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Der Staat in globaler Perspektive - Zur Renaissance der Entwicklungsstaaten

Hans-Jürgen Burchardt, Stefan Peters

 

Verlag Campus Verlag, 2015

ISBN 9783593430201 , 267 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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31,99 EUR

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Der Staat in globaler Perspektive: Zur Renaissance der Entwicklungsstaaten
Stefan Peters/Hans-Jürgen Burchardt


Der Staat ist zurück. Während die europäische Austeritätspolitik derzeit vielen Ländern eine schmerzliche Rosskur auferlegt, befindet sich der Staat in weiten Teilen des Globalen Südens im Aufwind. Hat dieser Aufstieg in den vergangenen Jahren auch tiefgreifende weltpolitische und weltwirtschaftliche Verschiebungen herbeigeführt, hinterließ er in den wissenschaftlichen Kategoriengerüsten und Analyseinstrumenten der Staatsforschung bisher wenig Spuren. Zwar gibt es eine Reihe von Studien zu diesen Phänomenen sowie allgemein zum Staat im Globalen Süden, diese werden aber in erster Linie als Teil der Area Studies oder der Entwick-lungsforschung wahrgenommen und finden nur selten Eingang in die theoretisch-konzeptionellen Staatsdebatten. Letztere sind weiter von einem eurozentristischen Tunnelblick geprägt, der in der Regel mit westlichen Erfahrungen und Idealtypen arbeitet und die Staaten aus anderen Weltteilen als (meist negative konnotierte) Abweichungen wahrnimmt. Es mangelt also weiter an einem intensiveren Austausch zwischen der gängigen Staatsforschung (mit einem okzidentalen Staatsverständnis als Referenzpunkt) und dem Analysestand zu Staaten des Globalen Südens. Hierbei sollten nicht nur Abgleiche und Unterschiede behandelt werden, sondern auch Überlegungen, ob und inwieweit die Kenntnisse des Südens die Forschung des Nordens methodisch und analytisch bereichern könnten; es geht also um eine Betrachtung des Staates in globaler Perspektive.
Mit vorliegendem Sammelband möchten wir einen Beitrag zur Schließung dieser Lücken leisten und gleichzeitig den Blick auf historische Konjunkturen und aktuelle Veränderungen von Staatskonfigurationen lenken. Im Folgenden wird zunächst die Staatsentwicklung im Globalen Süden systematisiert und deren Dynamik anhand der Unterteilung in drei Phasen analysiert. Danach wird die gegenwärtige Renaissance der Entwicklungsstaaten erst mit Blick auf ihre realen Entwicklungen und anschließend auf die Debatten in internationalen Entwicklungsorganisationen sowie in der Wissenschaft diskutiert. Hierbei wird nicht nur das gegenwärtige, Regionen übergreifende Erstarken des Staates deutlich; detailliertere Blicke zeigen zusätzlich die Vielfalt und Heterogenität dieser neuen entwicklungsstaatlichen Arrangements. Solche Gemeinsamkeiten und Unterschiede spiegeln sich auch in den verschiedenen Beiträgen des Sammelbandes wider, die abschließend kurz in ihren zentralen Aussagen vorgestellt werden.


Staatsdynamiken im Globalen Süden

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Asien und Afrika eine Phase der oftmals gewaltvollen Dekolonialisierung ein. Gleichzeitig wurde das Paradigma der westlichen Entwicklung zum Leitbild der Nord-Süd-Beziehungen. Binnen weniger Jahre wurde auf diese Weise ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung für ?unterentwickelt? erklärt (bzw. definierte sich selbst als ?unterentwickelt?) und mit dem Ziel nachholender Entwicklung konfrontiert (Escobar 2008: 265). Dabei waren sich modernisierungstheoretische, marxistische sowie später dependenztheoretische Ansätze - trotz fundamentaler Unterschiede bezüglich ihrer Diagnosen von Entwicklungshindernissen und deren Bewältigung sowie der politischen und wirtschaftlichen Systemfrage - weitgehend einig, dass die okzidentale Entwicklung prinzipiell ein erstrebenswertes Ziel darstellt, für das dem Staat als ideelle Entwicklungsagentur eine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess zukommt.
