab. Es war zehn Uhr und noch nicht lange dunkel; das war das Schöne am schottischen Sommer. Er versuchte, sich vorzustellen, er befände sich an einem menschenleeren Strand oder auf dem Gipfel eines Berges, allein mit seinen Gedanken. Wem versuchte er eigentlich, etwas vorzumachen? John Rebus war immer allein mit seinen Gedanken. Und momentan dachte er an Alkohol. Noch ein, zwei Stunden, und die Bars würden sich abrupt leeren – das heißt, wenn sie nicht wegen des Festivals einen Antrag auf verlängerte Ausschankgenehmigung gestellt und ihn bewilligt bekommen hatten.

Er war unterwegs zum Rathaus, den City Chambers, gegenüber von der St. Giles’ Cathedral. Er bog von der High Street ab, fuhr durch einen von zwei steinernen Bogen und gelangte auf einen kleinen Parkplatz direkt vor den Chambers. Unter einem der Bogen hielt ein uniformierter Constable Wache. Er erkannte Rebus und trat nickend beiseite. Rebus parkte sein Auto neben einem Streifenwagen, stellte den Motor ab und stieg aus.

»’n Abend, Sir.«

»Wo ist es?«

Der Constable deutete mit dem Kopf auf eine Tür in der Nähe der Bogen, an der Seitenwand der Chambers. Sie gingen darauf zu. Neben der Tür stand eine junge Frau.

»Inspector«, sagte sie.

»Hallo, Mairie.«

»Ich hab sie aufgefordert weiterzugehen, Sir«, entschuldigte sich der Constable.

Mairie Henderson schenkte ihm keinerlei Beachtung. Sie sah Rebus in die Augen. »Was ist los?«

Rebus zwinkerte ihr zu. »Die Loge, Mairie. Wir treffen uns nämlich immer heimlich.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Na also, seien Sie vernünftig. Unterwegs zu einer Show?«

»War ich, bis ich das Spektakel hier gesehen habe.«

»Samstag ist Ihr freier Tag, wie?«

»Presseleute haben keine freien Tage, Inspector. Was ist hinter der Tür?«

»Sie ist verglast, Mairie. Schauen Sie doch selbst nach.«

Aber durch die Scheiben konnte man lediglich einen engen Korridor mit mehreren Türen sehen. Eine davon war offen und ließ eine Treppe erkennen, die nach unten führte. Rebus wandte sich zum Constable.

»Wir machen jetzt richtig dicht, mein Junge. Sperren Sie die Bogen ab, dass keine Touristen reinkommen, bevor die Show losgeht. Fordern Sie, wenn nötig, über Funk Verstärkung an. Entschuldigen Sie, Mairie.«

»Dann gibt es also was zu sehen?«

Rebus ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und zog sie hinter sich wieder zu. Er stieg die Treppe hinunter, die von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde. Von unten drangen Stimmen zu ihm herauf. Am Ende des ersten Treppenlaufs bog er um die Ecke und sah sie: Am Boden saßen oder kauerten zwei halbwüchsige Mädchen und ein Junge, die Mädchen zitternd und in Tränen aufgelöst. Direkt neben ihnen standen ein uniformierter Constable und ein Mann, der offenbar Arzt war. Bei Rebus’ Erscheinen sahen alle auf.

»Das ist der...