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Der Trost von Fremden

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257606386 , 192 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] Eins

Jeden Nachmittag, wenn sich die ganze Stadt hinter den dunkelgrünen Fensterläden ihres Hotels zu regen begann, wurden Colin und Mary geweckt durch das systematische Bosseln von Stahlwerkzeugen gegen die eisernen Lastkähne, die am Ponton des Hotelcafés vertäut lagen. Morgens waren diese rostenden, narbenbedeckten Rümpfe ohne erkennbare Fracht oder Antriebsvorrichtung dann verschwunden; gegen Ende eines jeden Tages tauchten sie wieder auf, und die Besatzungen hantierten unerklärlich mit ihren Holzhämmern und Meißeln. Um diese Zeit, in der wolkigen Spätnachmittagshitze, begannen sich Gäste auf dem Ponton einzufinden, um an den Blechtischen Eis zu essen, und auch ihre Stimmen erfüllten das abgedunkelte Hotelzimmer, wogten auf und ab in Wellen von Gelächter und Unstimmigkeit und überfluteten die kurze Stille zwischen den einzelnen durchdringenden Hammerschlägen.

Sie erwachten, so schien es ihnen, gleichzeitig und lagen ruhig auf ihren getrennten Betten. Aus Gründen, die sie nicht mehr klar definieren konnten, [10] redeten Colin und Mary zur Zeit nicht miteinander. Zwei Fliegen umkreisten träge das Deckenlicht, auf dem Korridor drehte sich ein Schlüssel im Schloß, Schritte näherten sich und verklangen. Schließlich stand Colin auf, stieß die Fensterläden nach außen und ging ins Bad, um zu duschen. Noch verfangen in den Nachwehen ihrer Träume, drehte sich Mary auf die Seite, als er vorbeiging, und starrte die Wand an. Das stetige Wasserrauschen nebenan war besänftigend, und sie schloß noch einmal die Augen.

Jeden Abend, in der rituellen Stunde, die sie auf ihrem Balkon verbrachten, bevor sie sich auf die Suche nach einem Restaurant machten, hatten sie geduldig den Träumen des anderen zugehört, im Austausch für den Genuß, ihre eigenen erzählen zu können. Colins Träume waren solche, wie Psychoanalytiker sie empfehlen, vom Fliegen, sagte er, von ausbröckelnden Zähnen, davon, nackt vor einem sitzenden Fremden zu erscheinen. Bei Mary verbündeten sich die harte Matratze, die ungewohnte Hitze und die kaum erforschte Stadt dazu, in ihrem Schlaf einen Tumult von lärmenden, streitsüchtigen Träumen zu entfesseln, die, beklagte sie sich, ihren Wachzustand betäubten: und die schönen alten Kirchen, die Altarbilder und die Steinbrücken über den Kanälen fielen matt auf ihre Netzhaut wie auf eine ferne Leinwand. Am häufigsten träumte sie von ihren Kindern: daß sie in Gefahr schwebten und daß [11] sie selbst zu unbeholfen oder durcheinander war, um ihnen zu helfen. Ihre eigene Kindheit verwirrte sich mit der ihres Sohns und ihrer Tochter. Sie waren ihre Altersgenossen, die sie mit ihren beharrlichen Fragen ängstigten. Warum bist du ohne uns weggegangen? Wann kommst du wieder? Wirst du uns vom Zug abholen? Nein, nein, versuchte sie ihnen klarzumachen, ihr sollt doch mich abholen. Sie erzählte Colin, sie habe geträumt, ihre Kinder seien zu ihr ins Bett geklettert, auf jeder Seite eines, und da lagen sie und zankten sich die ganze Nacht über ihrem schlafenden Körper. Hab ich. Hast du nicht. Doch. Hast du nicht… bis sie erschöpft erwachte, die Hände fest an die Ohren gepreßt. Oder, sagte sie, ihr Exgatte bugsierte sie in eine Ecke und begann ihr geduldig, so wie er es einmal getan hatte, die Handhabung seiner kostspieligen japanischen Kamera zu erklären und sie dabei nach jedem Schritt die Raffinessen abzufragen. Nach vielen Stunden fing sie an zu seufzen und stöhnen und bat ihn, doch aufzuhören, aber nichts konnte die unbarmherzige Leier von Erklärungen unterbrechen.

Das Badezimmerfenster ging auf einen Hof, und zu dieser Stunde belebte auch er sich mit Geräuschen aus angrenzenden Zimmern und den Hotelküchen. In dem Moment, als Colin die Dusche abdrehte, begann der Mann von gegenüber, wie an den vorherigen Abenden, unter seiner Dusche sein [12] Duett aus der Zauberflöte zu singen. Mit einer Stimme, die das wolkenbruchartige Wasserbrausen und das Schmatzen und Schlabbern verschwenderisch geseifter Haut übertönte, sang der Mann mit der völligen Ungezwungenheit dessen, der sich ohne Publikum glaubt, kiekste und jodelte die hohen Töne, tra-la-la-te die vergessenen Worte und schmetterte die Orchesterpassagen. »Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an.« Sowie die Dusche abgestellt war, verflachte der Gesang zu einem Pfeifen.

