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Der Flügelschlag des Glücks - Roman

Lisa Jewell

 

Verlag Limes, 2015

ISBN 9783641158194 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

1

Dienstag, 2. November 2010

Hi Jim!

Ich muss zugeben, dass ich bei dir nicht mit so einem gewöhnlichen Namen wie Jim gerechnet hätte. Die Barbour-Jacke und die schicke Weste, die du auf dem Foto trägst, lassen dich eher wie einen Rupert oder einen Henry wirken. Irgendetwas Seriöses mit zwei Silben jedenfalls! Apropos Silben: Du hast nach meinem Namen gefragt. Nein, ich heiße nicht wirklich Rainbowbelle. Natürlich nicht! Ich heiße Lorelei, drei Silben. Meine Eltern haben uns alle nach Sagengestalten benannt. Meine Schwester heißt Pandora. Es gab noch eine Athena, aber die kam tot zur Welt.

Ich bin fünfundsechzig und lebe in einem der hübschesten Orte der Cotswolds in einem großen, verrückten Haus voller Dinge, die ich meine Schätze nenne – meine Kinder bezeichnen sie als Schrott. Vermutlich haben wir alle recht.

Es sind übrigens vier Kinder. Megan ist vierzig, Bethan achtunddreißig, und die Zwillinge Rory und Rhys sind fünfunddreißig. Oh, und hauptsächlich dank der Fortpflanzungsfreude meiner ältesten Tochter bin ich mehrfache Großmutter!

Hast du ebenfalls Kinder? Du hast es nicht erwähnt, also wohl eher nicht. Normalerweise erzählen die Leute doch vor allem von ihren Kindern, stimmt’s? Leider sehe ich meine nicht sehr oft, sie sind alle sehr beschäftigt. Und was mich betrifft, so habe ich mich in letzter Zeit, wie soll ich sagen, ziemlich abgeschottet. Vor etwa vier Jahren verlor ich meine große Liebe, und man könnte sagen, dass mein Leben seitdem ein wenig aus den Fugen geraten ist.

Wie auch immer, was könnte ich dir sonst von mir erzählen? Ich bin ein Naturmensch und liebe das Landleben, ich mag Kinder und schwimme gern. Für mein Alter bin ich noch ganz schön fit, und dass ich über die Jahre hinweg meine Figur behalten habe, dafür bin ich dankbar. Schließlich mutieren eine Menge Frauen in den Wechseljahren zu molligen Mammuts! Außerdem habe ich nach wie vor langes Haar. Nichts macht eine Frau älter als ein Haarschnitt!!

Jetzt genug von mir. Erzähl mir mehr von dir! Du schreibst, dass du verwitwet bist. Tut mir sehr leid, das zu hören. Und wo im Norden lebst du? Auf dem Bild bist du mit einem Hund zu sehen. Einem schönen Retriever. Wie heißt er denn? Wir hatten auch einen Hund, als die Kinder klein waren, doch nachdem sie alle aus dem Haus waren, sah ich keinen Grund mehr, Haustiere zu halten.

Ich werde sehen, was ich wegen der Fotografien machen kann. Ich hab’s nicht so mit Technik, aber es gibt bestimmt etwas, das ich dir schicken kann. Ich tue mein Bestes.

Also dann, danke noch mal, Jim, dass du dich bei mir gemeldet hast. Das Internet ist wirklich eine wunderbare Sache, besonders für Oldtimer wie uns, meinst du nicht? Ohne wäre ich echt verloren. Ich würde mich sehr freuen, wieder von dir zu hören – falls du mich allerdings schrecklich findest, fühl dich bitte zu nichts verpflichtet!

Mit schönen Grüßen und besten Wünschen

Lorelei Bird

April 2011

Die schwüle Hitze war ein Schock nach der Kälte der letzten beiden Stunden im klimatisierten Auto. Meg schlug die Wagentür hinter sich zu, schob die Ärmel ihrer Baumwolltunika hoch, nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete das Haus. »Meine Güte.«

Molly, eine lindgrüne Ray-Ban auf der Nase, trat neben sie und wollte ihren Augen nicht trauen. »O mein Gott.«

Einen Moment lang standen sie Seite an Seite da. Molly hatte ihre Mutter sehr zu ihrer Freude inzwischen größenmäßig eingeholt, maß jetzt ebenfalls gut einen Meter siebzig und hatte die Figur eines Models. Ihre gebräunten Beine steckten in Jeans-Hotpants, das hellbraune Haar war auf dem Kopf zu einem kunstvollen Dutt zusammengebunden, und über einem pinkfarbenen Trägershirt trug sie ein weißes Baumwollhemd. Ihre Fuß- und Handgelenke, um die sich Freundschaftsbänder und Haargummis schlangen, waren superschmal. Meg dagegen war eher stämmig, weshalb sie zu der leichten dreiviertellangen Hose ein kleidsames gestreiftes Longsleeve gewählt hatte. Silberne Flipflops mit Pailletten sowie eine Last-Minute-Pediküre demonstrierten, dass sie modebewusst war.

Eine Mutter und ihre einzige Tochter im Spätstadium eines genauso albtraum- wie klischeehaften Pubertätsdebakels, das mehr als drei Jahre angedauert hatte und an dessen Ende sie beinahe Freundinnen geworden waren. Hoffentlich. Jemand hatte Meg gesagt, dass sie ihre Tochter erst wirklich mit neunzehn zurückbekommen würde. Bis dahin waren es immerhin noch vier Jahre.

