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Der Stümper

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257606324 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[15] 2

Es begann zu regnen, während Walter im Wagen wartete.

Er blickte von seiner Zeitung auf und nahm den Arm aus dem Fenster. Dunkelblaue Regenflecken sprenkelten den blauen Leinenärmel seines Jacketts.

Die großen Sommerregentropfen trommelten lauter auf das Wagendach, und innerhalb von Sekunden glänzte der gewölbte Teer der Straße vor Nässe und spiegelte die Neonreklame des einen Häuserblock entfernten Drugstores als langgezogenen roten Streifen. Die Dämmerung brach herein, und der Regen hatte unversehens einen dunklen Schatten über die Stadt geworfen. Die adretten Häuser im Neuengland-Stil, die die Straße säumten, wirkten in dem grauen Licht noch weißer, und die niedrigen weißen Zäune der Raseneinfassungen zeichneten sich so gestochen scharf ab wie die Fäden eines Stickmusters.

Ideal, ideal, dachte Walter. Genau die Art Ortschaft, in der man ein gesundes und gutmütiges Mädchen heiratet, mit dem man in einem weißen Haus lebt, samstags angeln geht und die Söhne zum gleichen Lebensstil erzieht.

Grauenhaft, hatte Clara nachmittags gesagt und auf das Miniaturspinnrad neben dem Kamin des Gasthauses gedeutet. In ihren Augen war Waldo Point ein Touristenkaff. [16] Walter hatte den Ort mit Vorbedacht und nach langem Überlegen ausgesucht, weil er die am wenigsten touristische unter einer langen Reihe von Städten auf Cape Cod war. Walter erinnerte sich, daß Clara sich in Provincetown sehr wohl gefühlt und sich nicht darüber beklagt hatte, daß der Ort touristisch sei. Aber das war im ersten Jahr ihrer Ehe gewesen; jetzt war es das vierte Jahr. Der Inhaber des Spinndrift Inn hatte Walter gestern erzählt, daß sein Großvater das Spinnrad für seine kleinen Töchter zum Üben gebaut hatte. Wenn Clara in der Lage wäre, sich nur für eine Minute an die Stelle 

Eine Bagatelle, weiter nichts, dachte Walter. So verhielt es sich mit all ihren Streitigkeiten. Gestern zum Beispiel – der Streit darüber, ob ein Mann und eine Frau unweigerlich nach zwei Jahren Ehe einander körperlich überdrüssig waren. Walter hielt das nicht für zwingend. Clara war der lebende Beweis, obwohl sie besonders zynisch und unschön behauptet hatte, daß es zwingend so sei. Walter hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr zu sagen, daß er sie körperlich genausosehr liebte wie früher. Wußte sie es nicht sowieso? Und war das nicht der einzige Zweck ihrer Argumentation gewesen – ihn zu irritieren?

Walter setzte sich anders hin, fuhr sich mit den Fingern durch das dichte blonde Haar und versuchte, sich zu entspannen und sich auf die Zeitung zu konzentrieren. Mein Gott, dachte er, und das soll Urlaub sein.

Seine Augen überflogen eine Spalte über amerikanische Soldaten in Frankreich, doch seine Gedanken beschäftigten sich noch immer mit Clara. Er dachte an den Mittwochvormittag nach dem frühmorgendlichen Ausflug im [17] Fischerboot (zumindest dieser Ausflug mit Manuel hatte ihr Vergnügen gemacht, weil sie dabei etwas gelernt hatte), als sie auf ihr Zimmer gegangen waren, um sich auszuruhen. Es war einer der seltenen Momente gewesen, in denen Clara blendender Laune war. Sie hatten über irgend etwas gelacht, und ihre Arme hatten sich enger um seinen Hals geschlossen…

Das war am Mittwoch vormittag gewesen, vorvorgestern, doch schon am nächsten Tag hatte ihre Stimme eisig geklungen – das ewiggleiche Muster des Abstrafens nach erwiesener Gunst.

Es war zehn Minuten nach acht. Walter blickte aus dem Wagenfenster zum Eingang des Gasthauses etwas weiter hinten. Noch nichts von ihr zu sehen. Er sah wieder auf die Zeitung und las: Frauenleiche bei Tarrytown, N.Y., aufgefunden.

Die Frau war brutal erstochen und zusammengeschlagen worden, aber nicht ausgeraubt. Die Polizei tappte im dunkeln. Sie war Fahrgast in einem Bus von Albany nach New York gewesen, war nach einer Rastpause nicht wiedergekommen, und der Bus hatte ohne sie weiterfahren müssen.

Walter überlegte, ob diese Geschichte Material für einen seiner Essays hergab, ob der Mörder in einer besonderen Beziehung zu der Frau gestanden haben mochte. Er erinnerte sich an einen anscheinend ohne Motiv begangenen Mord, von dem er gelesen hatte und der später durch die ungleiche Freundschaft zwischen Mörder und Opfer erklärt worden war, eine Freundschaft wie die zwischen Chad Overton und Mike Duveen. Die Geschichte des Mordes [18] hatte Walter dazu verholfen, einzelne potentiell gefährliche Elemente der Freundschaft zwischen Chad und Mike herauszuarbeiten. Die kleine Meldung über die Frau aus Newark riß er am Rand der Zeitung ab und steckte sie in die Tasche. Ein paar Tage lang wollte er sie aufbewahren und abwarten, ob etwas über den Mörder herausgefunden werden würde.