Diese Beziehung von Staat und Entwicklung im Globalen Süden lässt sich grob in drei Phasen (klassischer Entwicklungsstaat, neoliberale Wende, Entwicklungsstaat des 21. Jahrhunderts) unterteilen. Diese Phasen sind weder als klar voneinander getrennt zu betrachten, noch lassen sie sich in allen Kontexten bzw. in den verschiedenen Regionen in gleicher Qualität und Intensität beobachten. Es handelt sich vielmehr um eine komprimierte und systematisierende Einteilung der Staatsentwicklung im Globalen Süden. Hierbei werden als erstes die empirisch darstellbaren Entwicklungen und anschließend die wissenschaftliche Diskussion und Reflexion der jeweiligen Beziehung von Staat und Entwicklung nachgezeichnet. Auf diese Weise sollen die Dynamiken der Staatsentwicklungen und -debat-ten, die Heterogenität der Staatskonfigurationen im Globalen Süden sowie die Bedeutung der Einnahme einer globalen Perspektive auf den Staat illustriert werden.

Der klassische Entwicklungsstaat
Der Staat übernahm in den postkolonialen Gesellschaften gleichzeitig die Aufgabe, Staatsbildungsprozesse zu festigen sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung anzustoßen. Er wurde zum zentralen Akteur zur Umsetzung von ?Entwicklung?, die damals vor allem als Wirtschaftswachstum, Einkommenssteigerungen, soziale Aufwärtsmobilität und Industrialisierung verstanden wurde. Der Entwicklungsstaat war geboren und prägte vorerst die weiteren politischen und gesellschaftlichen Dynamiken im Globalen Süden. Trotz erheblicher Varianz zwischen den Fällen können als gemeinsame, zentrale Merkmale von Entwicklungsstaaten ihre tiefgreifenden und gezielten Eingriffe in die Wirtschaft festgehalten werden. Neben direkten staatlichen Investitionen zielten viele Entwicklungsstaaten auch auf die staatliche Lenkung privatwirtschaftlicher Investitionen. Zur Planung solcher Entwicklungsabläufe versuchte der klassische Entwicklungsstaat meist eine elitäre und zentralistisch organisierte Bürokratie aufzubauen, die bei der Umsetzung der festgelegten Entwicklungsziele oft über einen beachtlichen Handlungsspielraum verfügte (zum Beispiel bei den Fünf-Jahresplänen in Indien oder Südkorea). Die Bürokratie identifizierte Schlüsselsekto-ren der Wirtschaft, förderte diese gezielt über Subventionen und Schutzzölle, versuchte damit Importsubstitutionen oder Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt zu erzielen und verfolgte so meistens das Anstoßen eines modernisierungstheoretischen take-off von Wirtschaft und Gesellschaft (Johnson 1982; Amsden 1989; Wade 1990; Leftwich 1995).
Politisch zog der Entwicklungsstaat seine Legitimation primär aus wirtschaftlichen und teilweise aus daran anknüpfenden sozialen Erfolgen. Diese output-Legitimation schloss zwar demokratische Entwicklungsstaaten (wie Indien oder Venezuela) nicht aus, der klassische Entwicklungsstaat charakterisierte sich jedoch meist durch (unterschiedlich ausgeprägten) Autoritarismus. Dieser manifestierte sich insbesondere in der mangelnden Kontrolle der Exekutive sowie der Durchsetzung von Niedriglöhnen mittels Repression gegen die Arbeiterschaft zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der (Export-)Industrien (Hyung 1987: 239ff.; Deyo 1989). Nicht selten wurde ein temporärer bzw. ?wohl dosierter? Autoritarismus international sogar als Bedingung zur Erzielung von Entwicklungserfolgen gerechtfertigt. Demnach erleichtert der Verzicht auf demokratische Partizipation und Exekutivkontrolle die Implementationseffizienz bei der Umsetzung kohärenter Entwicklungsstrategien (Haggard 1990; Kohli 2004; vgl. auch Rüland/Werz 1985: 212ff.). So dozierte etwa Löwenthal (1963: 266) in den frühen 1960er Jahren als einer von vielen, dass '[j]eder Grad an Freiheit mit etwas Verlangsamung der Entwicklung, jeder Grad an Beschleunigung mit etwas Verlust an Freiheit bezahlt' würde.