Colin stand vor dem Spiegel, lauschte; dann begann er ohne besonderen Anlaß sich zum zweitenmal an diesem Tag zu rasieren. Sie hatten seit ihrer Ankunft ein wohlgeordnetes Ritual festgelegt, bestehend aus Schlaf, dem nur bei einer Gelegenheit Sex vorausgegangen war, und dem ruhigen, selbstverlorenen Zwischenspiel jetzt, während dem sie sich sorgfältig zurechtmachten vor ihrem Dinnerspaziergang durch die Stadt. In dieser Zeit der Vorbereitung bewegten sie sich langsam und sprachen kaum. Sie behandelten ihre Körper mit teurem, zollfreien Eau de Cologne und Puder, sie wählten ihre Garderobe mit peinlicher Sorgfalt und ohne den anderen um Rat zu fragen, so als warte irgendwo unter den Tausenden, zu denen sie sich bald gesellen würden, jemand, dem sehr viel an ihrer äußeren Erscheinung lag. Während Mary auf dem [13] Schlafzimmerfußboden ihr Yoga machte, drehte Colin immer einen Marihuana-Joint, den sie dann auf ihrem Balkon rauchten, was jenen köstlichen Augenblick steigern würde, wenn sie aus der Hotelhalle in die cremige Abendluft traten.

Während ihrer Abwesenheit, und nicht nur morgens, kam ein Zimmermädchen und machte die Betten oder zog die Laken ab, wenn es das für nötig hielt. An das Hotelleben nicht gewöhnt, hemmte sie diese Intimität mit einer Fremden, die sie nur selten sahen. Das Zimmermädchen entfernte benutzte Papiertaschentücher, es stellte ihre Schuhe im Schrank in einer anständigen Reihe auf, es legte ihre schmutzigen Kleider auf einem Stuhl zu einem ordentlichen Haufen zusammen und arrangierte loses Kleingeld in kleinen Stapeln längs des Nachtkästchens. Rasch jedoch wurden sie von ihr abhängig und fingen an, ihre Sachen achtlos zu behandeln. Sie wurden unfähig, sich umeinander zu kümmern, unfähig, in dieser Hitze ihre Kissen selbst aufzuschütteln oder sich nach einem fallengelassenen Handtuch zu bücken. Gleichzeitig waren sie gegen Unordnung intoleranter geworden. Eines Spätvormittags kamen sie in ihr Zimmer zurück und fanden es noch so vor, wie sie es hinterlassen hatten – schlicht unbewohnbar –, und es blieb ihnen nur übrig, wieder wegzugehen und abzuwarten, bis es aufgeräumt worden war.

[14] Die Stunden vor ihrem Nachmittagsschlaf waren ebenso festumrissen, wenn auch weniger voraussagbar. Es war Hochsommer, und die Stadt quoll über von Besuchern. Colin und Mary zogen jeden Morgen nach dem Frühstück mit Geld, Sonnenbrillen und Stadtplänen los und schlossen sich den Scharen an, die über die Kanalbrücken und durch jede enge Straße schwärmten. Sie erfüllten getreulich die vielen touristischen Pflichten, die die uralte Stadt auferlegte, und besuchten ihre Haupt- und Nebenkirchen, ihre Museen und Paläste, allesamt angefüllt mit Schätzen. In den Einkaufsstraßen blieben sie vor den Schaufensterauslagen stehen und erörterten Geschenke, die sie eventuell kaufen würden. Bislang hatten sie noch kein Geschäft betreten. Trotz der Stadtpläne verirrten sie sich häufig und konnten leicht eine Stunde damit zubringen, den gleichen Weg zurück und im Kreis zu laufen, den Sonnenstand (Colins Trick) zu Rate zu ziehen, um sich dann einer vertrauten Wegmarke aus einer unerwarteten Richtung zu nähern und immer noch irrezugehen. War die Strapaze besonders groß und die Hitze noch drückender als gewöhnlich, erinnerten sie einander sardonisch daran, daß sie »doch Ferien machten«. Sie verbrachten viele Stunden auf der Suche nach »idealen« Restaurants oder beim Versuch, das Restaurant von vor zwei Tagen wiederzufinden. Häufig waren die idealen Restaurants voll [15] oder, nach neun Uhr abends, gerade dabei zu schließen; kamen sie an einem vorbei, das auf und Platz hatte, aßen sie dort, manchmal lange bevor sie hungrig waren.

Allein vielleicht hätte jeder für sich die Stadt mit Vergnügen erkunden, Launen erliegen, Ziele aufgeben und so das Verirrtsein genießen oder ignorieren können. Es gab so viel zu bestaunen hier, man mußte nur auf Draht sein und die Augen aufsperren. Doch sie kannten einander so gut wie sich selbst, und ihre Vertrautheit war, wie zuviele Koffer etwa, eine ständige Belastung; gemeinsam bewegten sie sich langsam, unbeholfen, schlossen klägliche Kompromisse, achteten auf leise Stimmungsumschwünge, kitteten Brüche. Als Individuen waren sie nicht leicht gekränkt; aber gemeinsam gelang es ihnen, einander auf überraschende, unerwartete Weise zu kränken; dann irritierte den Kränkenden – es war zweimal seit ihrer Ankunft geschehen – die Überempfindlichkeit des anderen, und sie setzten die Erkundung der gewundenen Gassen und unvermuteten Plätze schweigend fort, und mit jedem Schritt wich die Stadt zurück, während sie sich tiefer in der Gegenwart des anderen verschlangen.

Mary stand von ihrem Yoga auf und, nachdem sie ihre Unterwäsche sorgsam ausgesucht hatte, begann sich anzuziehen. Durch die halboffene Verandatür [16] konnte sie Colin auf dem Balkon sehen. Ganz in Weiß gekleidet lümmelte er in dem Strandstuhl aus Aluminium und Plastik, sein Handgelenk baumelte dicht über dem Boden. Er inhalierte, kippte den Kopf, hielt den Atem an und atmete über den Geranientöpfen, die die Balkonmauer...