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Der Tagträumer

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257606379 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

 

[9] Peter wird vorgestellt

Als Peter Glück zehn Jahre alt war, sagten ihm die Erwachsenen manchmal, er sei ein »schwieriges« Kind. Er verstand nie so recht, was sie damit meinten. Er selbst fand sich überhaupt nicht schwierig. Er warf keine Milchflaschen gegen die Gartenmauer, schüttete sich kein Tomatenketchup über den Kopf und tat, als wäre es Blut, er versuchte auch nicht, seiner Oma mit dem Schwert den Fuß abzuhacken, selbst wenn er gelegentlich mit dem Gedanken spielte. Bis auf Gemüse und Fisch, Eier und Käse aß er alles, was auf den Tisch kam. Er war weder lauter noch schmuddeliger, noch dümmer als andere Kinder, die er kannte. Sein Name war leicht auszusprechen und leicht zu buchstabieren. Er hatte ein ganz gewöhnliches Gesicht, blaß und voller Sommersprossen. Er ging jeden Tag zur Schule wie andere Kinder auch und machte nie viel Wind darum. Zu seiner Schwester war er nur so gemein wie sie zu ihm. Nie klopften Polizisten an die Haustür, um ihn zu verhaften. Nie drohten Arzte in weißen [10] Kitteln, ihn ins Irrenhaus zu schaffen. Seiner Meinung nach war Peter eigentlich ziemlich pflegeleicht. Was war an ihm schon schwierig?

Erst viele Jahre später, als er selber längst erwachsen war, ging Peter endlich ein Licht auf. Man fand ihn schwierig, weil er so still war. Das machte den Leuten offenbar zu schaffen. Ein weiteres Problem bestand darin, daß er gern allein war. Natürlich nicht die ganze Zeit. Nicht einmal jeden Tag. Aber an den meisten Tagen zog er sich gern auf ein Stündchen in sein Zimmer oder in den Park zurück. Er war eben gern ungestört, hing seinen Gedanken nach.

Erwachsene bilden sich immer ein, sie wüßten, was im Kopf eines Zehnjährigen vor sich geht. Aber wenn einer den Mund hält, weiß man ganz und gar nicht, was ihn beschäftigt. Wenn die Leute Peter sahen, wie er an Sommernachmittagen auf dem Rücken lag, an einem Grashalm kaute und zum Himmel hinaufstierte, dann riefen sie ihm zu: »Peter, Peter! Woran denkst du denn schon wieder?« Und Peter richtete sich erschrocken auf: »Ach, an nichts. An überhaupt nichts.« Die Erwachsenen ahnten wohl, daß ihm etwas im Kopf herumging, aber sie konnten es nicht hören, nicht sehen oder fühlen. Sie konnten Peter auch nicht gut auffordern, damit aufzuhören, denn sie [11] wußten ja nicht, was er da im Geiste so alles anstellte. Vielleicht steckte er gerade seine Schule in Brand, warf seine Schwester einem Krokodil zum Fraße vor oder flüchtete in einem Heißluftballon; sie aber sahen nichts weiter als einen Jungen, der, ohne mit den Augen zu zwinkern, in den blauen Himmel starrte, einen Jungen, der nicht hörte, wenn man ihn bei seinem Namen rief.

Und was nun sein Alleinsein anging – das gefiel den Erwachsenen auch nicht sonderlich. Sie können es ja nicht einmal leiden, wenn andere Erwachsene allein sein wollen. Wenn man mitmacht, wissen die Leute, welche Absichten man hat. Man hat genau die gleichen Absichten wie sie auch. Man muß mitmachen, oder man verdirbt allen den Spaß. Peter sah das anders. Mitmachen – das war ja alles schön und gut, in bestimmten Fällen. Aber doch nicht ständig. Wenn die Leute weniger Zeit damit zubrächten, mitzumachen und andere zum Mitmachen zu zwingen, dachte er, wenn sie sich statt dessen jeden Tag eine Zeitlang darauf besinnen würden, wer sie sind oder wer sie sein könnten, ginge es glücklicher zu in der Welt, und es käme vielleicht gar nicht erst zu Kriegen.

In der Schule war Peter oft nur äußerlich anwesend hinter seinem Pult, während sein Geist [12] auf Wanderschaft ging. Sogar zu Hause handelte er sich mit seiner Träumerei zuweilen Arger ein. Einmal – es war Weihnachten – wollte Peters Vater, Thomas Glück, im Wohnzimmer den Weihnachtsschmuck aufhängen. Er haßte diese Arbeit, bekam dabei immer schlechte Laune. Er hatte beschlossen, oben an der Zimmerdecke einen Stern anzubringen. In der Ecke stand ein Sessel, und in dem Sessel saß Peter und tat nichts Besonderes.

»Bleibst du bitte sitzen, Peter«, sagte Thomas Glück. »Ich will mich nur eben auf die Sessellehne stellen, um da oben hinzukommen.«

»Ist recht«, sagte Peter. »Nur zu.«

Thomas Glück stieg auf den Sessel, und Peter vertiefte sich in Gedanken. Er sah zwar aus, als hätte er nichts zu tun, aber in Wahrheit war er vollauf beschäftigt. Er war nämlich gerade dabei, sich eine aufregende Methode auszudenken, wie man unter Verwendung eines Kleiderbügels und eines Drahtseils, das zwischen den Bäumen aufgespannt war, schnell bergab gelangen konnte. Während sein Vater auf der Rückenlehne stand, sich ächzend reckte und zur Decke streckte, grübelte Peter weiter über das Problem nach. Wie, so überlegte er, konnte man sich herabgleiten lassen, ohne gegen die Kiefern zu prallen, an denen das Drahtseil aufgespannt war?

