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Tödliche Camargue - Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc

Cay Rademacher

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2015

ISBN 9783832188528 , 308 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Blut auf Asphalt

Capitaine Roger Blanc hatte in zwanzig Dienstjahren bei der Gendarmerie noch nie so viel Blut gesehen: Ein toter schwarzer Kampfstier blockierte die Straße, ein dunkler Koloss, in dessen linker Flanke mindestens zwei Dutzend Neun-Millimeter-Parabellumgeschosse steckten. Einige Meter dahinter lag die Leiche eines Mannes mit schrecklich aufgeschlitztem Leib. Das Blut von Tier und Mensch hatte sich auf der hitzeweichen, nach Teer stinkenden Straße vermischt und war zu einer braunen, rissigen Kruste eingetrocknet.

Obwohl es schon später Nachmittag war, stand die Sonne wie eine giftige Blume hoch über dem Horizont. Ein verbeultes, weißes Straßenschild wies auf eine abzweigende Route départementale hin, die nach Saint-Gilles führte. Irgendwoher kenne ich den Ortsnamen, dachte Blanc flüchtig, doch in der Hitze wollte ihm nicht einfallen, wann er ihn schon einmal gehört hatte. Jemand hatte auf das Blechschild gefeuert, vor langer Zeit, in die Durchschusslöcher hatte sich längst der Rost gefressen. Die Straßen wanden sich als schmale, graue Bänder durch eine Welt aus Salz, Sand und zähem, hartem Gras. Camargue.

Brackwasser funkelte, bleierne Spiegel, so groß wie Seen und flach wie Pfützen. Manche Seen leuchteten chemieblau, andere glänzten hellrot wie verdünnte Wasserfarbe. An ihren sumpfigen Rändern quollen gelblich-weiße Schaumblasen auf. Das Gras war kniehoch, jeder Halm scharf wie ein Dolch. Ein leichter Westwind, der keine Kühlung brachte, bewegte die Halme auf und nieder, auf und nieder. Libellen tanzten über dem Wasser, elegante, rosafarbene Schemen staksten durch den flirrenden Horizont. Flamingos, registrierte Blanc erstaunt. Ein einziges Mal hatte er diese Vögel zuvor gesehen, vor Ewigkeiten im Zoo von Vincennes, als sein Nachwuchs noch klein und seine Ehe intakt gewesen war.

Grelle Reflexe, die sich wie Nadeln in seine Augen bohrten, lenkten seine Aufmerksamkeit wieder auf das makabere Schauspiel zu seinen Füßen. Sonnenstrahlen wurden von einer Stahluhr zurückgeworfen – einer Stahluhr am Handgelenk des Mannes, der von dem Kampfstier auf die Hörner genommen worden war. Seine Leiche lag etwa fünf Meter neben der des erschossenen Tieres.

Blanc beugte sich zu einem Mann von Mitte fünfzig hinunter, zwischen eins siebzig und eins achtzig groß, schlank, gebräunte Haut. Eine eckige, ultraleichte Sonnenbrille verbarg die obere Hälfte seines Gesichts, langes, grauweißes Haar quoll unter einem Helm hervor, der aussah, als hätte ihn ein Designer von Computerspielen im 3-D-Drucker gebastelt. Der Tote steckte in schwarzen Radlershorts und einem Funktions-T-Shirt in Kobaltblau und Neongelb. Allerdings war von diesen Farben nicht mehr viel zu erkennen, denn der Kampfstier hatte den Fahrradfahrer mit einem Horn im Unterleib getroffen und seinen Schädel offenbar nach oben gerissen, sodass die Spitze wie ein Schlachtermesser den Rumpf vom Bauchnabel bis fast zum Halsansatz aufgerissen hatte. Die Wundränder waren gezackt, der Dünndarm quoll aus der Öffnung heraus und sah aus wie ein blässlicher Gartenschlauch. Blanc erkannte die Spitze einer gebrochenen Rippe und mehrere Organe, die er lieber nicht allzu genau zuordnen wollte. Satte Schmeißfliegen brummten über dem Toten. Der Geruch von Blut und Halbverdautem mischte sich mit dem Gestank von Brackwasser. Ihn schwindelte, rasch richtete er sich auf.

