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Schatten über Innsmouth - Neue Erzählungen

Neil Gaiman, H. P. Lovecraft, Michael Marshall Smith, Peter Tremayne, Stephen Jones

 

Verlag Festa Verlag, 2015

ISBN 9783865523235 , 593 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

Das Geheimnis von Innsmouth:
Basil Copper


I

»Nur herein, Gentlemen, nur herein. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Wie Sie sehen, herrscht hier ein gewisses Durcheinander, und ich hoffe, dass Sie mir die Unordnung verzeihen. Kann ich den Herren einen Kaffee anbieten? Es ist doch recht kalt heute. Nicht? Nun, wie Sie meinen. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich trotzdem wieder setze und selbst weitertrinke. Ehrlich gesagt bin ich ziemlich kaffeesüchtig.

Vielleicht ein paar Kekse? Nun ja, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Sie sind sicher wegen der Unruhen gekommen, nicht wahr? Es ist eine lange Geschichte und ich muss mich erst einmal sammeln. Aber ich bin gleich so weit, Gentlemen, ich bin gleich so weit. Natürlich fing alles mit dem Großen Sturm an. Er brachte vieles in Unordnung, wirkte sich sehr auf das Leben aus, wie Sie ja wissen. Kostete auch eine Menge Leben. Wer hätte denn auch gedacht, dass sich im Laufe von so wenigen Wochen solch eine Verheerung ereignen könnte, so viele Hoffnungen und Träume ruiniert würden?

Ah ja, wie ich sehe, befindet sich auch der Inspektor Oates unter Ihnen. Die ganze weite Reise von der Kreisstadt bis hierher. Nun ja, das beweist nur, wie wichtig das ist, was ich zu berichten habe. Genau genommen habe ich schon etliche Stunden auf Sie gewartet. Aber es mussten ja auch so viele Fakten in Zusammenhang gebracht, viele Sackgassen und Spuren ausgelotet werden, wenn ich so sagen darf. Die Tatsachen an sich sind schon so eigentümlich und bizarr: Ich kann sie selbst kaum glauben.

Und die Tunnel, meine Herren! Haben Sie schon das Ausmaß ihrer Möglichkeiten erkundet? Wissen Sie, dort müssen Sie sehr achtsam vorgehen. Sie sind außerordentlich gefahrvoll. Und wer weiß, welche Abgründe sich hinter diesen gewaltigen Höhlungen verbergen. Jaja, da nicken Sie. Sogar Mr. Oates wirkt etwas bleich um die Nase. Und das ist auch gut so, Sir. Das ist auch gut so. Der schwarze Abgrund und das Unnennbare.

Nein, meine Herren, ich bin nicht verrückt, obwohl ich während der letzten Wochen Dinge gesehen und gehört habe, die den stärksten Verstand ins Wanken bringen würden. Einen Wissenden und einen Gelehrten … auch einen anerkannten Wissenschaftler.

Wo fange ich an? Das ist das Problem. Das staatliche Irrenhaus ist sicher voll von Menschen, die geistig gesünder wirken als ich, sobald ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe. Wie ich sehe, Sir, haben Sie Ihren Sekretär und einen Stenografen dabei. Nun, wir werden auf beide zurückkommen müssen.

Ach, Sie schreiben schon mit? Auch recht. Ich habe nichts zu verbergen und nichts zu fürchten, jedenfalls nicht in dieser Welt. Was die andere angeht, das ist wohl eine andere Sache … Meine einleitenden Bemerkungen werden sicherlich dazu beitragen, dass mich die Leute für ebenso bei Verstand halten, wie sie es selbst sind. Vielleicht sogar geistig noch gesünder. Ich wünschte bei Gott, dass die Dinge, die ich gesehen habe, mich in geistige Verwirrung gestürzt hätten. Vielleicht ist es besser, in einem anhaltenden Traum zu leben, als im Wachen einen Albtraum durchleben zu müssen. Das Vergessen, das dem Irrsinn entspringt, löscht Bilder aus, die man gern loslässt.

Haben Sie bitte etwas Geduld, Sir. Die Geschichte, die ich Ihnen erzähle, wird einige Zeit in Anspruch nehmen, das versichere ich Ihnen. Diese wunderbare Maschine, die wir das Gehirn nennen, ist die Tragödie des Menschen; das Gedächtnis ist ein Fluch, der das Leben zur Last werden lässt. Und welch ein Unglück ist es doch, dass das Gedächtnis uns vergebliche Hoffnungen und Reue bis zur bittersten Neige auskosten lässt.

Wie sagte Shakespeare noch gleich? Solch langes Leben wird zur Tragödie … oder etwas in der Art? Nun, meine Herren, aus diesem Schierlingsbecher habe ich bis zum letzten Tropfen getrunken.

Das Leben gibt mir nichts mehr. Ja, unbedingt, machen Sie bitte weiter mit Ihren Kurzschriftnotizen.

Ich versichere Ihnen, ich komme gleich zur Sache. Also, dies ist die beeidete Aussage von Jefferson Holroyd, Gelehrter und Wissenschaftler, Alter 45 Jahre und gesund an Geist und Körper. Es fing alles damit an, dass …«

II

Der große Sturm im Januar 1932, der die Kleinstadt Innsmouth so grausam heimsuchte, schlug vollkommen unerwartet zu; allerdings hatten sich zuvor einige seltsame Dinge ereignet, die denjenigen, die verstanden, die Zeichen zu deuten, als Vorwarnung hätten dienen können, hätten sie nur die rechte Kenntnis von ihnen genommen.

