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Wolfsmale - Inspector Rebus 3 - Kriminalroman

Ian Rankin

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641113926 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Prolog


Sie stößt mit dem Messer zu.

Dieser Moment, das weiß sie aus früheren Erfahrungen, ist sehr intim. Ihre Hand hält den kühlen Griff des Messers umklammert, und die Wucht lässt die Klinge bis zum Heft in die Kehle eindringen, bis ihre Hand die Kehle berührt. Fleisch auf Fleisch. Erst Jacke oder Wollpullover, Baumwollbluse oder T-Shirt, dann Fleisch. Jetzt dehne. Das Messer bewegt sich hektisch hin und her wie ein schnupperndes Tier. Warmes Blut fließt über Heft und Hand. (Die andere Hand hält den Mund zu, um Schreie zu ersticken.) Das ist der große Augenblick. Eine Begegnung. Eine Berührung. Der Körper ist heiß, klafft auf, ist warm vom Blut. Siedet innerlich, während sich das Innere nach außen ergießt. Brodelt. Viel zu schnell ist der Augenblick vorbei.

Und sie verspürt immer noch Hunger. Das ist nicht richtig, ist ungewöhnlich, doch sie verspürt ihn. Sie entfernt einen Teil der Kleidung, sogar eine ganze Menge Kleidung, vielleicht mehr als nötig ist. Und sie tut, was sie tun muss. Wieder gleitet das Messer hin und her. Sie hat die Augen fest zugekniffen. Diesen Teil mag sie nicht. Sie hat ihn noch nie gemocht, nicht damals, nicht jetzt. Aber besonders nicht damals.

Schließlich nimmt sie die Zähne aus dem Mund und drückt sie tief in den weißen Bauch, bis sie einen ansehnlichen Bissen gepackt haben, und flüstert, wie sie es immer tut, dieselben fünf Wörter.

»Es ist nur ein Spiel.«

 

Es ist bereits Abend, als George Flight den Anruf erhält. Sonntagabend. Der Sonntag sollte doch eigentlich der Entspannung dienen – Rinderbraten mit Yorkshire Pudding, die Füße vor dem Fernseher hoch gelegt, dass einem die Zeitung vom Schoß rutscht. Aber er hatte schon den ganzen Tag ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Am Mittag im Pub hatte er es gespürt, ein Kribbeln in den Eingeweiden, als ob dort Würmer wären, kleine blinde weiße Würmer, hungrige Würmer, Würmer, die keine Ruhe geben würden. Er wusste, woher sie kamen, und sie wussten, woher sie kamen. Und dann hatte er auch noch bei der Pub-Tombola den dritten Preis gewonnen: einen ein Meter großen, orange-weißen Teddybär. Selbst die Würmer hatten ihn in dem Moment ausgelacht, und er hatte gewusst, dass der Tag übel enden würde.

Wie er es nun auch tat, wo das Telefon so penetrant klingelte wie die Glocke zur letzten Runde. Es würde eine schlechte Nachricht bringen, die nicht bis zum nächsten Morgen warten konnte. Er wusste natürlich, was das bedeutete. Hatte er nicht während der letzten Wochen die ganze Zeit darauf gewartet? Trotzdem hatte er keine Lust, den Hörer abzunehmen. Schließlich tat er es doch.

»Flight am Apparat.«

»Es hat einen weiteren gegeben, Sir. Der Wolfsmann. Er hat einen weiteren Mord begangen.«

Flight starrte auf den stummen Fernseher. Highlights aus dem Rugbyspiel vom vergangenen Tag. Erwachsene Männer, die hinter einem eigenartig geformten Ball herliefen, als ginge es um ihr Leben. Und gegen eine Seite des Fernsehers gelehnt saß dieser süffisant grinsende Preis, der Teddybär. Was, zum Teufel, sollte er mit einem Teddybären anfangen?