In der Praxis zeigte sich bis in die 1970er/1980er Jahre eine große Varianz und Heterogenität innerhalb der verschiedenen entwicklungsstaatlichen Arrangements. Zusammenfassend blieb die Bilanz ?des? Entwicklungsstaates jedoch insgesamt ambivalent. Einerseits konnten insbesondere einige ostasiatischen Staaten - auch als Folge positiver weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, Spezifika der Klassenstrukturen und des institutionellen Gefüges sowie geopolitisch motivierter, massiver Unterstützung durch den Westen im Kontext des Kalten Krieges - hohe Wachstumsraten erzielen, eine konkurrenzfähige Industrie auf- und ihren Wohlfahrtsstaat ausbauen. Über das Einlösen des Entwicklungsversprechens erhielten diese asiatischen Tigerstaaten dann eine politische Teillegitimierung in Form eines 'Dankbarkeitsklientelismus' (Derichs/Heberer 2013: 552). In Südkorea und Taiwan folgten auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungserfolge zudem erfolgreiche Demokratisierungsprozesse. Andererseits blieb die Performanz vieler Entwicklungsstaaten (zum Beispiel Brasiliens, Indiens oder Tansanias) weit hinter den Erwartungen zurück (Chibber 2003). Hier konnten vorübergehende Entwicklungserfolge nicht konsolidiert werden; oft endeten entwicklungsstaatliche Projekte in ökonomischer Ineffizienz, Stagnation und Überschuldung.
Auch die Gleichung ?weniger Freiheit bedeutet mehr Entwicklung? zeigte sich häufig als unbegründet optimistisch. In der Realität verwandelte sich der Leviathan vielmehr oft in einen Behemoth, also einen Unstaat, der wie in den bürokratisch-autoritären Regimen der südamerikanischen Diktaturen zwischen den 1960er und 1980er Jahre nicht nur massive und systematische Menschenrechtsverbrechen an der eigenen Bevölkerung verübte (für einen Überblick: Pereira 2012), sondern auch immer weniger zur ökonomischen Stabilisierung oder sozialen Entwicklung beitrug (Rüland/Werz 1985; Kailitz 2013: 518f.). Zur weitgehenden Diskreditierung des Entwicklungsstaates zu Beginn der 1980er Jahre kam es aber nicht als Folge der Demokratiedefizite, sondern aufgrund einer Finanzkrise, in die viele Ent-wicklungsländer schlitterten und die rasch eine internationale Dimension erreichte. Für die daraus folgenden ökonomischen, sozialen und politischen Krisen wurde primär der Entwicklungsstaat verantwortlich gemacht. Statt gesamtgesellschaftlicher Entwicklung schien er jetzt vor allem Klientelismus, Nepotismus und Korruption bzw. Partikularinteressen und rent-seeking zu befördern. Der Entwicklungsstaat war vorerst entzaubert.

Die neoliberale Wende
Mit der neoliberalen Wende neigte sich die entwicklungspolitische Waage vom Staat zum Markt. Besonders die internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) setzten im Zuge der Schuldenkrise seit Beginn der 1980er Jahre mit Strukturanpassungsmaßnahmen eine zunehmende Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung der Ökonomie sowie die Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen durch und forcierten die (asymmetrische) Einbindung des Globalen Südens in die internationalen Waren- und Kapitalmärkte. Mit diesem als Washington Consensus (Williamson 1993) betitelten Entwicklungsverständnis wurde den Staaten im Globalen Süden unter dem Stichwort der Austerität eine rigide Schlankheitskur verordnet. Der Staat verlor seine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess: Er sollte sich aus der Wirtschaft zurückziehen, Ausgaben senken und über marktvermittelte Rationalisierung, Dezentralisierung und Wettbewerb an Effizienz gewinnen. Die neoliberalen Reformen führten fast durchgängig zur Orientierung auf exportorientierte Entwicklungsmodelle.
Dieser Wandel bedingte erhebliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, deren historisch tradierte Grundmuster (zum Beispiel Staatsklientelismus) im Prozess der Transition umgestülpt werden sollten. Die ersten Strukturanpassungsmaßnahmen verfolgten dabei vor allem eine einseitige Reduzierung von Staatsinterventionen im sozialen und produktiven Bereich und einen Abbau von Institutionen, die als protektionistisch identifiziert wurden (Stallings/Kaufman 1989). Der Neoliberalismus verband die wirtschaftliche zudem mit einer politischen Transformation. Seit Ende der 1970er Jahre wandelten sich in vielen Ländern des Globalen Südens autoritäre Regime zu liberal-repräsentativen Demokratien. Zwar konnten die Demokratisierungserfolge nicht immer lang-fristig konsolidiert werden. In verschiedenen Ländern, zunächst in Lateinamerika, aber später zum Beispiel auch in Ghana, der Mongolei oder Südafrika hat sich die liberale Demokratie jedoch durchgesetzt und stabilisiert. Als nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 dann auch die staatssozialistischen Regime zusammenbrachen, schien dieser Paradigmenwechsel auch historisch Recht zu bekommen. Entwicklung jenseits des Marktes und liberaler Demokratie war im Kontext zunehmender Globalisierungstendenzen kaum noch denkbar. Allerdings bein-haltete diese neoliberale Vision ein großes Paradox (Smith 1998): Auf der einen Seite sollte der Staat reduziert werden, aber auf der anderen Seite konnte eine solche Politik nur über einen mächtigen Staat umgesetzt werden.
