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Die Legende des Feuerberges - Roman

Sarah Lark

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783732506033 , 912 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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KAPITEL 1


»Ich hab schon ein bisschen Angst …«, gestand Matiu.

Der hochgewachsene Maori trug einen neuen braunen Anzug, in den seine sehnige, schlanke Gestalt noch nicht richtig hineinpasste. Sein dunkles, lockiges Haar hatte er kurz schneiden lassen und streng zurückgekämmt. Linda Lange, seine Ziehmutter, nahm an, dass er Pomade benutzte, um es zu glätten. Vielleicht, weil Naturkrause bei reinblütigen Maori selten war – bei Matiu musste es das Erbe seines Vaters sein, eines Engländers.

»Unsinn, Matiu, du fährst doch zu deiner Familie!«, erklärte Aroha fast ein bisschen ungeduldig.

Lindas Tochter hörte Matius Bedenken wohl nicht zum ersten Mal. Der junge Mann stand Aroha sehr nahe – Linda vermutete, dass die beiden verliebt waren. Sicher hatte Matiu dem Mädchen seine Ängste gestanden, während er Linda und ihren Mann Franz nur an seiner Freude über den Kontakt mit seiner Herkunftsfamilie teilhaben ließ.

»Schon. Aber ich kenne sie doch gar nicht … ich kann nicht mal richtig Maori …«

Matiu trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, während er nach dem Zug ausspähte. Auch Linda wartete ungeduldig. Auf dem Bahnsteig der kleinen Stadt Otaki war es zugig und kalt. Sie wollte sich so bald wie möglich auf den Heimweg in das alte marae machen, in dem sie mit Franz und etwa hundert Maori-Kindern lebte. Die Langes leiteten das frühere Heim für Maori-Kriegswaisen seit vierzehn Jahren gemeinsam, inzwischen war es längst in eine Internatsschule umgewandelt worden. Die Schüler kamen freiwillig oder wurden von ihren Familien geschickt. Franz’ und Lindas erste Zöglinge waren erwachsen und entweder zu ihren Stämmen zurückgekehrt, oder sie hatten sich Arbeit auf Farmen in der Umgebung oder in Unternehmen rund um Wellington gesucht. Linda freute sich darauf, einige von ihnen später zu treffen. Sie hatte auf dem Weg noch Einkäufe zu machen, drei ihrer ehemaligen Schutzbefohlenen arbeiteten in Geschäften in Otaki. Doch erst einmal musste sie jetzt Matiu beruhigen.

»Matiu, du sprichst hervorragend Maori!«, versicherte sie ihm. »Mal ganz abgesehen davon, dass dein Stamm auch alle Geduld der Welt für dich aufbrächte, wenn dem nicht so wäre. Du hast doch die Briefe gelesen. Deine Leute freuen sich darüber, dass du Kontakt zu ihnen aufgenommen hast. Sie erinnern sich gut an deine Mutter. Du hast leibliche Verwandte im iwi – und wie du weißt, betrachtet sich der ohnehin als eine große Familie. Du wirst dich vor Müttern und Großmüttern, Vätern, Brüdern und Großvätern nicht retten können.« Linda lächelte ermutigend.

Tatsächlich gehörte Matiu zu den wenigen Pflegekindern der Langes, die ihre ersten Lebensjahre nicht in einem Maori-Dorf verbracht hatten. Er war als Dreijähriger aus Patea, einer Stadt im Süden der Region Taranaki, gekommen – ein Captain der Military Settlers, den Linda aus ihrer eigenen Zeit in Patea kannte, hatte das Kind gebracht und seine traurige Geschichte erzählt. »Einer unserer Siedler hat’s mit einer Maori-Frau aus einem der eroberten Dörfer gezeugt, mit der er auch eine Zeit lang zusammenlebte«, hatte er erklärt. »Sie ist freiwillig mit ihm gegangen oder geraubt worden, wir konnten das nicht herausfinden. Sie sprach kein Wort Englisch. Dann ist die Frau gestorben, vielleicht am Fieber, vielleicht an gebrochenem Herzen … Wer weiß das schon so genau? Der Mann behielt das Kind zunächst. Er fand schnell eine weiße Frau in Patea, die es versorgte. Aber als sie selbst schwanger wurde, sollte der Junge weg.« Captain Langdon hatte ein bisschen befangen gewirkt, fast als schämte er sich seines Mitleids für den Kleinen. »Da dachte ich«, hatte er geendet, »ich nehme ihn mit und bringe ihn bei Ihnen vorbei. Maori-Stämme gibt es in der Gegend nicht mehr. Zu seinen Leuten kann der Kleine also nicht zurück.«

Linda und Franz hatten das Kind natürlich aufgenommen, und Linda hatte die Gelegenheit genutzt, sich von Captain Langdon die Entwicklungen in der Siedlung schildern zu lassen, in der sie vor Arohas Geburt mit ihrem ersten Mann gelebt hatte. Das Gebiet war inzwischen befriedet. Die Siedler, die es im Gegenzug zu ihrem militärischen Einsatz während des Taranaki-Krieges erhalten hatten, bewirtschafteten es, es hatte keine weiteren Zwischenfälle gegeben.

Matiu wuchs trotzdem nicht als pakeha, wie die Maori die weißen Siedler nannten, auf. Im Waisenhaus lernten die Kinder zwar Englisch, aber man sprach ebenso Maori. Sowohl Matiu als auch Aroha beherrschten die Sprache der Einheimischen fließend. Omaka Te Pura, eine alte Maori-Frau, die ihre letzten Lebensjahre in Franz’ und Lindas Kinderheim verbracht hatte, war es gelungen, den Stamm auszumachen, zu dem der Kleine ursprünglich gehörte. Die gewebten Decken und Kleidungsstücke, in die Captain Langdon das Kind gewickelt hatte, und die wohl noch von Matius Mutter stammten, wiesen auf die Ngati Kahungunu hin.