»Okay«, sagte er, »sagen Sie mir einfach, wo …«

 

»Schließlich ist es doch nur ein Spiel.«

Rebus nickte dem Engländer ihm gegenüber am Tisch lächelnd zu. Dann starrte er wieder aus dem Fenster und tat so, als würde ihn die vorbeifliegende dunkle Landschaft interessieren. Der Engländer hatte es nicht nur einmal, er hatte es ein Dutzend Mal gesagt. Und er hatte kaum etwas anderes während der Fahrt gesagt. Außerdem nahm er Rebus immer mehr kostbare Beinfreiheit, während seine Sammlung leerer Bierdosen sich immer weiter auf dem Tischchen ausbreitete, in Rebus’ Hälfte eindrang und gegen den ordentlich gefalteten Stapel von Zeitungen und Zeitschriften stieß.

»Fahrkarten, bitte!«, brüllte der Schaffner vom anderen Ende des Wagens.

Also suchte Rebus seufzend zum dritten Mal, seit er in Edinburgh abgefahren war, nach seiner Fahrkarte. Sie war nie dort gewesen, wo sie seiner Meinung nach hätte sein müssen. In Berwick hatte er geglaubt, sie wäre in seiner Hemdtasche. Da war sie in der Brusttasche seiner Harris-Tweedjacke gewesen. In Durham hatte er dann in der Jacke nach ihr gesucht und sie schließlich unter einer der Zeitschriften auf dem Tisch gefunden. Nun, zehn Minuten vor Peterborough, war sie in die Gesäßtasche seiner Hose gewandert. Er nahm sie heraus und hielt sie in der Hand, bis der Schaffner bei ihm war.

Die Fahrkarte des Engländers war da, wo sie immer gewesen war, halb versteckt unter einer Bierdose. Obwohl Rebus beinah jedes Wort auswendig kannte, warf er erneut einen Blick auf die Rückseite einer seiner Sonntagszeitungen. Er hatte sie aus reinem Übermut oben auf den Stapel gelegt, weil er sich an den großen schwarzen Buchstaben der Schlagzeile erfreute: Scots Wha Hae! – dem Anfang der inoffiziellen schottischen Nationalhymne: Schotten, die ihr habt … Darunter wurde über den dramatischen Calcutta Cup am gestrigen Tag in Murrayfield berichtet. Und es war wirklich ein Drama gewesen, kein Tag für Leute mit schwachen Nerven, sondern für solche mit tapferen Herzen und voller Entschlossenheit. Die Schotten hatten schließlich mit dreizehn zu zehn Punkten triumphiert, und hier saß Rebus nun am Sonntagabend in einem Zug voller enttäuschter englischer Rugbyfans, die zurück nach London fuhren.

London. Das war noch nie eine von Rebus’ Lieblingsstädten gewesen. Nicht dass er häufig dort war. Aber diesmal war es sowieso nicht zum Vergnügen. Es war rein dienstlich, und als Vertreter der Polizei von Lothian und Borders war er gehalten, sich gut zu benehmen. Oder, wie sein Boss es kurz und bündig gesagt hatte: »Keinen Scheiß, John.«

Nun ja, er würde sein Bestes geben. Nicht dass er glaubte, überhaupt viel tun zu können, egal, ob richtig oder falsch. Aber er würde tun, was er konnte. Und wenn das bedeutete, ein sauberes Hemd mit Krawatte zu tragen, blank geputzte Schuhe und ein anständiges Jackett, dann würde er sich eben fügen.

»Alle Fahrkarten, bitte.«

Rebus reichte dem Schaffner seine Fahrkarte. Irgendwo weiter vorn im Gang, in dem Niemandsland des Speisewagens zwischen erster und zweiter Klasse, rezitierten einige Stimmen laut einen Vers aus Blakes Jerusalem. Der Engländer gegenüber von Rebus lächelte.