Sehr bald wurde die neoliberale Wende von der Wirklichkeit eingeholt und die 1980er Jahre gingen als ?verlorene Dekade? in die Geschichte Afrikas und Lateinamerikas ein: Die Reformen führten zu einer verheerenden sozialen Bilanz. Sie brachten in vielen Ländern einen Anstieg von Armut und sozialen Ungleichheiten, die Zunahme von Arbeitslosigkeit und informeller Beschäftigung. Es gelang dem Neoliberalismus nicht einmal, sein zentrales Versprechen auf wirtschaftliches Wachstum einzulösen (Harvey 2005; für Lateinamerika Burchardt 2004). Zwischen 1980 und 1999 betrug das durchschnittliche Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum in den ?Entwicklungsländern? nach Berechnungen von Easterly (2001: 135) 0,0 Prozent im Vergleich zu 2,5 Prozent in den vorangegangenen zwanzig Jahren. Die neuen Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramme verfehlten somit ihre primären Ziele - Wirtschaftswachstum, ein effizienter Staat und Entwicklung. Häufig führten sie stattdessen über policy slippage (Clapham 1996) sogar zu einem verschärften Wettbewerb um Ressourcen. Hierbei gelang es den traditionellen Eliten nicht selten, ihre Interessen zu wahren oder auszubauen. Und dort, wo sich Machtkonstellationen verschoben, wurden diese nicht unbedingt rationaler, transparenter oder symmetrischer; oft war vielmehr eine Bedeutungszunahme informeller Strukturen zu beobachten (Tangri 1999; Randeria 2003).
So mündeten die Deregulierung des Staates und die Expansion des Privaten immer wieder in eine systematische Desorganisation, die zu einer Zerstörung von Institutionen einschließlich massiver Entlassungen im öffentlichen Sektor und der Reduzierung oder Privatisierung sozialer Sicherungssysteme führte. Der Staat verlor auf diese Weise die Kapazität zur Wahr-nehmung von Kernaufgaben insbesondere im sozialen Bereich (Gerstenberger 2009; Bierschenk 2010). Diese Tendenz setzte sich auch unter demokratisch legitimierten Regierungen fort, so dass es paradoxerweise selbst konsolidierten Demokratien nicht gelang, die sozialen Ungleichheiten langfristig zu verringern; besonders ausgeprägt ist dies in Lateinamerika zu beobachten (PNUD 2004; Burchardt 2010).
Durch die negative Bilanz der neoliberalen Reformen sowie im Kontext der Asienkrise 1997 gewann der Staat ab Ende der 1990er Jahre mit dem Post-Washington Consensus wieder an entwicklungspolitischer Bedeutung. Als Instrument zur Marktgestaltung und -optimierung sowie zur sozialen Abfederung der neoliberalen Reformen kehrte er zurück auf die entwick-lungspolitische Agenda (World Bank 1997; Marangos 2009). Die neoliberale Fokussierung auf die Förderung von Marktprozessen wurde mit dieser Neujustierung nicht aufgegeben, aber um eine stärkere Beachtung des Institutionenaufbaus ergänzt. Staat und Markt wurden nun als komplementär betrachtet. Übergeordnetes Ziel staatlicher Politik blieb das Wirtschafts-wachstum; angestrebt wurde jedoch explizit ein ?pro-poor growth?. Hierfür ergänzten die internationalen Finanzinstitutionen ihren Maßnahmenkatalog um Poverty Reduction Strategy Papers und die Vereinten Nationen platzierten Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung (insbesondere Bildung und Gesundheit) mit den Millennium Development Goals prominent als globales entwicklungspolitisches Leitbild. Als Konsequenz hieraus übernahm der Staat vermehrt die Aufgabe, die wachsende Armut über fokussierte Sozialprogramme und das Aufspannen basaler sozialer Sicherungsnetze zu bekämpfen und auf diese Weise die sozialen Härten der neoliberalen Reformen abzumildern (Barrientos 2013). Innerhalb der Sozialpolitik gewannen Bildungspolitiken als zentrales Instrument zur mittel- und langfristigen Armutsbekämpfung weiter an Gewicht. Dies ermöglichte (fast) weltweit eine Ausweitung des Bildungszugangs sowie eine Reduzierung der Bildungsungleichheiten zwischen den Geschlechtern (Barro/Lee 2010). Trotz dieser Stärkung verschiedener sozialer Komponenten blieb die generelle Ausrichtung der Reformen weiterhin marktliberal. Armutsbekämpfung und Bildungsexpansion zielten immer auch auf die Generierung und Förderung von ?Humankapital?; progressive Umverteilungspolitiken standen hingegen nicht auf der Reformagenda. Dieser 'roll-out Neoliberalismus' (Peck/ Tickell 2002; siehe auch den Beitrag von Schild in diesem Band) wies deutliche Kontinuitätslinien mit der ersten Phase neoliberaler Reformen auf.
