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Lärchenau - Roman

Kerstin Hensel

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2008

ISBN 9783894804497 , 448 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,49 EUR


 

1


Am 6. September 1944 wurde in Lärchenau, in der Wohnstube des Milchmannes Otto Konarske, dessen lediger Tochter Rosie ein Junge geboren. Unter Musik, die aus dem Volksempfänger klang. Die Hebamme hatte den Radioapparat vom Schrank genommen und ihn neben die Kreißende, die rücklings auf wachstuchgeschütztem Sessel lag, placiert.
»Die Kiste stinkt!« keuchte Rosie.
Sie wollte erklären, daß ihr der Geruch des Bakelits schon immer Übelkeit erzeugt hätte, aber das Geheimrezept der Hebamme lautete: Mit Musik geht alles besser. Auch Hühner, behauptete sie, legen bei Musik größere Eier, Kühe geben mehr Milch.
Der Großdeutsche Rundfunk gab Wagner. An jenem Nachmittag hörte die Gebärende, was ihr, vermischt mit dem Bakelitgeruch, wie ein Wurm in die Seele kroch – Denn der Götter Ende / dämmert nun herauf. Sie quälte sich in den Wehen, mochte den orgelnden Sopran nicht ertragen, denn diese Töne, erinnerte sie sich, hatte der Kindsvater Doktor Lingott verabscheut. Er, der Musikliebhaber, auch wenn er jetzt am Ort der ewigen Stille weilte und Engelskonzerten lauschte. Rosie zerschrie unter den Wehen die nicht endenwollende Arie selig in Lust und Leid / läßt die Liebe nur sein, und einen Moment lang glaubte sie an die große Lüge der Musik.
 