»Nur ein Spiel«, sagte er zu den Dosen vor sich. »Nur ein Spiel.«

 

Der Zug fuhr mit fünf Minuten Verspätung in den Bahnhof King’s Cross ein. Es war Viertel nach elf. Rebus hatte keine Eile. Die Metropolitan Police hatte ihm freundlicherweise ein Hotelzimmer mitten in London reserviert. In der Jackentasche hatte er eine getippte Liste mit Hinweisen und einer Wegbeschreibung, die ihm ebenfalls von London geschickt worden war. Er hatte nicht viel Gepäck mitgebracht, da er glaubte, dass sich die Freundlichkeit der Metropolitan Police damit wohl mehr oder weniger erschöpft hätte. Er rechnete damit, dass er höchstens zwei bis drei Tage hier sein würde, dann wäre gewiss selbst denen klar, dass er ihnen nicht sonderlich bei ihren Ermittlungen helfen konnte. Also: ein kleiner Koffer, eine Reisetasche, eine Aktentasche. Der Koffer enthielt zwei Anzüge, ein zweites Paar Schuhe, mehrere Paar Socken, Unterhosen und zwei Hemden (mit passenden Krawatten). In der Reisetasche waren ein kleiner Kulturbeutel, ein Handtuch, zwei Taschenbuchromane (einer teilweise gelesen), ein Reisewecker, eine Fünfunddreißig-Millimeter-Kamera mit Elektroblitz und Film, ein T-Shirt, ein Taschenschirm, Sonnenbrille, Transistorradio, Terminkalender, Bibel, ein Fläschchen mit siebenundneunzig Paracetamol-Tabletten und eine weitere Flasche (in das T-Shirt gewickelt) mit dem besten Islay-Maltwhisky.

Mit anderen Worten, nur das Allernotwendigste. In der Aktentasche befanden sich Notizblock, Stifte, ein Kassettenrecorder, mehrere leere und einige bespielte Bänder sowie ein dicker Ordner. Dieser enthielt Kopien von Papieren der Metropolitan Police, fünfundzwanzig mal dreißig Zentimeter große Farbfotos, die von einer Ringbindung zusammengehalten wurden, und Zeitungsausschnitte. Auf dem Ordner klebte ein weißes Etikett, auf das ein einziges Wort getippt war. WOLFSMANN.

Rebus hatte keine Eile. Die Nacht – oder was davon noch übrig war – gehörte ihm. Am Montagmorgen musste er um zehn bei einer Besprechung sein, doch seine erste Nacht in der Hauptstadt konnte er verbringen, wie er wollte. Er nahm an, dass er sie voraussichtlich in seinem Hotelzimmer verbringen würde. Bis die anderen Fahrgäste den Zug verlassen hatten, blieb er sitzen, dann nahm er seine Reisetasche und die Aktentasche von der Gepäckablage und ging zu der Schiebetür an einem Ende des Wagens, neben der im Gepäckabteil sein Koffer stand. Nachdem er die Sachen durch die Zugtür und auf den Bahnsteig bugsiert hatte, blieb er einen Augenblick stehen und atmete ein. Es roch irgendwie anders als auf anderen Bahnhöfen. Ganz gewiss nicht wie in der Waverley Station in Edinburgh. Die Luft stank nicht gerade, aber irgendwie kam sie Rebus völlig verbraucht und schal vor. Plötzlich war er sehr müde. Und noch etwas anderes drang in seine Nase, etwas, das süß und widerlich zugleich war. Ihm fiel nicht ein, woran es ihn erinnerte.

In der Bahnhofshalle steuerte er nicht gleich auf die U-Bahn zu, sondern ging erst in einen Buchladen. Dort kaufte er ein A-Z von London und schob es in seine Aktentasche. Die Zeitungen vom nächsten Morgen kamen gerade an, doch er ignorierte sie. Heute war Sonntag, nicht Montag. Sonntag war der Tag des Herrn, aus diesem Grund hatte er vielleicht auch eine Bibel eingepackt. Er war schon seit Wochen nicht mehr in der Kirche...