Die Essays waren seit zwei Jahren Walters Hobby. Unter dem Titel Unwürdige Freundschaften sollten es insgesamt elf Texte werden. Fertig war erst einer, der über Chad und Mike; für mehrere andere hatte er Entwürfe geschrieben, und sie beruhten allesamt auf Beobachtungen an seinen eigenen Freunden und Bekannten. Seine These war die, daß die meisten Menschen mindestens eine Freundschaft zu einem Menschen unterhielten, dem sie überlegen waren und zwar aufgrund bestimmter Bedürfnisse und Mängel, die sie in dem minderwertigen Freund entweder gespiegelt oder komplementiert sahen. Chad und Mike beispielsweise: Beide entstammten wohlhabenden Familien und waren verwöhnt, doch Chad hatte sich aus freien Stücken für eine Tätigkeit entschieden, während Mike noch immer Playboy war, allerdings einer, den seine Familie an die kurze Leine gelegt hatte. Mike war ein Trinker und ein Tunichtgut und scheute sich nicht, seine Freunde auszunutzen. Allerdings war Chad inzwischen Walters einziger Freund. Chad war offenbar der Ansicht, in Mike das Schicksal verkörpert zu sehen, das ihm selbst erspart geblieben war, und er half Mike immer wieder aus der Patsche. Mike war als Freund nicht viel wert. Walter hatte nicht die Absicht, sein Buch einem Verlag vorzulegen. Die Essays verfaßte er nur zum [19] eigenen Vergnügen, und es interessierte ihn nicht einmal, sie zu Ende zu schreiben.

Walter ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloß die Augen. Er dachte an das 50 000-Dollar-Grundstück in Oyster Bay, das Clara verkaufen wollte. Walter betete insgeheim, daß einer der zwei Interessenten es kaufen würde, um Claras willen und seinetwegen. Gestern hatte sie den Großteil des Nachmittags mit dem eingehenden Studium der Grundrisse von Haus und Garten verbracht. Ihren Schlachtplan für die nächste Woche vorbereiten, so hatte sie es genannt. Sie würde wie eine Furie in die Schlacht ziehen, das wußte er. Es war verblüffend, daß sie ihre Kunden nicht abschreckte, daß die Kunden ihr etwas abkauften. Aber so war es. Bei Knightsbridge Brokerage betrachtete man sie als Topimmobilienhändlerin.

Wenn er sie nur dazu bringen könnte, etwas entspannter zu sein. Ihr die richtige Art Sicherheit zu vermitteln, daran hatte er früher geglaubt. Gab er sich nicht genug Mühe? Liebe, Zuneigung und auch Geld. Aber es nützte alles nichts.

Er hörte ihre Schritte – die hohen Absätze klapperten beim Laufen –, setzte sich schnell auf und dachte: Verdammt, ich hätte bis zum Eingang zurückfahren sollen, weil es regnet. Er beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihr die Tür.

»Warum hast du nicht vor der Tür gewartet?« fragte sie.

»Tut mir leid. Ist mir eben erst eingefallen.« Er wagte zu lächeln.

»Hast du etwa nicht mitbekommen, daß es regnet?« sagte sie und schüttelte fassungslos ihren kleinen Kopf. [20] »Runter mit dir, Süßer, du bist naß!« Sie schubste ihren Foxterrier Jeff vom Sitz, doch er sprang wieder hinauf. »Jeff, Schluß jetzt!«

Jeff kläffte freudig, als wäre es ein Spiel, und zum drittenmal war er wieder oben wie ein Schachtelteufel. Clara ließ ihn gewähren und nahm ihn zärtlich in den Arm.

Walter fuhr zum Stadtzentrum. »Wie wäre es mit einem Drink im Melville, bevor wir essen gehen? Es ist unser letzter Abend.«

»Ich will keinen Drink, aber wenn du unbedingt einen haben mußt, gehe ich mit.«

»Okay.« Vielleicht konnte er sie zu einem Tom Collins überreden. Oder wenigstens zu einem süßen Vermouth mit Soda. Aber wahrscheinlich konnte er sie nicht überreden, und lohnte es sich, sie zu nötigen, ihm bei seinem Drink Gesellschaft zu leisten? Und meistens hatte er Lust auf einen zweiten Drink. Walter erlebte einen Augenblick der Ambivalenz, der Willensschwäche, und konnte sich nicht entscheiden, ob er einen Drink wollte oder nicht. Er fuhr an dem Hotel vorbei, ohne anzuhalten.

»Ich dachte, wir wollten ins Melville gehen«, sagte Clara.

»Ich habe es mir anders überlegt. Wenn du sowieso nichts trinken willst.« Walter legte seine Hand über ihre Hand und drückte sie. »Wir fahren zum Lobster Pot.«

Am Ende der Straße bog er nach links ab. Das Lobster Pot lag auf einem kleinen Felsvorsprung oberhalb des Strandes. Die Meeresluft strömte in den Wagen, kühl und salzig. Walter fand sich plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Er suchte mit dem Blick nach der Kette blauer [21] Lichter, die zum Lobster Pot gehörte, konnte sie aber nirgends erkennen.

»Am besten fahre ich zur Hauptstraße zurück und orientiere mich an der Tankstelle, wie ich es sonst immer tue«, sagte Walter.

Clara lachte. »Du warst ja auch erst höchstens fünfmal hier, wenn nicht öfter!«

»Na und?« sagte Walter...