Siebzig Jahre alt war Rochus Lingott gewesen, als er seinen Sohn gezeugt hatte. Der Arzt, der auf so wundersame Weise die Lärchenauer über zwei Weltkriege hinweggetröstet, der für alles eine Medizin, eine Musik oder eine andere Lösung hatte. Der Doktor war ein Mann vornehmer Güte. Schlank, das Haar im Alter voll und weiß. Aufgrund seiner Größe lief er nach vorn gebeugt, zog ein wenig die Schultern ein und sprach mit tiefer weicher Stimme, die aus einem unendlichen Resonanzraum seines Inneren zu kommen schien. Mit Vorliebe trug er helle Leinenhosen und weiße Hemden aus Baumwolle. Selbst auf Beerdigungen erschien er in birkenhafter Frische. Niemand nahm es ihm übel.
Doktor Lingott heilte vornehmlich mit dem, was die Natur bot. Nicht, daß er ein Verächter der Schulmedizin war, aber als Landarzt hatte er das Wissen und den Zugriff auf das, was ihm quasi vor Augen wuchs: heilkräftige Kräuter, Blüten und Beeren. Oftmals empfahl Doktor Lingott versehrten Patienten ein Bad im Mennichensee. Der See, behauptete er, verfüge über eine besondere Algenart, der man eine gesundende Wirkung nachsage. Tatsächlich erreichte der Arzt mit seiner Bademethode Erfolge. Vor allem Brandverletzte und Männer, die mit amputierten Gliedmaßen aus Verdun Warschau Stalingrad nach Lärchenau zurückkehrten, schickte er ins Wasser, wo sie unter Aufsicht einer Krankenschwester ihre verschmolzenen Häute und Stümpfe badeten und danach merklich an Lebensmut gewannen.
Bei weiblichen Patienten bevorzugte der Doktor subtilere Heilmethoden. Wie auf dem Land üblich, besuchte er die Kranken oft zu Hause. Er schwang sich aufs Fahrrad (in späteren Jahren fuhr er einen kleinen Ford), machte sich auf den Weg durch Lärchenau und in die Nachbardörfer. Bei sich trug er eine Ledertasche, die neben medizinischen Untersuchungsgeräten allerhand Beruhigungs- und Belebungstropfen barg. Je nach dem, was die Landfrauen an Beschwerden vorzubringen hatten, flößte ihnen Doktor Lingott pflanzliche Balsame ein. Nachdem sie Wirkung gezeigt hatten, fanden sich die Patientinnen in erlöstem Zustand.
Vor allem den Witwen der Gegend tat der Doktor wohl. Er sprach mit ihnen im tiefen eindringlichen Largo des Wissenden. Er trieb ihnen die Trauer aus, indem er spezielle abendliche Spaziergänge verordnete. So taten es die Witwen: Abends liefen sie in Grüppchen durch Lärchenau, flüsterten, kicherten, hakten sich backfischhaft unter. Wie vorgeschrieben, machten sie vor dem Haus des Doktors halt. Dort begann die Therapie. Aus dem geöffneten Fenster über den Praxisräumen tönte Musik. Doktor Lingott spielte. Auf einem Flügel. Nicht meisterhaft, aber hinreißend. Bach Mozart Beethoven. Manchmal, wenn er glaubte, eine Frau auf der Straße weinen zu hören, wechselte er den klassischen Stil zu springendem reißenden Rag oder Swing, immer wieder wiegenden tröstenden Swing, den er auf die Witwen ansetzte, eine verbotene durchschlagende Medizin, und sie standen unterm Fenster, fingen zu tanzen an, leise, wie von süßer Macht getrieben, und tanzten und swingten bis nach Mitternacht. Dann schloß der Doktor das Fenster, legte sich schlafen. Ach, seufzten die Frauen. Manch eine überlegte, ob sie den Doktor nicht noch auf einen nächtlichen Hausbesuch herausklingeln sollte. Aber die Frauen bewachten einander.
Rochus Lingott besaß seit dem Jahr 1900 eine kleine Praxis, die unter den Räumen seiner Privatwohnung eingerichtet war. Von der aus man einen schönen Blick auf Kirche und Friedhof hatte. Kaum ein Lärchenauer, der nicht wenigstens einmal halbjährlich dem Arzt einen Besuch abstattete. Jedes Bagatelleiden war Anlaß für die Dorfbewohner, bei ihm vorzusprechen. Die Wände der Praxis hatte Doktor Lingott in sanftem Ocker gehalten. Das Wartezimmer schmückten gerahmte Farblitographien aus Köhler’s Medicinal-Pflanzen-Sammlung von 1887, wo in zierlicher Art Schlafmohn und Fingerhut, Goldregen und Stechpalme den Betrachter ins wundersame Reich der Medizin führten.
