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Verschwörung - Millennium 4 - Roman

David Lagercrantz

 

Verlag Heyne, 2015

ISBN 9783641153564 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1. Kapitel

Anfang November

Frans Balder hatte sich immer für einen erbärmlichen Vater gehalten.

Obwohl August schon acht Jahre alt war, hatte Frans bisher kaum je versucht, die Vaterrolle zu übernehmen, und auch jetzt fühlte er sich dieser Aufgabe nicht unbedingt gewachsen. Aber er betrachtete sie als seine Pflicht, denn bei seiner Exfrau und ihrem schrecklichen Mann, dem Schauspieler Lasse Westman, musste der Junge leiden.

Deshalb hatte Frans Balder seine Stelle im Silicon Valley gekündigt und war nach Hause geflogen, und jetzt stand er fast schon in Schockstarre vor dem Terminal in Arlanda und wartete auf ein Taxi. Es war ein Teufelswetter: Regen und Sturm peitschten ihm ins Gesicht, und er fragte sich zum hundertsten Mal, ob er das Richtige tat.

War es nicht völlig absurd, dass ausgerechnet ein egozentrischer Idiot wie er ganz urplötzlich Vollzeitvater werden wollte? Im Grunde hätte er genauso gut einen Job im Zoo annehmen können. Er wusste nichts über Kinder, ja nicht einmal über das Leben im Allgemeinen, und was am allermerkwürdigsten war: Niemand hatte ihn darum gebeten. Keine Mutter, keine Großmutter hatte ihn angerufen und angefleht, er möge endlich seinen Teil der Verantwortung übernehmen.

Es war seine eigene Entscheidung gewesen, und jetzt wollte er trotz einer anderslautenden Sorgerechtsverfügung und ohne Vorwarnung bei seiner Exfrau auftauchen und den Jungen abholen. Bestimmt würde das einen Mordszirkus geben. Und sicher würde dieser verdammte Lasse Westman auf ihn losgehen. Aber daran ließ sich nun mal nichts ändern. Er sprang in ein Taxi, dessen Fahrerin manisch Kaugummi kaute und mit ihm Small Talk betreiben wollte. Das wäre ihr nicht einmal an einem seiner besseren Tage gelungen. Für Plaudereien hatte Frans Balder nämlich nicht viel übrig.

Er saß auf der Rückbank und dachte an seinen Sohn und alles, was in letzter Zeit passiert war. August war nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Grund für seine Kündigung bei Solifon gewesen. Sein ganzes Leben befand sich derzeit im Umbruch, und für einen Moment fragte er sich, ob er all das wirklich würde bewältigen können. Auf dem Weg nach Vasastan fühlte er sich plötzlich komplett blutleer, und er unterdrückte den Impuls, spontan einen Rückzieher zu machen. Nein, das durfte er jetzt nicht.

In der Torsgatan angekommen, zahlte er das Taxi, nahm sein Gepäck und stellte es direkt hinter dem Hauseingang ab. Lediglich den leeren Koffer mit der aufgedruckten bunten Weltkarte, den er am San Francisco International Airport gekauft hatte, nahm er mit, als er die Treppe hinaufstieg. Dann stand er atemlos vor ihrer Wohnungstür, schloss die Augen und malte sich Schreckensszenarien mit Wutausbrüchen und Wahnsinn aus. Im Grunde, dachte er, kann man es ihnen nicht einmal verübeln. Niemand taucht einfach unangemeldet auf und reißt ein Kind aus seiner vertrauten Umgebung, schon gar nicht ein Vater, dessen einziges Engagement bislang in regelmäßigen Überweisungen bestanden hat. Aber dies war eine Notsituation, so schätzte er es jedenfalls ein, und deshalb richtete er sich gerade auf und klingelte, so gern er auch auf dem Absatz kehrtgemacht hätte.

Zunächst reagierte niemand. Dann flog plötzlich die Tür auf, und vor ihm stand Lasse Westman mit seinen eindringlichen blauen Augen, seinem bulligen Oberkörper und seinen riesigen Pranken, die wie dafür geschaffen schienen, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, und derentwegen er in Filmen oft den Bösewicht mimen durfte, wenngleich er in keiner seiner Rollen auch nur annähernd so böse war wie im echten Leben. Davon war Frans Balder überzeugt.

»Du lieber Himmel«, rief Lasse Westman. »Wenn das mal keine Überraschung ist. Das Genie höchstpersönlich gibt sich die Ehre.«

»Ich bin hier, um August abzuholen«, sagte Frans Balder.

»Wie bitte?«

»Ich habe vor, ihn mitzunehmen, Lars.«

»Du machst Witze.«

»Ich habe es noch nie so ernst gemeint wie jetzt«, konterte er, und im selben Moment trat seine Exfrau Hanna im Hintergrund aus einem Zimmer. Sie war zwar nicht mehr ganz so schön wie früher – dazu hatte sie zu viel Tragisches erlebt und vermutlich auch zu viel geraucht und getrunken. Dennoch brandeten bei ihrem Anblick unversehens Gefühle in ihm auf, besonders als er ein blaues Mal an ihrem Hals entdeckte und sie ihn offenbar – trotz allem – willkommen heißen wollte. Aber sie kam nicht mal dazu, den Mund aufzumachen.

»Und warum solltest du dich plötzlich um ihn scheren?«, fragte Lasse Westman.