Dennoch erfuhr der Staat durch den Post-Washington Consensus eine erneute Aufwertung. Allerdings hatten sich im Kontext von Globalisierungs- und Regionalisierungsprozessen auch die Rahmenbedingungen staatlichen Handelns deutlich verändert: 'State power remains strategic, but is no longer the only game in town. The tide of globalization reduces the room of maneuver of states, while international institutions, transnational transactions, regional cooperation, subnational dynamics and non-governmental organizations expand in impact and scope.' (Nederveen Pieterse 2004: 82) Im Kontext dieser Veränderung wurde Staatsent-wicklung oft mit Good Governance in Verbindung gesetzt und bezog auf diese Weise einerseits nicht-staatliche Akteure (NGOs, (transnationale) Unternehmen, Zivilgesellschaft) ein und wurde andererseits mit (liberaler) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft gleichgesetzt. Ersteres sollte zum Empowerment benachteiligter Bevölkerungsgruppen beitragen und letzteres die Konsolidierung der Demokratisierungsprozesse stärken. Internationale Transferleistungen orientierten sich am Good Governance-Paradigma und zielten auf den Aufbau von Staatskapazitäten oder die Verbesserung (accountability, Korruptionsbekämpfung etc.) des Regierungshandels (Seifert 2009; Wolff 2009). Statt des Rückbaus des Staates stand nun dessen Umbau und Optimierung im Fokus. Das Good Governance Paradigma beinhaltete somit gleichzeitig die Neujustierung und Fortsetzung der liberal-universalistischen Entwicklungspolitik in den Bereichen der Transformation von Staat und Ökonomie.

Rückkehr des Staates im 21. Jahrhundert
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich zwei entgegengesetzte Tendenzen der Entwicklung von Staaten im Globalen Süden ausmachen. Einerseits wandelte sich mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Blick auf den Staat von einer entwicklungs- zu einer sicherheitspolitischen Perspektive. Fragile Staatlichkeit sowie failing und failed states rückten - etwa als Rückzugsort für Terroristen - primär als Sicherheitsrisiko in den Fokus der internationalen Politik. Die Diagnose des Staatszerfalls dient dabei oft der Vorbereitung militärischer Interventionen und/oder legitimiert eine stark intervenierende Entwicklungspolitik, die sich der Aufgabe des state-building (Schneckener 2007) widmet. Die politische Bilanz des bisherigen Staatsaufbaus ist jedoch relativ schwach. Verschiedene Interventionen zum Institutionenaufbau in fragilen oder zerfallenen Staaten endeten entweder desaströs (Somalia) oder konnten mittel- und langfristig nicht die erhofften Resultate erbringen (Afghanistan, Haiti, Irak, Kosovo).
Andererseits lässt sich mit dem Aufstieg des Globalen Südens eine gänzlich andere Tendenz beobachten: das Wiedererstarkens des interventionistischen Entwicklungsstaates. Der Aufstieg des Globalen Südens ist heute fester Bestandteil weltpolitischer Gegenwartsanalysen. Die zunehmende Bedeutung Ostasiens mit China als treibender Kraft gilt zum Beispiel einem führenden deutschen Diplomaten gar als 'Megatrend unserer Zeit' (Kreft 2011: 376). Diese Verschiebungen in der Weltwirtschaft und -politik wurden von der globalen Finanzkrise, die Europa und die USA in eine tiefe Rezession stürzte, noch beschleunigt (siehe auch den Beitrag von Flassbeck in diesem Band). Solche Dynamiken haben einen Bedeutungsgewinn des Globalen Südens in vielen Internationalen Organisa-tionen hervorgerufen, der den Beginn einer polyzentrischen Weltordnung einzuleiten scheint (Kappel 2011; Rehbein 2013).