Über dem Schreibtisch des Untersuchungszimmers hing eine bildnerische Rarität: eine Karte mit dem Abbild des Wasserschierlings, in allen Einzelheiten, vom gekammerten Stengel über die blühende Dolde bis zur aufgeschnittenen eiförmigen Frucht. Jeder, der die Praxis besuchte, blickte auf diese Pflanze. Auf nichts sonst. Erst als Lingott 1937 vom Reichsgesundheitsamt die Auflage erhielt, ein Führerbild über den Schreibtisch zu hängen, geriet die Existenz des Schierlings in Gefahr. Unter Aufsicht eines Amtmannes mußte der Doktor das Pflanzenbild von der Wand nehmen und das des Führers anbringen. Sobald der Amtmann die Praxis verlassen hatte, heftete Lingott den Schierling über das Bild des Führers. Kündigte jemand Hohes seinen Besuch an, verstaute der Doktor den Schierling für kurze Zeit hinter dem Schrank.
Doktor Lingott behandelte alle gleich: den Landarbeiter wie den Gutsbesitzer, den Greis wie den Dreikäsehoch, den fahrtenmessertragenden Bengel wie das zopfnestgeschmückte Mädel, den Turnlehrer wie den Krüppel, den Nationalsozialisten wie den Kommunisten. Er gehörte keiner Kirche und keiner Partei an. Ein Radio besaß er nicht. Die Zeitung, die er täglich zugestellt bekam, verwendete er zum Ausstopfen nasser Schuhe und zum Anfeuern. Rochus Lingott liebte seinen Beruf. Mehr noch liebte er die Musik.
Im Mai 1940 stellte er Milchmanns Tochter, die neunzehnjährige Krankenschwester Rosie Konarske, in seiner Praxis an. Die bisherige Arzthelferin war zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet worden. Rosies Bewerbung kam gerade recht: so aufreizend hübsch und kräftig war die junge Schwester, daß der Doktor Gefallen an ihr fand. Von Wuchs war Rosie eher klein. Das holunderschwarze Haar trug sie zum Nest aufgesteckt. An manchen Tagen ließ sie das Haar über die Schultern fallen. Es verdeckte dann ihre glühenden Ohren. Maikäferbraun leuchteten Rosies Augen. Lachte sie, entblößte sie eine Reihe großer Zähne. Mitunter vergaß sie den Mund zu schließen. Es kam auch vor, daß sie gegen Bäume und Haustüren lief. Mancher im Dorf munkelte: Die hamse mitte Muffe jebufft. Doch in Rosie vereinte sich, was für den Beruf der Krankenschwester wichtig war: Sanftmut und Strenge, Gehorsam und Eigenständigkeit.
Es dauerte nicht lange, da hatte Doktor Lingott sie eines Abends zu sich nach Hause gebeten. Er wolle, erklärte er die Einladung, mit Rosie zusammen ein neues Behandlungssystem erarbeiten sowie etwas mehr über sie und sich erfahren. Rosie zögerte nicht, die Einladung anzunehmen. Der Ruf des Arztes war tadellos, und solch eine Offerte, das wußte die junge Frau, war der Traum manchen Dorfweibes. Da Rosie keiner Heilung bedurfte, war sie sich sicher, als Krankenschwester und nur als solche bei Doktor Lingott geladen zu sein. Einzig Otto und Emma Konarske, die den Milch- und Grünzeugladen im Dorf betrieben, waren argwöhnisch. Der Doktor soll, behauptete Mutter, einen Schrank voller gebrauchter Brautkleider besitzen. Vater wußte, daß der Doktor jedem, der vor seinen Augen den Deutschen Gruß machte, eine Tasse Rizinusöl verabreichte.
»Alles Märchen«, sagte Rosie, holte eine frisch gestärkte Schwesterntracht aus dem Schrank, steckte das Häubchen mit Haarnadeln fest, zog eine Strickjacke über und versprach, spätestens zehn Uhr wieder zu Hause zu sein.
Rosie stand in der Diele, als hätte sie nichts als ihre Schönheit zu bestellen. Rochus Lingott saß am Flügel. In hellem Anzug und Seidenschal. Er spielte, ohne aufzusehen. Eine Sonate von Bach spielte er, und Rosie befand sich sogleich in einer Folge wunderbarster Töne, die den Fingern des Spielenden oder dem Instrument entsprangen, tanzten, sich in Bücherregalen, der Deckenleuchte verfingen, wirbelndes fugales Auf und Ab, bis die Töne umschlugen, härter, frecher wurden, gleichsam den Gast aufforderten, das steife Schwesternhäubchen abzulegen.
»Mozart!« rief der Doktor.
Gewohnheitsmäßig wollte Rosie die rechte Hand zum Gruß heben, dachte aber noch rechtzeitig an Vaters Warnung und machte einen Knicks. Einen Moment lang schien Rochus Lingott irritiert, dann lachte er kurz auf, spielte das Instrument mit wirbelnden Fingern, deren Lauf über die Tasten Rosie gebannt verfolgte, als besäße der Doktor mehr Fingergelenke als ein normaler Mensch, wie eine Spinne, die klangvolle Fäden zu Rosie knüpfte und sie in irre Gedanken fallen ließ, denn jetzt sah sie die Finger als Skalpell und Spekulum, Klemme und...