[13] Vielleicht war die Bergluft daran schuld, aber plötzlich fiel Peter wieder ein, daß er Hunger hatte. In der Küche lag eine unangebrochene Packung Schokoladenkekse. Wäre doch schade, wenn die verkommen würden. Als er aufstand, tat es hinter ihm einen entsetzlichen Schlag. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie sein Vater kopfüber in den Spalt zwischen Sessel und Wand fiel. Dann tauchte Thomas Glück, mit dem Kopf voran, wieder auf. Er sah aus, als wäre er drauf und dran, Peter windelweich zu prügeln. Auf der anderen Seite des Zimmers hielt sich Peters Mutter die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken.

»Tut mir leid, Papa«, sagte Peter. »Ich hatte ganz vergessen, daß du da warst.«

Kurz nach seinem zehnten Geburtstag wurde Peter mit der Aufgabe betraut, seine siebenjährige Schwester Tina zur Schule zu bringen. Peter und Tina gingen auf dieselbe Schule. Zu Fuß war man in einer Viertelstunde dort, oder aber man fuhr eine kurze Strecke mit dem Bus. Früher liefen sie gemeinsam mit ihrem Vater, der sie auf dem Weg zur Arbeit dort ablieferte. Doch von nun an sollten sie allein mit dem Bus zur Schule fahren, und Peter trug die Verantwortung.

[14] Man brauchte nur zwei Haltestellen weit zu fahren, doch seine Eltern machten ein Getue, als müßte Peter Tina zum Nordpol bringen. Am Vorabend erhielt er genaue Anweisungen. Als er aufwachte, mußte er sich alles noch einmal von vorn anhören. Dann wiederholten seine Eltern das Ganze abermals am Frühstückstisch. Als die Kinder schon zur Tür hinaus waren, ging seine Mutter, Viola Glück, die Verhaltensregeln ein letztes Mal durch. Die denken wohl alle, ich bin blöd, dachte Peter. Vielleicht bin ich’s ja auch. Er sollte Tina die ganze Zeit über an die Hand nehmen. Im Doppeldecker sollten sie sich unten hinsetzen, Tina ans Fenster. Unter keinen Umständen durften sie sich auf Gespräche mit Verrückten oder mit bösen Onkeln einlassen. Peter sollte dem Schaffner mit lauter Stimme die Haltestelle nennen, ohne zu vergessen, »bitte« zu sagen. Auch sollte er sich die Fahrstrecke einprägen.

Peter mußte seiner Mutter die Vorschriften noch einmal wiederholen, dann brach er mit seiner Schwester zur Bushaltestelle auf. Die ganze Zeit über hielten sie sich bei der Hand. Dagegen hatte er eigentlich nichts einzuwenden, denn, um die Wahrheit zu sagen, er mochte seine Schwester gern. Er hoffte bloß, daß ihn keiner von seinen [15] Freunden dabei ertappte, wie er mit einem Mädchen Hand in Hand ging. Dann kam auch schon der Bus. Sie stiegen ein und setzten sich unten hin. Es war lächerlich, sich weiter an den Händen zu halten, und weil auch einige Jungen von seiner Schule im Bus saßen, ließen sie sich los. Peter war stolz. Er würde überall auf seine Schwester aufpassen. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Angenommen, sie befänden sich allein auf einem Bergpaß und sähen sich einem Rudel ausgehungerter Wölfe gegenüber – er wüßte genau, was zu tun wäre. Er würde darauf achten, daß sie keine plötzliche Bewegung machten, und mit Tina zurückweichen, bis sie mit dem Rücken gegen einen großen Felsen standen. So konnten die Wölfe sie nicht einkreisen.

Dann nimmt er aus der Hosentasche zwei wichtige Gegenstände, die er vorsorglich mitgebracht hat: sein Jagdmesser und eine Streichholzschachtel. Er zieht das Messer aus der Scheide und legt es ins Gras, für den Fall, daß die Wölfe sie angreifen. Schon schleichen sie näher heran. Sie sind so ausgehungert, daß sie geifern und knurren und heulen. Tina schluchzt, aber er kann sie jetzt nicht trösten. Er weiß, daß er sich auf seinen Plan konzentrieren muß. Zu seinen Füßen liegen ein paar trockene Blätter und Zweige. [16] Rasch und geschickt formt er sie zu einem kleinen Häufchen. Die Wölfe rücken näher. Er muß es schaffen. In der Schachtel befindet sich nur noch ein Zündholz. Sie können den Atem der Wölfe riechen – ein schrecklicher Gestank nach fauligem Fleisch. Er bückt sich und versucht, das Streichholz hinter vorgehaltener Hand anzuzünden. Ein Windstoß, die Flamme flackert, doch Peter hält sie dicht an den Haufen, ein Blatt fängt Feuer, dann ein zweites, dann das Ende eines Zweigs, und bald brennt der ganze Haufen lichterloh. Er schichtet noch mehr Laub, Zweige und größere Aste aufeinander. Tina begreift und hilft ihm. Die Wölfe ziehen sich zurück. Wilde Tiere fürchten sich vor Feuer. Die Flammen züngeln höher, und der Wind treibt den Rauch genau auf ihre sabbernden Rachen zu. Da greift Peter nach seinem Jagdmesser und…

Lächerlich! Solche Tagträume waren schuld daran, daß er seine Haltestelle verpaßte, wenn er nicht achtgab. Der Bus hatte angehalten. Die anderen Schulkinder stiegen...