Ermöglicht wurden die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungserfolge sowie der daraus resultierende politische Bedeutungsgewinn der aufstrebenden Schwellenländer durch heterodoxe sowie teilweise direkte staatsinterventionistische Politiken, die sich dem neoliberalen Dogma des schlanken Staates verweigerten und stattdessen auf die Ausweitung der Staatstätigkeit setzten (Boris/Schmalz 2009; Fourcade 2013; Bieling 2014). Auf Grundlage einer Politik starker staatlicher Interventionen in die Wirtschaft katapultierte sich zum Beispiel China zwischen 1978 und 2010 mit zweistelligen Wachstumsraten zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt (Wang/Wang/Wang 2014: 12f.; zu China siehe auch den Beitrag von Holbig in diesem Band). Wenngleich das Wachstum Chinas besonders spek-takulär ausfiel, haben auch die anderen BIC-Staaten Brasilien und Indien in den vergangenen Jahren ebenfalls mit einer aktiven staatlichen Rolle in der Wirtschaft einen beschleunigten ökonomischen Aufholprozess eingeleitet. Im Zeitraum von 2006 bis 2013 überstiegen die durchschnittlichen Wachstumsraten Indiens (6,76 Prozent) und Brasiliens (3,56 Prozent) nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (2014: 181ff.) jene der advanced economies des Globalen Nordens (1,23 Prozent) bedeutsam. Und auch wenn sich das Wachstum Brasiliens, Chinas und Indiens gegenwärtig etwas abkühlt, so übersteigen die Wachstumsprognosen für die kommenden Jahre zumindest für China und Indien die Erwartungen für die USA und Europa dennoch deutlich (IMF 2014: 181ff.). Dieses Wirtschaftswachstum wurde wiederum von einer Transformation der Produktions- und Außenhandelsstruktur und einer nachholenden Industrialisierung getragen, die besonders in China zu Tage tritt (Wang/Wang/Wang 2014: 13ff.). Die Nachfrage der chinesischen Ökonomie übernimmt hierbei gleichzeitig die Rolle der Lokomotive der Weltwirtschaft. Dies gilt insbesondere für den globalen Rohstoffmarkt: Bei einer Reihe von Primärgütern (vor allem bei Metallen) ist China der weltweit größte Importeur. Gleichzeitig basiert das Wachstum Chinas weiterhin auf der Exportorientierung der Industrie, was China die Anhäufung der weltweit höchsten Devisenreserven ermöglichte. Schließlich gewinnt China auch als Quelle von ausländischen Direktinvestitionen sowie als emerging donor in der Entwicklungszusammenarbeit rapide an Bedeutung (Li/Shaw 2014; UNCTAD 2014: xv).
Diese Daten unterstreichen den wirtschaftlichen Bedeutungszuwachs Chinas sowie der anderen aufstrebenden Schwellenländer. Die Entwicklungstendenzen beschränken sich jedoch nicht auf wirtschaftliche Kennziffern, sondern umfassen weiterhin einen signifikanten Rückgang der Armutszahlen. Auf Basis von Weltbankdaten findet sich für China eine Reduzierung des Armutsrate (weniger als 1,25 US Dollar am Tag) von über 80 Prozent im Jahr 1981 auf 13 Prozent im Jahr 2008. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass 672 Millionen Menschen über die Armutsgrenze gehoben wurden (Dorrucci/Pula/Santabárbara 2013: 11). In Indien sank die Armutsrate nach Angaben des IWF zwischen 2004 und 2011 von ca. 37 auf knapp 22 Prozent (Anand/Kulin/Tumar 2014: 9). Eine ähnliche Entwicklung findet sich in Brasilien, wo die Armutsrate zwischen 2000 und 2011 von 37,5 auf 18,6 Prozent zurückging (CEPAL 2013: 75). Aktuelle Studien kommen für Brasilien zu dem Ergebnis, dass zwischen 2003 und 2011 ca. 39 Millionen Menschen in die Mittelschicht aufgestiegen sind, so dass nun etwa die Hälfte der Bevölkerung des Landes als Angehörige der Mittelschicht klassifiziert werden (Neri 2012; kritisch Souza 2012). Noch dynamischer fällt das Wachstum der chinesischen Mittelschicht aus: Zwischen 1995 und 2012 stieg ihr Anteil von 17,4 auf 54,8 Prozent (Chen/Qin 2014: 531). Der Trend einer zunehmenden Mittelschicht beschränkt sich jedoch nicht auf die großen Schwellenländer, sondern zeigt sich in vielen Ländern Asiens, Lateinamerikas sowie Afrikas und stellt einen zentralen Bestandteil des Aufstiegs des Globalen Südens dar (Ravaillon 2010).