»Es ist schlimmer, als ich gedacht hatte. Viel schlimmer.« Meg schüttelte den Kopf und machte einen zögerlichen Schritt auf das Haus zu. Da stand es, Stein für Stein genau wie an dem Tag vor vierzig Jahren, als sie geboren worden war. Drei Fenster schauten unten zur Straße hin, oben vier, und es gab zwei Eingangstüren, eine auf jeder Seite. Am Seiteneingang rechts hing ein Schild, das vor langer Zeit von einem mittlerweile längst verstorbenen hiesigen Kunsthandwerker angefertigt worden war: eine ovale Tafel, die zwei schnäbelnde Turteltauben darstellte und darüber die Worte Familie Bird.

Hinter dem grün gestrichenen Gartentor links neben dem Haus ging es über einen Kiesweg zum Hintereingang. Ein Aufkleber verkündete, dass hier Neighbourhood Watch aufpasse – was immer aus dieser Nachbarschaftswache geworden sein mochte, dachte Meg gedankenverloren. Und ein zweiter verriet, dass die Bewohner des Hauses Mitglieder der Vogelschutzorganisation Royal Society for the Protection of Birds waren. Ein drittes Schild wies darauf hin, dass Hausieren unerwünscht sei. Alles genauso, wie es immer gewesen war. Außer …

»Das ist das schrecklichste Haus, das ich je gesehen habe«, sagte Molly. »Es ist noch schlimmer als die aus den Fernsehsendungen.«

»Wir waren ja nicht mal drinnen, also spar dir lieber ein wenig Entsetzen auf.«

»Und mir die Nase zuhalten, was?«

»Ja, wahrscheinlich.«

Die Fenster, die ihrer Erinnerung zufolge auch früher niemand häufig geputzt hatte, waren so verschmutzt, dass sie vollkommen blind und eigentlich schwarz wirkten. Die einst hellen gelblich braunen Mauern aus Gloucestershire-Kalkstein waren schmutzig und verwittert, sodass sich die Farbe kaum noch erkennen ließ. Vom früheren Charme des landestypischen Cottage war nichts mehr zu erkennen. Verwahrlosung und Verfall hingegen waren offensichtlich.

Das grüne Gartentor hing bloß noch an einem Nagel in seiner Angel, und auf dem Kiesweg lag wahllos allerlei Schrott, der zur Mülldeponie gehörte: zwei alte Kinderwagen, ein rostiges Fahrrad, ein vertrockneter Christbaum in einem zerbrochenen Topf, eine Kiste voller Zeitschriften, die aufgeweicht waren vom Regen vergangener Tage und auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe aufgequollen waren. Das ganze Anwesen wirkte, als sei ihm seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten weder Aufmerksamkeit noch Pflege zuteilgeworden.

Und damit war es zum Schandfleck geworden. Denn das idyllische Dorf, inzwischen eine bevorzugte Adresse für großstadtmüde, wohlhabende Londoner, hatte sich während dieser Zeit herausgeputzt, sodass das Bird-Haus wie ein fauler Zahn wirkte, der dringend gezogen werden musste.

»Oje, ist das peinlich«, meinte Molly und schob naserümpfend ihre Ray-Ban ins Haar. »Was müssen die anderen im Ort bloß denken?«

Meg zog die Augenbrauen hoch. »Hm. Schätzungsweise ist unser Ruf, vor allem der meiner Mutter, seit einer Ewigkeit dahin. Also dürfte sich kaum noch jemand wundern.« Sie hielt inne und sah ihre Tochter an. »Komm, lass uns reingehen, oder? Bringen wir’s hinter uns.«

Molly lächelte gequält und nickte.

April 1981

Megan schob den Efeu zur Seite und bohrte ihren Finger in einen kleinen Spalt in der Hauswand. »Habe noch eins gefunden«, rief sie Bethan und den Zwillingen zu.

»Oh, gut gemacht, Meggy«, lobte ihre Mutter sie, die in einer Schürze mit Erdbeermuster auf den Stufen der Hintertreppe stand und das Geschehen mit einem zufriedenen Lächeln beobachtete. »Bravo!«

Ihre Tochter fischte das kleine, in Folie verpackte Ei aus der Mauer und ließ es in ihren Korb fallen. »Es ist rosa«, sagte sie herausfordernd zu ihrer jüngeren Schwester.

»Mir doch egal«, erwiderte Beth. »Ich habe schon drei schöne Eier in Rosa.«

Die Ältere blickte hinauf zum Himmel. Er war wolkenlos, tiefblau, und es war warm wie im Juli. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie sich mit der Suche beeilen müssten, weil sonst die Schokolade schmelzen würde. Meg ließ den Blick über den Garten wandern. Die Eier im Holzstoß hatte sie bereits alle gefunden und sie mit leichtem Ekel vorsichtig zwischen den gummiartigen Asseln herausgezogen. In den Beeten mit Osterglocken und Hyazinthen, die die Wege um das Gewächshaus säumten, waren weitere versteckt gewesen, und eines hatte sie sogar in den Zweigen des Kirschbaums vor der Küchentür entdeckt. Sie zählte ihre Ausbeute: zwölf Stück. Bethan und die Zwillinge suchten nach wie vor in der Nähe des Hauses. Vermutlich vergeblich, dachte Megan und hüpfte in den hinteren Teil des Gartens. Wenn überhaupt, würde sie dort fündig werden.

Nach und nach verklangen die Stimmen ihrer Geschwister und ihrer Mutter zu einem leisen Murmeln. Hier unten war es wärmer, die Luft mild und dunstig. Der Rasen wies Streifen vom gestrigen Mähen auf, und die kleinen Haufen zusammengerechter Grasabfälle vertrockneten schon in der Sonne, die viel zu heiß brannte für diese Jahreszeit. Ein Kamelienstrauch, vom frühen Sommereinbruch zum vorzeitigen Blühen verleitet, warf bereits die ersten...