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Das Vermächtnis des Vaters - Die Clifton Saga 2 - Roman

Jeffrey Archer

 

Verlag Heyne, 2015

ISBN 9783641124755 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Ohne weitere Formalitäten wurde Harry zunächst durch einen langen, spärlich beleuchteten Korridor und dann durch eine unmarkierte Tür nach draußen in einen kargen Hof geführt.

In der Mitte des Hofes stand ein gelber Bus, der weder eine Nummer noch einen anderen Hinweis auf sein Ziel trug. Ein muskulöser Aufseher stand mit einem Gewehr in der Hand neben der Bustür und gab Harry mit einem Nicken zu verstehen, dass er einsteigen solle. Nur für den Fall, dass er auf andere Gedanken käme, halfen ihm dabei die beiden Wachleute, die ihn aus dem Gericht geleitet hatten.

Harry setzte sich und starrte düster aus dem Fenster, während nach und nach andere verurteilte Gefangene in den Bus geführt wurden. Einige hielten die Köpfe gesenkt, andere, die diesen Weg offensichtlich nicht zum ersten Mal hinter sich brachten, kamen fast munter dahergeschlendert. Er nahm an, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis der Bus losfuhr – gleichgültig, was auch immer das Ziel der Fahrt sein mochte. Doch kurz darauf sollte er seine erste, schmerzliche Lektion über das Leben eines Gefangenen lernen: Sobald man verurteilt wurde, hat es niemand mehr eilig.

Harry dachte darüber nach, einen der Wachleute zu fragen, wohin sie fahren würden, doch keiner von ihnen sah wie ein besonders hilfsbereiter Fremdenführer aus. Nervös drehte er sich um, als sich jemand auf den Sitz neben ihm fallen ließ. Er wollte seinen neuen Begleiter nicht anstarren, doch da dieser sich sofort vorstellte, musterte Harry ihn etwas genauer.

»Ich bin Pat Quinn«, verkündete er mit einem leichten irischen Akzent.

»Tom Bradshaw«, sagte Harry, der seinem neuen Bekannten die Hand geschüttelt hätte, wenn sie beide nicht mit Handschellen gefesselt gewesen wären.

Quinn sah nicht wie ein Krimineller aus. Seine Füße berührten kaum den Boden, und er konnte nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig sein, während die meisten anderen Gefangenen im Bus entweder groß und muskelbepackt oder einfach nur groß und übergewichtig waren. Quinn wirkte, als könne ihn der kleinste Windstoß umwerfen. Sein dünnes rotes Haar zeigte die ersten grauen Strähnen, obwohl er keinen Tag älter als vierzig sein konnte.

»Das ist das erste Mal für dich?«, sagte Quinn. Es klang halb wie eine Frage und halb wie eine Feststellung.

»Ist das so offensichtlich?«, fragte Harry.

»Es steht dir ins Gesicht geschrieben.«

»Was steht mir ins Gesicht geschrieben?«

»Dass du keine Ahnung hast, was als Nächstes passieren wird.«

»Dann ist es für dich eindeutig nicht das erste Mal?«

»Es ist das elfte Mal, dass ich in diesem Bus sitze. Es könnte auch schon das zwölfte Mal sein.«

Harry lachte zum ersten Mal seit vielen Tagen.

»Weswegen bist du hier?«, fragte Quinn.

»Fahnenflucht. Strafwürdiges Verlassen«, erwiderte Harry, ohne auf irgendwelche Einzelheiten einzugehen.

»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, sagte Quinn. »Ich habe drei Ehefrauen verlassen, aber deswegen haben sie mich kein einziges Mal in den Knast geworfen.«

»Ich habe keine Ehefrau verlassen«, sagte Harry, wobei er an Emma dachte. »Ich habe unerlaubt die Royal Navy verlassen – ich meine, die Marine.«

»Wie viel hast du dafür bekommen?«

»Sechs Jahre.«

Quinn pfiff durch die beiden Zähne, die er noch hatte. »Das klingt ziemlich hart. Wer war dein Richter?«

»Atkins«, erwiderte Harry in heftigem Ton.

»Arnie Atkins? Du hast den falschen Richter bekommen. Solltest du jemals wieder vor Gericht müssen, dann sorg dafür, dass du den richtigen Richter bekommst.«

»Ich wusste nicht, dass man sich seinen Richter aussuchen kann.«

»Das kann man auch nicht«, sagte Quinn, »aber es gibt gewisse Mittel und Wege, die Schlimmsten zu vermeiden.« Harry sah sich seinen Begleiter noch genauer an als zuvor, unterbrach ihn aber nicht. »Es gibt sieben Richter in dem für uns zuständigen Bezirk, und zweien davon musst du unter allen Umständen aus dem Weg gehen. Einer der beiden ist Arnie Atkins. Sein Humor ist knapp bemessen, seine Strafen umso großzügiger.«

»Aber wie hätte ich ihm aus dem Weg gehen können?«, fragte Harry.