Als Konsequenz dieser positiven wirtschaftlichen und sozialen Performanz der aufstrebenden Schwellenländer sehen manche Beobachter nach dem ins Wanken geratenen Washington Consensus gar einen Beijing Consensus als neues entwicklungspolitisches Leitbild am Horizont aufscheinen (Ramo 2004; Halper 2010; Williamson 2012). Der Beijing Consensus besteht aus pragmatischen staatlichen Interventionen in die Wirtschaft durch einen starken (auch autoritären) Staat mit hoher Planungs- und Umsetzungskapazität zur Förderung exportorientierten Wachstums. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine neue Form des klassischen Entwicklungsstaates (Kennedy 2010: 471; Williamson 2012).
Einen anderen Blick auf den Aufstieg des Globalen Südens werfen politikwissenschaftliche Regionalmachtanalysen (Nolte 2012). Sie vernachlässigen die Binnendynamiken dieser Staaten und konzentrieren sich stattdessen vornehmlich auf ihr international einsetzbares Machtpotential. Damit gemeint sind entweder die Militärgewalt sowie ökonomische und andere Ressourcen, die in militärische Macht konvertierbar sind (Walt 2002). Oder es ist von soft power die Rede, also den weichen Faktoren der Ideologie und der Kultur, die regionale Anziehungskraft ausüben und zur Anerkennung einer regionalen Vormachtstellung führen sollen (Nye 2004). In jüngeren Analysen wird zudem unter dem Begriff der smart power (Nye 2011) die intelligente Verbindung der beiden Machtpotentiale herausgestellt. Die Ausweitung der Machtpotentiale der Regionalmächte des Globalen Südens fußt weniger auf ihren militärischen Kapazitäten, als vielmehr auf wachsender ökonomischer Macht, der Ausweitung ökonomischer und politischer Bündnisse (BRICS, IBSA) sowie der Zunahme ihrer soft power. Das Potential, das vielen der Regionalmächte zugeschrieben wird, basiert hierbei allerdings oft auf der Annahme einer linearen Fortsetzung ihrer aktuellen Wirtschaftsdynamik und überträgt somit implizit die Industrialisierungs- und Modernisierungserfahrungen der OECD-Kernstaaten auf die neuen Südmächte. Wie wahrscheinlich eine solche Entwicklung ist, kann aber ohne tiefergehende Kenntnisse der lokalen Konfigurationen nicht bestimmt werden. Generell werden Regionalmacht-Studien wohl nur mit einem zusätzlichen Fokus auf endogene Faktoren klären können, ob wir zur Zeit ein neues Erwachen Asiens (Rehbein 2013) beziehungsweise das Herandämmern eines asiatischen Jahrhunderts erleben oder ob China als world's workshop und Indien als world's back office (Palat 2008) auch in Zukunft weitgehend von den OECD-Märkten abhängig bleiben wird, da die lokalen Eliten kein Interesse an einer diversifizierten endogenen Entwicklung vor Ort haben und andere Kräfte zu schwach sind, um diese durchzusetzen.
Zusammenfassend kann dennoch festgestellt werden, dass der Aufstieg des Globalen Südens eine neue Etappe der Staatsdynamiken eingeleitet hat. Mittels umfassender staatlicher Interventionen wurden hohes Wirtschaftswachstum, eine Transformation der Ökonomie aber auch soziale Entwicklungserfolge erreicht sowie deutliche Verschiebungen in der Weltpolitik und -ökonomie eingeleitet. Im Fahrwasser dieses Aufstiegsprozesses wandelt sich auch das Staatsverständnis in der Entwicklungspolitik: Der neoliberale Marktradikalismus verliert an Attraktivität, während staatsinterventionistische Politiken erneut als erfolgversprechende Alternativen erscheinen.