Blanc blickte sich um. Trotz seiner Sonnenbrille musste er die Augen zusammenkneifen. Auf einem Stück Land, das eine Handbreit höher lag als die Umgebung, glänzte eine fette, grüne Weide. Ein starker Zaun aus eckigen Holzbalken, die von Eisenpfosten gehalten wurden, umschloss das Terrain, zu dem nur ein einziges Gatter Zugang bot, ein hölzernes Tor mit massivem Stahlrahmen. Dieses Gatter stand weit offen.

Blanc blickte wieder auf den Toten. Auf ein teuer aussehendes Mountainbike, das vielleicht zehn Meter weiter geschleudert und mit dem Vorderrad bis in den Entwässerungsgraben neben der Straße gerutscht war. Auf den Stier, der seine Beine ausgestreckt hatte wie ein Bettler seinen Arm, seine schwere, lilafarbene Zunge hing aus dem Maul, seine Hörner, jedes so lang wie der Arm eines Mannes, hatten im Todeskampf helle Rillen in den Asphalt gezogen, die Seite seines massigen Leibes war von den Kugeln aufgerissen.

Ein älterer, stark schwitzender Brigadier trat auf ihn zu. »Ronchard« stand auf seinem Namensschild.

»Haben Sie den Stier erschossen?«, fragte Blanc.

»Ja, mon Capitaine. Ein Zeuge hat den Unfall gemeldet. Mein Kollege und ich waren die Ersten vor Ort und sahen den Toten.« Ronchard deutete auf einen zweiten Brigadier, der mit einer Kompaktkamera Fotos von der Straße und dem Opfer schoss. Er hielt den Apparat dabei so weit von seinem eigenen Auge entfernt, als fürchte er, dass er jeden Augenblick explodieren könnte. Blanc bezweifelte, dass er auch nur ein brauchbares Bild der Unfallstelle zustande bringen würde.

»Aber neben dem Opfer stand noch immer der Kampfstier«, fuhr Ronchard fort. »Wir haben uns erst nicht aus dem Auto getraut. Mit unseren Dienstpistolen wollte ich dem Tier lieber nicht gegenüberteten, der besteht aus einer halben Tonne Muskeln und Knochen. Wir hatten aber zufällig eine UMP9 im Wagen, weil wir gerade vom Schießstand zurückgekommen waren. In meiner Freizeit bin ich Jäger und, eh bien …« Er brach ab, lachte freudlos. »Das war nicht gerade ein Blattschuss. Ich habe das Seitenfenster runtergekurbelt und vom Fahrersitz aus das ganze Magazin leer geschossen.«

Blanc blickte wieder zum Stier hinüber und nickte. »Vielleicht bekommen Sie ja den ausgestopften Kopf als Trophäe, Ronchard. Mal was anderes als ein Fasan.«

»Damit komme ich auf jeden Fall in die Zeitung. Ich kann mich nicht erinnern, dass je zuvor ein Tourist in der Camargue von einem Stier auf die Hörner genommen worden ist.«

Blanc deutete auf das offene Gatter. »War das Tor schon offen, als Sie angekommen sind, Ronchard?«

»So offen wie der Hosenstall eines Exhibitionisten.«

»Der Kampfstier hat auf einer Weide gegrast, die nicht mehr abgesperrt war«, sinnierte Blanc. »Warum war das Gatter nicht geschlossen? Und seit wann stand es offen? Bien, jedenfalls fährt auf der Landstraße zufällig ein Radfahrer mit seinem VTT vorbei …«