»Weil es jetzt reicht. August braucht Geborgenheit.«

»Und die willst ausgerechnet du ihm geben, Daniel Düsentrieb? Wann hast du denn zuletzt was anderes gemacht, als in einen Computerbildschirm zu glotzen?«

»Ich habe mich verändert«, sagte er und kam sich lächerlich vor, und zwar nicht nur, weil er selbst kein bisschen daran glaubte.

Dann zuckte er zusammen, als Lasse Westman mit seinem massiven Körper und seinem unterdrückten Zorn einen Schritt auf ihn zumachte. In diesem Augenblick wurde ihm auf niederschmetternde Weise klar, dass er nichts würde ausrichten können, wenn dieser Irre auf ihn losginge, und dass die ganze Idee von Anfang bis Ende absurd gewesen war. Merkwürdigerweise kam jedoch kein Wutausbruch und keine Szene, sondern lediglich ein bitteres Lachen, gefolgt von den Worten: »Na, das ist doch wunderbar!«

»Wie meinst du das?«

»Ganz einfach. Dass es längst Zeit wurde, oder, Hanna? Endlich zeigt der Herr Geschäftig mal ein bisschen Verantwortungsgefühl. Bravo, bravo!«, rief Lasse Westman und applaudierte theatralisch, was Frans Balder im Nachhinein am meisten Angst machte – wie leicht sie August freigegeben hatten.

Ohne zu protestieren – oder jedenfalls höchstens der Form halber –, überließen sie ihm den Jungen. Vielleicht hatten sie August ja nur als Last angesehen. Ihre Beweggründe waren schwer nachvollziehbar. Hanna warf Frans ein paar unergründliche Blicke zu, ihre Hände zitterten, und ihr Kiefer war angespannt. Trotzdem stellte sie zu wenige Fragen. Eigentlich hätte sie ihn ins Kreuzverhör nehmen, tausend Forderungen und Ermahnungen an ihn richten und besorgt sein müssen, die regelmäßigen Abläufe des Jungen könnten durcheinandergeraten. Stattdessen fragte sie nur: »Bist du dir sicher? Schaffst du das?«

»Ich bin mir sicher«, antwortete er, woraufhin sie in Augusts Zimmer gingen, und da sah Frans seinen Sohn zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr wieder und war beschämt.

Wie hatte er einen solchen Jungen nur im Stich lassen können? Er war so wunderbar, so schön, mit seinen dichten Locken, seinem zarten Körper und diesen ernsten blauen Augen, die gerade konzentriert auf ein riesiges Puzzle von einem Segelschiff gerichtet waren. Seine ganze Haltung signalisierte ein stummes »Stört mich nicht!«, und Frans trat nur langsam auf ihn zu, als näherte er sich einem fremden, unberechenbaren Wesen.

Schließlich gelang es ihm, die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu ziehen und ihn dazu zu bewegen, seine Hand zu nehmen und ihm auf den Flur hinaus zu folgen. Diesen Moment würde Frans nie vergessen. Was dachte August? Was glaubte er? Er sah weder zu Frans auf noch zu seiner Mutter und ignorierte ihre Abschiedsworte und ihr Winken. Er verschwand ganz einfach mit seinem Vater in den Aufzug. Schwieriger war es nicht.

August war Autist. Vermutlich war er auch in seiner körperlichen Entwicklung gestört, auch wenn dazu bisher keine eindeutige Diagnose vorlag und man genauso gut das Gegenteil hätte vermuten können, wenn man ihn mit ein wenig Abstand betrachtete. Mit seinen feinen, konzentrierten Gesichtszügen strahlte er eine fast majestätische Erhabenheit aus oder vermittelte zumindest den Eindruck, er hätte es nicht nötig, seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Bei näherem Hinsehen war sein Blick jedoch wie von einem Schleier überzogen, und bisher hatte er noch kein einziges Wort gesprochen.

Damit hatte sich keine der Prognosen, die für den damals Zweijährigen gestellt worden waren, als zutreffend erwiesen. Die Ärzte hatten gemutmaßt, dass August vermutlich zu jener Minderheit autistischer Kinder gehörte, deren geistiges Leistungsvermögen nicht eingeschränkt war. Wenn er sich nur einer intensiven Verhaltenstherapie unterzöge, hätte er trotz allem recht gute Entwicklungschancen. Doch nichts war so gekommen wie erhofft, und wenn er ehrlich mit sich war, hatte Frans Balder keine Ahnung, was aus all den unterstützenden Maßnahmen geworden war – von der Schulbildung des Jungen ganz zu schweigen. Frans hatte in seiner eigenen Welt gelebt, war schließlich in die USA gegangen und dort mit allem und jedem in Konflikt geraten.

Er hatte sich wie ein Idiot verhalten. Aber jetzt würde er es wiedergutmachen und sich um seinen Sohn bemühen, und dafür legte er sich anfangs auch mächtig ins Zeug. Er bat um Einsicht in Augusts Krankenakten und rief Spezialisten und Pädagogen an. Schnell war ihm klar, dass sein Geld nicht August zugutegekommen, sondern anderweitig versickert war, vermutlich in Lasse Westmans ausschweifendem Leben und seinen Spielschulden. Offenbar hatte man den Jungen weitgehend sich selbst und seinen Zwängen überlassen, und vermutlich hatte er noch Schlimmeres über sich ergehen lassen müssen – denn auch aus diesem Grund war Frans nach Hause zurückgekehrt.

Eine Psychologin hatte ihn angerufen und besorgniserregende blaue Flecken am Körper des Jungen erwähnt, die Frans inzwischen mit eigenen Augen gesehen hatte....