»Atkins hat seit elf Jahren den Vorsitz in Gerichtssaal Nummer vier, also bekomme ich einen epileptischen Anfall, wenn man mich in diese Richtung führt. Einen Anfall, der so heftig ist, dass die Wachen mich zum Gerichtsarzt bringen.«

»Du bist Epileptiker?«

»Nein«, sagte Quinn. »Du hörst nicht zu.« Er klang fast empört, und Harry verstummte. »Wenn ich denen vorspiele, dass es mir wieder besser geht, haben sie meinen Fall längst einem anderen Richter übertragen.«

Harry lachte zum zweiten Mal. »Und damit kommst du durch?«

»Nicht immer. Aber wenn ich ein paar unerfahrene Wachen zugeteilt bekomme, habe ich eine echte Chance. Obwohl es immer schwieriger wird, ständig dieselbe Nummer durchzuziehen. Diesmal allerdings war das gar nicht nötig, denn sie haben mich direkt in Gerichtssaal Nummer zwei gebracht, und der ist das Reich von Richter Regan. Er ist Ire – genau wie ich, falls du das noch nicht bemerkt hast – und neigt dazu, einem Landsmann eine möglichst geringe Strafe zu geben.«

»Was hast du ausgefressen?«

»Ich bin Taschendieb«, verkündete Quinn, als sei er Architekt oder Arzt. »Ich habe mich im Sommer auf Pferderennen und im Winter auf Boxveranstaltungen spezialisiert. Es ist immer leichter, wenn meine Kunden stehen«, erklärte er. »Aber in letzter Zeit habe ich kaum noch Glück, weil zu viele Ordner mich längst kennen. Deswegen musste ich in der U-Bahn und auf Busbahnhöfen arbeiten, wo man nicht viel verdient und leichter geschnappt wird.«

Es gab noch so viele Fragen, die Harry seinem neuen Tutor stellen wollte, und wie ein begeisterter Studienanwärter konzentrierte er sich auf diejenigen, die ihm bei der Zulassungsprüfung helfen würden. Ansonsten war er froh, dass Quinn sich nicht nach seinem Akzent erkundigte.

»Weißt du, wohin wir fahren?«, wollte er wissen.

»Lavenham oder Pierpoint«, antwortete Quinn. »Es kommt ganz darauf an, ob wir den Highway bei Ausfahrt zwölf oder vierzehn verlassen.«

»Warst du schon mal in einem von beiden?«

»Ich war schon in beiden, und das mehrfach«, sagte Quinn in sachlichem Ton. »Und bevor du fragst: Gäbe es einen Touristenführer für Gefängnisse, bekäme Lavenham einen Stern, und Pierpoint würde dichtgemacht.«

»Warum erkundigen wir uns nicht einfach beim Aufseher, wo wir hinfahren?«, fragte Harry, der seiner bedrückenden Unsicherheit ein Ende machen wollte.

»Weil er uns anlügen würde. Nur um uns eins auszuwischen. Wenn es Lavenham wird, gibt es nur noch das Problem, in welchen Zellenblock du kommst. Da es für dich das erste Mal ist, werden sie dich wahrscheinlich in Block A stecken, wo das Leben bedeutend leichter ist. Alte Hasen wie mich schicken sie üblicherweise in Block D, wo es keinen unter dreißig gibt und niemand wegen eines Gewaltverbrechens einsitzt, was ideal für jeden ist, der nicht weiter auffallen und einfach nur seine Zeit runterreißen will. Du solltest versuchen, Block B und Block C zu vermeiden. Die sind voller Junkies und Psychos.«

»Was muss ich tun, damit ich auch sicher in Block A lande?«

»Sag dem Beamten am Empfang, dass du ein frommer Christ bist und weder rauchst noch trinkst.«

»Ich wusste gar nicht, dass man im Gefängnis Alkohol trinken darf«, sagte Harry.

»Das darf man auch nicht, du dämlicher Schwachkopf«, sagte Quinn. »Aber wenn du die nötigen Scheine aufbringen kannst«, fügte er hinzu und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, »dann verwandeln sich die Wachen plötzlich in Barkeeper. Nicht einmal die Prohibition hat sie bremsen können.«

»Was ist das Wichtigste, worum ich mich gleich an meinem ersten Tag kümmern muss?«

»Sorg dafür, dass du die richtige Arbeit bekommst.«

»Welche Wahl habe ich denn?«

»Putzen, Küche, Krankenstation, Wäsche, Bibliothek, Gartenarbeit und die Kapelle.«

»Was muss ich tun, damit ich in die Bibliothek komme?«

»Sag ihnen, dass du lesen kannst.«

»Und was wirst du ihnen sagen?«, fragte Harry.

»Dass ich eine Ausbildung zum Koch gemacht habe.«

»Das muss sehr interessant gewesen sein.«

»Du hast es immer noch nicht kapiert, nicht wahr?«, sagte Quinn. »Ich habe nie eine Ausbildung zum Koch gemacht, aber so stecken sie mich immer in die Küche, und das ist die beste Arbeit in jedem Gefängnis.«

»Wie das?«

»Man kommt schon vor dem Frühstück aus seiner Zelle raus, und man geht erst nach dem Abendessen wieder in sie zurück. Es ist warm, und man kann sich das beste Essen aussuchen. Ah, wir fahren nach Lavenham«, sagte Quinn, als der Bus den Highway über Ausfahrt zwölf verließ. »Das ist gut, denn so muss ich keine dummen Fragen über Pierpoint beantworten.«

»Gibt es noch etwas, das ich über Lavenham wissen müsste?«, fragte Harry, der sich von Quinns Sarkasmus nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er vermutete ohnehin, dass der erfahrene Gefangene einen so willigen Schüler nur allzu gerne in seine Meisterklasse aufnahm – wenn man das so nennen konnte.

»Da gibt es noch so viel, dass ich dir gar nicht alles erzählen kann«, seufzte Quinn. »Bleib nur immer dicht bei mir, nachdem wir registriert worden sind.«

»Aber werden sie dich nicht automatisch in Block...