Doch mussten dafür viele verschiedenartige Fakten in Betracht gezogen werden; die zusammenhanglosen Bruchstücke, die damals völlig unerklärlich waren, konnten nicht als Teil eines zusammenhängenden Ganzen erkannt werden und nur im Rückblick haben Meteorologen, Naturwissenschaftler und Experten auf anderen Gebieten, die sich dort zusammenfanden, ein grobes Bild der ganzen Wahrheit zusammensetzen können.

Schon viel früher hatte es Warnzeichen gegeben. In Zeitungsberichten aus dem Herbst des Jahres 1930 wird eine gewaltige Springflut beschrieben, die den Manuxet hinauffegte und von einem seltsamen Phänomen begleitet wurde, das die Ortsansässigen als ›weiße Blitze‹ bezeichneten.

Mehrere abgelegene Gehöfte am Rand der Salzsümpfe wurden überschwemmt, wobei einige Menschen ertranken, und die Kleinstadt Rowley war sogar eine Zeit lang abgeschnitten; allerdings meldete man von dort keine Schäden.

Selbst das weiter landeinwärts gelegene Arkham wurde von etwas heimgesucht, das in den Berichten als ›ein Miniatur-Wirbelsturm‹ beschrieben wurde; dieser riss Dachziegel von mehreren Geschäftsgebäuden und deckte bei älteren Häusern ganze Dächer ab.

Wissenschaftler schrieben die Unruhen seismischen Störungen oder einer Art Unterwasserbeben von weit hinter dem Innsmouth-Riff zu, das für die Springflut verantwortlich sei, während Meteorologen den Wirbelwindschaden, die Sturmböen und die seltsamen Blitze auf den Zusammenprall kalter und warmer Luftmassen zurückführten.

Als dann ein paar Wochen lang Ruhe herrschte, geriet die ganze Sache, wie allgemein üblich, rasch und weitgehend in Vergessenheit, von jenen Menschen einmal abgesehen, die wirkliche Schäden oder Verluste erlitten hatten.

Massachusetts ist eine eigenartige und uralte Gegend, isolierte Anwesen und vereinzelte Gemeinden verteilen sich in den knotig wirkenden Hügeln, an den Rändern der Sümpfe und inmitten von Waldstrecken, die so alt sind, dass nur Archäologen oder Leute mit besonderen Kenntnissen ihr Alter auch nur zu schätzen vermögen. Es ist ein Staat, in dessen entlegeneren Gebieten die Zeit selbst in unseren modernen Tagen scheinbar vergessen ist. Im Jahr 1930 waren diese Eigenschaften sogar noch stärker ausgeprägt und in der großen Bibliothek der Miskatonic-Universität berichteten alte Bücher von derart sonderbaren Dingen, dass der Bibliotheksleiter Jethro Staveley diese seltenen und esoterischen Werke in einem eigenen und verschlossenen Trakt verwahrte, der von den öffentlichen Lesesälen weit entfernt lag und nur akkreditierten Gelehrten oder solchen Forschern und Akademikern zugänglich war, die dafür die Erlaubnis besaßen.

Diese Maßnahmen wurden angeblich aufgrund der Seltenheit und des Wertes dieser arkanen Bände getroffen, doch behaupteten auch einige, dass das verbotene Wissen auf jenen stockfleckigen Seiten der wahre Grund dafür war, dass Staveley sie so streng unter Verschluss hielt. Und aufmerksamere Beobachter führten die Unruhen von 1930, die in den schrecklichen Ereignissen des Jahres 1932 gipfelten, auf viel frühere Zwischenfälle zurück, wie zum Beispiel auf den Einbruch in die Universitätsbibliothek, der sich schon im Frühjahr 1929 ereignet hatte, als eine abgelegene Seitentür aufgebrochen, der verschlossene Trakt betreten und ein angeketteter und besonders eigenartiger Band gestohlen worden war; die dicken Stahlglieder der Kette, die das Buch an das Eichenbord gefesselt hatte, waren wie Butter durchgeschmolzen worden.

Die Universitätsleitung führte diese Erscheinung auf die Anwendung irgendeines Schweißgerätes zurück; ihre Annahme wurde durch Brandspuren an den umliegenden Regalen und Hitzesprüngen der Glasscheiben nahe dem fraglichen Bord nur bestätigt.

Als jedoch Staveley davon erfuhr, wurde er totenbleich, und danach erfuhr sein Verhalten eine deutliche Veränderung. Glücklicherweise hatte er mehrere Typoskript-Abschriften des fehlenden Bandes zur Verfügung – diese wurden routinemäßig von allen seltenen Dokumenten im Sperrtrakt angefertigt und in einer Panzerkammer neben seinem Büro verwahrt.

Als er diese nachgeschlagen hatte, war seine Verstörung nur noch offensichtlicher, und die Veränderung in seinem vormalig offenen und freundlichen, ja sogar herzlichen Verhalten setzte laut seinen engsten Freunden ab diesem Zeitpunkt ein. Den größten Teil des folgenden Tages verbrachte er in einer vertraulichen Besprechung mit dem Dekan und jener ehrenwerte Dr. Darrow zeigte sich gleichermaßen verstört.

Über den Einbruch ging kein Wort an die Presse und innerhalb der Universität wurde der Zwischenfall als Bagatelle abgetan. Doch als Freunde sich nach dem Titel des verschwundenen Bandes und seinem Inhalt erkundigten, reagierten beide Männer mit verschlossenem Schweigen, und Anfragen, die Bände im Büro des Bibliothekars einsehen zu dürfen, wurden höflich abgelehnt.

Der Zwischenfall, der kurzzeitig das normalerweise friedliche Leben an dieser großen Universität gestört hatte, geriet schließlich in Vergessenheit, bis andere noch dramatischere Ereignisse sich dem öffentlichen Bewusstsein bemerkbar machten. Vielleicht ist der Ausdruck ›dramatisch‹ nicht richtig...