»Diese Tiere sind zum Kampf gezüchtet worden, mon Capitaine. Sie sind extrem aggressiv und sehr schnell. Vielleicht hat sich der Bulle gestört oder bedroht gefühlt. Vielleicht war ihm auch bloß langweilig und heiß, mit schwarzem Fell unter dieser Sonne. Vielleicht haben ihn die Bremsen stärker gereizt, das sind monströse Biester hier. Auf jeden Fall muss das Tier den Radfahrer gesehen haben. Der Weg war frei. Da hat der Bulle den Kopf gesenkt und ist losgestürmt. Volltreffer. Das wird es morgen auf die Seiten von La Provence schaffen.«

»Vielleicht sogar bis auf Seite eins«, murmelte Blanc düster und zog dem Opfer die Sonnenbrille vom Gesicht. »Ronchard, haben Sie sich den Toten bereits näher angesehen? Kennen Sie ihn?«

Der Brigadier hüstelte. »Helm und Brille verbergen ja ziemlich viel. Und außerdem war ich noch nicht wirklich nahe dran.«

»Sie müssen die lächerliche Radfahrermontur ignorieren. Denken Sie sich den Toten in Designerjeans und elegantem, dunklem Jackett. Dazu ein Hemd, so weiß, dass es in den Augen schmerzt, und stets einen Knopf zu weit geöffnet. So trat der Herr hier nämlich öfters im Fernsehen auf.«

Es war Donnerstag, der 4. August, und der siebte Tag einer Hitzewelle, die sich anfühlte, als hätte Gott den Midi aus Europa herausgeschnitten und in die Sahara verpflanzt. Im Radio wurden jeden Tag Höchstwerte von fünfunddreißig Grad prognostiziert – eine politische Maßnahme, vermutete Blanc, um die Leute nicht zu beunruhigen. Denn würde die Temperaturanzeige in seinem klapprigen Renault Espace noch funktionieren, so würde sicher ab jedem Vormittag bis weit in den Abend hinein auf dem kleinen Display eine »40« leuchten.

Er hatte sich am Mittwoch früher abgesetzt, um das Dach der alten Ölmühle, die er seit einigen Wochen bewohnte, zu inspizieren. Die gewölbten Terrakottaschindeln waren jedoch von der Sonne so aufgeheizt worden, dass man Handschuhe hätte anziehen müssen, um sie zu berühren. Nach wenigen Minuten hatte Blanc deshalb, schweißüberströmt und dehydriert, den Rückzug über die wackelige Holzleiter angetreten, die er in einem Schuppen neben dem Haus gefunden hatte. Da er aber unvorsichtig genug gewesen war, mit bloßem Oberkörper hinaufzusteigen, kam er mit verbrannten Schultern wieder herunter. Später, als ihn das Ziehen und Brennen zwischen Hals und Oberarmen um den Schlaf brachte, verfluchte er seinen Leichtsinn: einmal Nordfranzose, immer Nordfranzose.

So hatte Blanc am Donnerstagmorgen vor dem antiquierten Monitorklotz seines Rechners gehockt und auf die Muster des Bildschirmschoners gestarrt. Da unter der Hitze selbst die Zerstörungslust der Gewohnheitskriminellen verdampft war, gab es wenig zu tun. Er hatte versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen, was nicht einfach war, denn der Stuhl war zu klein für seinen fast zwei Meter langen Körper. Der schäbige Betonklotz im Zentrum von Gadet hatte zwar eine Klimaanlage, doch war sie unterdimensioniert und seit Jahren nicht gewartet worden, sodass den sirrenden Metallkästen bloß Wellen feuchtwarmer, nach Schimmel riechender Luft entflossen. Die Gendarmen waren gezwungen, hin und wieder die Fenster zu öffnen, um zu lüften, auch wenn dann die Glut hineindrängte, als hätte man Backofentüren aufgeklappt.

Blanc hatte, wie immer, dunkle Jeans und ein schwarzes T-Shirt getragen...