In den Nachwehen des Krieges hatte man von dem Stamm nicht viel gehört, er war vertrieben worden wie viele andere auf der Nordinsel. Ein paar Wochen zuvor hatte Franz gehört, dass die Ngati Kahungunu wieder in ihrem Stammesgebiet in Wairarapa siedelten. Er hatte Matiu, der von jeher ein bisschen mit seiner Herkunft haderte – die »reinblütigen« Maori-Kinder hatten ihn oft genug gehänselt –, ermutigt, Kontakt mit dem Stamm aufzunehmen. Matiu schrieb also einen Brief an den Häuptling, wozu er Tage brauchte. Gemeinsam mit Aroha feilte er an jeder kleinsten Formulierung. Kurz darauf erhielt er eine unerwartet herzliche Antwort. Matiu erfuhr den Namen seiner Mutter, Mahuika, und wie schmerzlich die junge Frau von ihrer Familie vermisst worden war. Sie war tatsächlich von den Engländern entführt worden – gemeinsam mit anderen jungen Männern und Frauen des Stammes. Von den meisten hatten die Ngati Kahungunu nie wieder etwas gehört. Der Stamm sprach nun jedenfalls eine freundliche Einladung an Matiu aus, seine Familie zu besuchen, und heute sollte der Traum für den jungen Mann wahr werden. Kein Grund für irgendwelche Bedenken, fand die kühne Aroha.

»Verstehen werden sie dich auf jeden Fall!«, fügte sie jetzt den Worten ihrer Mutter hinzu. »Und es wird aufregend! Ein Abenteuer! Ich war noch nie in einem echten marae! Also natürlich auf Rata Station. Aber das zählt irgendwie nicht.«

Aroha hatte so lange auf ihre Mutter und ihren Stiefvater eingeredet, bis ihr die beiden erlaubten, ihren Freund auf der Reise zu seiner Maori-Familie zu begleiten. Besonders Franz tat das ungern. Das Mädchen war schließlich erst vierzehn Jahre alt – ein bisschen zu jung, um allein zu verreisen, zumal mit einem jungen Mann, in den es ganz offensichtlich verliebt war! In Maori-Dörfern herrschten schließlich lockere Sitten. Die jungen Leute der Stämme machten sehr frühzeitig erste sexuelle Erfahrungen, was Franz Lange, ursprünglich streng erzogener Altlutheraner und seit fast zwanzig Jahren Reverend der anglikanischen Kirche, regelrecht Angst machte. Linda fand das nicht so bedenklich. Sowohl Aroha als auch Matiu waren mit den Moralvorstellungen der pakeha aufgewachsen, und beide waren besonnene, kluge junge Leute. Sie würden ihre Wertvorstellungen nicht gleich über Bord werfen, wenn sie nun ein paar Nächte in einem Gemeinschaftsschlafhaus der Ngati Kahungunu verbrachten.

Schließlich hatte Arohas guter Highschool-Abschluss den Ausschlag gegeben. Das Mädchen hatte darauf gedrängt, zusammen mit Matiu nach Wellington zu fahren, um das Examen abzulegen. Eigentlich wäre es für sie erst in zwei Jahren so weit gewesen, doch Aroha war blitzgescheit – und sie träumte davon, gemeinsam mit Matiu aufs College zu gehen. Tatsächlich hatte sie die Prüfungen hervorragend gemeistert, und auch Matiu gehörte zu den zehn Besten seines Jahrgangs. Das, so fand Aroha, schrie nach einer Belohnung, und Linda konnte ihren Mann schließlich überreden, der gemeinsamen Reise der »Kinder« zuzustimmen.

»Was zählt denn bitte nicht an dem marae auf Rata Station?«, erkundigte sich Linda mit tadelnder Stimme.

Rata Station war eine Schaffarm auf der Südinsel, die Lindas Familie gehörte. Sie war dort gemeinsam mit ihren mehr oder weniger leiblichen Schwestern Carol und Mara aufgewachsen. Zu ihren Maori-Nachbarn vom Stamm der Ngai Tahu hatten sie meist ein gutes Verhältnis gehabt.

Bevor Aroha antworten konnte, ertönte ein markerschütternder Pfeifton, der das Einfahren des Zuges ankündigte. Linda nahm Matiu und ihre Tochter noch einmal in die Arme, bevor der Lärm noch größer wurde, als die Lokomotive an den Bahnsteig heranratterte.

»Bisher wart ihr meine Familie …«, sagte Matiu leise, als Linda ihn tröstend an sich drückte.

Linda lächelte ihm zu. »Und das bleiben wir!«, versicherte sie ihm. »Egal, ob es dir bei deinem Stamm gefällt oder nicht. Selbst wenn du dich entschließen solltest, dortzubleiben …«

»Was?« Aroha mischte sich kopfschüttelnd ein. »Das planst du doch nicht im Ernst, Matiu? Das ist ein Besuch, Mommy, sonst nichts, er … er will doch aufs College, er …«

Matiu ging nicht auf sie ein. Sein Blick hing an Linda. »Ihr denkt also nicht, ich … ich wäre undankbar? Ihr nehmt mir nicht übel, dass ich zu meinen Leuten will?«

Linda schüttelte in der gleichen Manier den Kopf wie ihre Tochter, nur, dass die Geste bei ihr weniger empört als freundlich ermutigend wirkte.

»Wir denken gar nichts, Matiu, und ganz sicher missgönnen wir dir nicht die Suche nach deinen Wurzeln! Du bist hier...