Zur Renaissance der Entwicklungsstaaten
Die beschriebenen Dynamiken des Aufstiegs des Globalen Südens wurden zum zentralen Katalysator der Renaissance des Entwicklungsstaates in Wissenschaft und internationaler Politik (Fritz/Menocal 2007; UNCTAD 2007; UNDP 2013; Musacchio/Lazzarini 2014; Williams 2014). Die entwicklungspolitische Waage neigte sich damit zurück vom Markt zum Staat. Bereits in der letzten Dekade hat die UNCTAD den Entwicklungsstaat für Afrika explizit als vielversprechendes Vehikel langfristiger wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung präsentiert. Auch im Human Development Report des Jahres 2013 (UNDP 2013: Kap. 3) wurde die Bedeutung eines proaktiven Entwicklungsstaates neben entschlossenen sozialpolitischen In-novationen und der Erschließung globaler Märkte explizit als zentrale Triebkraft jüngerer Entwicklungserfolge in Staaten des Globalen Südens herausgestellt. Die positive Performanz vieler Staaten des Globalen Südens während der vergangenen Jahre basierte demnach darauf, dass diese Entwicklungsstaaten nicht primär 'market-friendly', sondern 'developmental-friendly' und nach Möglichkeit auch 'people-friendly' agierten (UNDP 2013: 66). Dies beinhaltet die Ausweitung öffentlicher Investitionen in soziale Dienstleistungen, die staatliche Förderung ausgewählter Schlüsselsektoren der Wirtschaft, die Priorisierung der Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung von Synergien zwischen Staat und Markt sowie eine langfristige staatliche Entwicklungs- und Reformagenda und räumt der sozialen Entwicklung somit insgesamt einen erhöhten Stellenwert ein (UNDP 2013: 69ff.). Auch die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) verweist in einem aktuellen Strategiereport (Medina Vásquez/ Becerra/Castaño 2014) auf die zentrale Rolle des Staates für einen Strukturwandel der Region. Der Staat soll als Entwicklungsplaner auftreten und eine aktive Rolle in strategischen Sektoren der Wirtschaft übernehmen, um die Privatwirtschaft zu stärken und soziale Entwicklungserfolge zu fördern. Ohne sich explizit auf das Erbe des Entwicklungsstaates zu beziehen, wird dieser also auch von der CEPAL erneut prominent auf den Plan gerufen (Medina Vásquez/Becerra/Castaño 2014: 127ff.).
Die erneute Huldigung des Entwicklungsstaates seitens der Wissenschaft und internationaler Entwicklungsorganisationen beinhaltet meist ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit der mangelnden demokratischen Legitimation und den sozialen Verwerfungen des klassischen Entwicklungsstaates des 20. Jahrhunderts. Statt eines Relaunch des bekannten Modells wird die Konstruktion eines runderneuerten Modells des Entwicklungsstaates für das 21. Jahrhundert angestrebt (Fritz/Menocal 2007; Edigheji 2010; Williams 2014). Schönheitsoperationen sollen die Makel mangelnder demokratischer Partizipation sowie langsamer sozialer Entwicklung korrigieren und einen zeitgemäßen Entwicklungsstaat neuer Provenienz präsentieren. Derart rausgeputzt wurden frühere Engführungen, die Entwicklung auf Wachstum reduzierten, zugunsten eines breiteren, am Human Development Index orientierten Entwicklungsverständnisses aufgegeben (UNDP 2013; siehe auch den Beitrag von Evans in diesem Band).
Diese erstaunliche Renaissance des einst totgesagten Entwicklungsstaates wird meist vor allem mit Blick auf die großen Schwellenländer diskutiert. Die Fokussierung der Debatte auf die BRIC(S)-Staaten verdeckt dabei jedoch oftmals den Blick für die Vielfalt und Heterogenität aktueller entwicklungsstaatlicher Modelle. Die jüngsten Entwicklungserfolge ba-sieren nur zum Teil auf einer Strategie nachholender Industrialisierung. Andere Staaten haben mittels der gezielten Suche nach Nischen in der Weltwirtschaft ebenfalls beachtliche Wirtschaftserfolge erzielen können und werden teilweise ebenso als Entwicklungsstaaten diskutiert wie das stark auf Dienstleistungen ausgerichtete ?Singapur-Modell? (Huff 1995; Ó'Riain 2004). Schließlich galt auch das ?Dubai-Modell? mit einer Kombination aus hochwertigen Dienstleistungen, der Expansion von Luxustourismus und -immobilien sowie der Etablierung des Emirats als logistische Drehscheibe lange Zeit als ein vielversprechendes Entwicklungsmodell, das zugleich den Beweis für die Möglichkeit der Diversifizierung von Rohstoffstaaten zu liefern schien (Hvidt 2009). Allerdings endete der be-eindruckende Boom Dubais im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 durch eine Immobilienblase und die zunehmende Überschuldung des Emirats in einer schmerzhaften Bruchlandung. Das Scheitern Dubais fügt sich so in einen generellen Trend wenig erfolgreicher Diversifizierungsbemühungen von Rohstoffstaaten in Asien, Afrika und Lateinamerika ein (World Bank 2012: 31; ADB u.a. 2013: 29; Hvidt 2013; IMF 2013: 5). Dieses wiederholte Scheitern von Diversifizierungsbemühungen